Stefan Pollatschek
Exil: 1938 ČSR, 1939 GB.
Vater: Moritz P. (1850 Kolin ─ 1908 Wien), Journalist (NFP). Mutter: Julia Levit (1852 Prag ─ 1923 Wien). Schwestern: Fanny, verh. Kummermann (1885 Wien ─ Auschwitz ?, ermordet); Helene (1893 Wien ─ 1968 NY), verh. mit Felix Mayer, Sohn des Schriftstellers Siegfried Mayer. Bruder: Erwin (1888 Wien ─ 1960 London). - St.P. besuchte die Volksschule in Wien-Mariahilf und das Schottengymnasium. Berufsangabe : Redakteur. 13. Jänner 1915 Meldung als Einjährig-Freiwilliger zur österr.-ungarischen Armee; als mindertauglich klassifiziert; Besuch der Offiziersaspirantenschule in Graz; dem Ersatzdepot der Traindivision Nr. 3 zugeteilt. 20.12. 1917 Fähnrich i.d. Reserve. 15. November 1915 Heirat mit Ilka Lion (1893 Reichenberg/Böhmen ─ London 1950), Bridgelehrerin. Tochter: → G. Hoffer. Arbeit als Journalist, zehn Jahre Kaufmann, Schriftsteller. 1933 Mitglied der VsS. Freunde, Kontakte: → F. Kobler, → V. Matejka, → E. Waldinger, → E. Canetti, Inge Halberstam, → F. Bruegel, → Th. Kramer, → R. Brunngraber, → B. Viertel, aber auch Bruno Brehm. Befreundet auch mit B. Viertels Schwester Helene Bruckner und deren Mann Willy. - 1930 erschien St.P.s Roman "Gericht" in Fortsetzungen in der AZ. Veröffentlichungen auch in NTB, DNWB und "Die Glocke" (Wien). Nur auf Polnisch erschien 1938 der Roman "Ehefinale" ("Final Małzénstwa", Warschau: Nowa Powiesc).
Ab März 1938 Bemühungen um ein Ausreisevisum. Juni 1938 Flucht nach Prag, wo St.P. und seine Familie eine Wohnung beziehen konnten, für die der Bruder Erwin P. einen Fünfjahresvertrag abgeschlossen hatte. Im Jänner 1939 mit Hilfe des Thomas Mann-Committee nach GB; durch Vermittlung der AG zunächst Wohnung in London in der Villa eines abwesenden Diplomaten, dann Februar-April in Manchester in Untermiete bei einem jüdischen Ehepaar Weißmann (der Mann von Beruf Marktfahrer), das eine Bibliothek hebräischer Bücher besaß. In Manchester studierte St.P. nichts als jüdische Philosophie. Dann, von April 1939 - Juni 1940, wohnte die Familie zs. mit dem Journalisten Hanns Margulies (1889 Böhmen - 1960 London; 1932-38 Gerichtssaalberichterstatter des "Wiener Tag", Initiator der Kleinkunstbühne "ABC im Regenbogen"; Exil: 1938 GB) und dessen Frau in einem Sommerhaus am Meer in Bolton on Sea (Norfolk); die Tochter erinnert sich des ewigen Bridgespiels der beiden Ehepaare. Sommer 1939 schwerer Herzanfall. Durchs Bridgespiel schlossen die P. Bekanntschaft mit dem lokal wichtigsten Großgrundbesitzer. Eingeladen zum Abendessen; Tennis mit Aristokraten, die nie von Sigmund Freud gehört hatten. St.P. wurde "Traumdeuter der Aristokratie von Norfolk" (G. Hoffer). Vom "ganzen Dorf" bekamen die Pollatscheks "Möbel geborgt", als sie ein Fischerhäuschen ohne Wasser und sanitäre Anlagen bezogen. In Norfolk begann St.P. an "Dr. Ascher und seine Söhne" zu schreiben. St.P. und H. Margulies veranstalteten ein 'Wiener Kabarett' für die lokale "Dramatic Society" (Thema: Besuch der Königin von Holland in Bolton on Sea).
Im Juni 1940 wurden H. Margulies und St.P. in Norwich Castle und dann auf der Isle of Man interniert. Im Internierungslager hielt St.P. Vorträge in der informellen 'Volkshochschule' des Lagers. St.P. erlebte seinen 50. Geburtstag im Internierungslager. Der Fall von Paris fiel mit seinem 50. Geburtstag zs. Ein junger englischer Offizier gratulierte ihm: "Ich gratuliere Ihnen zu diesem Sieg." (Es kam zu einer Auseinandersetzung). Oktober 1940 Entlassung aus der Internierung. Seine Frau und die Tochter Gerda hatten die Küstenzone verlassen müssen und waren nach nach Baldock (Hertfordshire; zwischen Cambridge und London) übersiedelt. Im selben Hostel wie die Pollatscheks wohnte auch → L. Winder. Die Familie erhielt 30 Shilling die Woche vom Czech Trust Fund. Mitglied des Austrian P.E.N. und im September 1941 Teilnehmer am P.E.N.-Kongreß in London. Korrespondenz mit → H. Broch.
