Grundlagen der österreichischen Exilliteratur
Begleitende Studien zu einem „Handbuch der Österreichischen Exilliteratur in zwei Bänden“
Ein Projekt des Vereins zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur und der Theodor Kramer Gesellschaft
Betreut durch Dr. Alexander Emanuely
Das Projekt „Handbuch der Österreichischen Exilliteratur“ wurde im Jahr 2007 von Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser, Evelyn Adunka, Ulrike Oedl und mit Unterstützung des Zukunftsfonds der Republik Österreich, des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, der Theodor Kramer Gesellschaft und dem Verein zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur gestartet.
Im Zuge des Projekts „Handbuch der Österreichischen Exilliteratur“ und im Kontakt mit den zur Mitarbeit gewonnenen internationalen WissenschaftlerInnen seit 2010 kristallisierte sich als ein Desiderat die Notwendigkeit ergänzender Studien und Recherchen zu den Grundlagen der Österreichischen Exilliteratur heraus. Sie sprengen allerdings den Rahmen des bisherigen Projektes. Gerade im Hinblick auf eine dem Charakter eines Handbuches entsprechende umfassende Darstellung, haben sich im Zuge und als Resultat der bisherigen Arbeit eine Reihe neuer, nicht verzichtbarer Themenbereiche und Aspekte ergeben, die, da sie bisher kaum oder zu wenig beachtet, zum Teil umfangreiche Studien erfordern.
Es liegen nun mehrere Dutzend Arbeiten und Studien vor, die von Konstantin Kaiser, Evelyn Adunka, Ulrike Oedl, Alexander Emanuely editorisch aufgearbeitet und auf der Webseite des Vereins publiziert werden sollen. Diese Arbeiten stellen in ihrem Umfang eine einzigartige Möglichkeit dar, eine Theorie und Geschichte österreichischer Exilliteratur zu etablieren.
Inhalt
Zielsetzung des Projekts
Gliederung des Handbuchs
Weiterführende Studien
Die österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts ist ohne den Beitrag derer, die in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich verboten, verfolgt, ins Exil getrieben, deportiert, in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden, nicht vorstellbar. Rose Ausländer, Hermann Broch, Elias Canetti, Joseph Roth, Hilde Spiel, Franz Werfel, Stefan Zweig — es wird sich kaum ein international oder auch nur überregional bekannter Name eines zeitgenössischen österreichischen Autors finden, der in der NS-Zeit nicht in irgendeiner Form verfolgt worden wäre. Keines der von den Truppen Hitlerdeutschlands überrannten oder von faschistischen Diktaturen eigener Provenienz beherrschten Länder weist einen so hohen Anteil Exilierter und Verfolgter in der Literatur auf wie Österreich, auch Deutschland selbst nicht.
Bekanntlich standen die österreichischen Bemühungen, den Exilierten eine Rückkehr zu ermöglichen, die Verbreitung ihrer Werke zu fördern und die Exilliteratur wissenschaftlich zu erfassen und zu ergründen, lange Zeit in einem umgekehrten Verhältnis zur literarischen Bedeutung des Exils. Wie Konstantin Kaiser in seinem Aufsatz "Phasen der Rezeption und Nicht-Rezeption des Exils in Österreich - skizziert am Skandal der Exilliteratur" (in: E. Adunka, P.Roessler: Die Rezeption des Exils. Geschichte und Perspektiven der österreichischen Exilforschung. Wien 2003) nachweist, wurde die Exilliteratur in Österreich, wenn überhaupt, nur unter ihr oft fremden und einengenden Gesichtspunkten rezipiert. Die universitäre Literaturwissenschaft reagierte nur verzögert und auf Anstoß durch Aktivitäten außeruniversitärer Einrichtungen und Personen auf die Anforderung einer Erforschung der Exilliteratur.