In seiner letzten Zeit freundete sich St.P. mit einem jungen Mann aus der Slowakei an, der nur Jiddisch in hebräischen Buchstaben schreiben konnte, aber sieben Sprachen beherrschte und St.P. viel über das jüdische Leben in der Slowakei erzählte. St.P. mußte zur Herzbehandlung nach London, schrieb Tag und Nacht an seinem Buch, einer erfundenen Familiengeschichte, die zugleich den Wurzeln des Antisemitismus nachgehen sollte. Wurde gemäß seinem Wunsch auf dem jüdischen Friedhof begraben. Starb staatenlos. - Posthume Publikationen von Teilen des Romans "Dr. Ascher und seine Väter" in: Die Zeitung (London). Die posthume Publikation von "Dozent Müller" (ursprünglich auch "Die Pest") kam durch Vermittlung des damaligen Wiener Kulturstadtrates V. Matejka zustande. In Vorbereitung befindet sich eine Publikation von "Dr. Ascher und seine Väter". - NL: G. Hoffer (Jerusalem); Manuskript "Dr. Ascher und seine Väter" mit zugehörigen Materialien im LBI, NY.
Werke
Dr. Berghof ordiniert von 2 bis 4 Uhr. (Roman.) Wien: Saturn 1931. 263S. ("Meinem Freunde Dr. Otto Janowitz gewidmet". - Ein polnische Dramatisierung wurde im Getto Warschau aufgeführt).
Schicksal Maschine. (Roman.) Wien: Saturn 1932. 230S. (Auch: Wien, Zürich, Prag: Büchergilde Gutenberg 1932).
Der Maler Rudolf Rapaport. Das Überwirkliche im Porträt. (Essay.) Wien: Wiener Buch- und Kunstverlag 1933. 64 S.
John Law. Roman der Banknote. Wien: Saturn 1936. 291 S. (Neuauflage: Zürich, Prag: Büchergilde Gutenberg 1937. 273 S. - Engl.: The Strange Story of John Law. Übers.: Gerald Griffin. London: Hutchinson 1936. 288 S. - Sollte in Ö. mit Rudolf Forster in der Hauptrolle verfilmt werden, was durch den "Anschluß" zunichte gemacht wurde.)
Flammen und Farben. Das Leben des Malers van Gogh. (Roman.) Wien: Saturn 1937. 320 S. (Niederländisch: Übers. H.J. Smeding. Amsterdam: Wereldbibliotheek 1938.)
Dozent Müller. Die Tragödie eines Wiener Arztes. (Roman.) Wien: Wiener Verlag 1948. 254 S. (Polnisch: Dzuma. Warschau: Nowa Powiesc 1938).
Doktor Ascher und seine Väter. Historischer Roman. Hg. und bearbeitet von Konstantin Kaiser und Ulrike Oedl. Nachwort von G. Hoffer. Wien: Mandelbaum 2004. 487 S. (Antifaschistische Literatur und Exilliteratur - Studien und Texte. 20).
Sekundärliteratur
Handbuch der deutschsprachigen Emigration II, 917 - Mitteilungen G. Hoffer - Kriegsarchiv, Wien.
E.W. (d.i. → E. Waldinger): (Vorbemerkung zu einem unter dem Titel "Die Pest in Wien" abgedruckten Auszug aus "Dozent Müller"). In: AAT, December 1944.
G. Hoffer: Zum hundertsten Geburtstag von St.P. 1890 ─ 1942. In: MdZ 7 (1990) 2, 1f.
Dies.: St.P. ─ die Emigrationsjahre eines österr. Schriftstellers. Vortrag, gehalten am 3.10. 1990 im DÖW.
Herbert Exenberger: St.P. In: Die Gemeinde (Wien), 7.9. 1990, 51.
J.M. Ritchie: 'Who wants to be a millionaire?' John Law, the first millionaire, an St.P.'s Roman einer Banknote. In: William J. Jones u.a. (Hg.): 'Vir ingenio mirandus'. Studies presented to John L. Flood. Volume I. Göppingen: Kümmerle 2003, 467-476. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik Nr. 710/1).
Aus: Siglinde Bolbecher/Konstantin Kaiser: Lexikon der Österreichischen Exilliteratur. Wien: Deuticke Verlag 1999, 520-522