Eine Wendung trat erst allmählich in den späten 1980er Jahren ein. 1984 wurde die sich ab 1987 explizit der Erforschung und Verbreitung der Exilliteratur widmende "Theodor Kramer Gesellschaft" (Wien) gegründet (mit ihrer Zeitschrift "Mit der Ziehharmonika" bzw. "Zwischenwelt" und ihrem ab 1990 erscheinenden Jahrbuch). 1987 begann der "Verein zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur" mit der Herausgabe der Buchreihe "Antifaschistische Literatur und Exilliteratur - Studien und Texte" (bisher insgesamt 20 Bände). 1993 wurde in Wien die Österreichische Exilbibliothek im Literaturhaus gegründet. 2000 erschien erstmals ein "Lexikon der österreichischen Exilliteratur" (erarbeitet von Siglinde Bolbecher und Konstantin Kaiser in Zusammenarbeit mit Evelyn Adunka, Nina Jakl und Ulrike Oedl), das 700 biobibliographische Einträge aufweist.
Verbessert hat sich auch ganz erheblich die Situation bei der Sicherung und Aufarbeitung literarischer Nachlässe des Exils. Während bis in die 1990er Jahre zahlreiche Nachlässe überhaupt verloren gingen oder zersplittert wurden, werden Nach- und Vorlässe Exilierter jetzt verstärkt von der Österreichischen Exilbibliothek, dem Österreichischen Literaturarchiv in der ÖNB, der Theodor Kramer Gesellschaft, dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, dem Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und der Wiener Stadt- und Landesbibliothek gesammelt.
Auf dem Gebiet der Erforschung des Exils und der Exilliteratur und -kultur fehlen aber nach wie vor Überblick und Zusammenhang, obwohl sich die 2002 gegründete "Österreichische Gesellschaft für Exilforschung" darum bemüht.
In den letzten Jahren sind eine Reihe neuer monographischer Studien (vor allem im Rahmen von Diplom- und Doktorarbeiten und von Editionen) entstanden; die in großer Verstreuung (in Fachzeitschriften, Universitätsbibliotheken, im Internet) verfügbaren Kenntnisse haben zugenommen, es fehlt allerdings jeglicher Überblick, der es erst möglich macht, die dennoch beträchtlichen unerledigten Forschungs- und Editionsaufgaben überhaupt wahrzunehmen.
Auch die Forschungen im Ausland haben zugenommen, so in Großbritannien, Italien, Frankreich und der Tschechischen Republik.
Es ist daher sowohl die Voraussetzung als die Notwendigkeit vorhanden, einen Gesamtüberblick durch die Erstellung eines Handbuchs der österreichischen Exilliteratur zu schaffen. Das Handbuch soll eine Zusammenschau der historischen Umstände, der österreichischen organisatorischen und kulturellen Initiativen des Exils, der Exilliteratur und ihrer Wirkung in den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik ermöglichen. Es umfaßt daher neben einer nach Ländern gegliederten Chronik des Exils (die für die Schicksale und Wege der Flüchtlinge relevante Ereignisse aufzeigt, eine Chronik, die bisher nirgendwo existiert) eine Einführung in die Grundprobleme der Exilliteratur sowie ein Sachlexikon der kulturellen Einrichtungen des Exils (Zeitschriften, Theater, Verlage, Komitees etc.). Den quantitativ umfangreichsten Teil bildet das Personenlexikon mit ca. 800 biobibliographischen Einträgen.
Mit einem solchen Handbuch soll einerseits gegen die neuerliche Marginalisierung des Exils und mit ihm der Exilliteratur, andererseits gegen das Vergessen und eine zunehmende Zusammenhanglosigkeit bereits gewonnener Kenntnisse gewirkt werden.
Ohne Kenntnis der Geschichte und Tätigkeit der Exilorganisationen und anderer kultureller Stätten und Vereinigungen des Exils lassen sich viele Zusammenhänge, ob im Leben der Einzelnen, ob im Verhalten ganzer Gruppen, kaum verstehen. Ohne diese mit Erfindungsgeist, großem Idealismus und unendlicher Mühe aufgebauten Organisationen hätten viele aus Österreich Vertriebene nicht in den Asylländern Fuß fassen und neue Anregungen zu künstlerischer Produktivität erfahren können. In vielen Fällen bewahrten sie Exilierte vor dem Schlimmsten, retteten sogar Leben. Unschätzbar wertvoll ist selbstverständlich auch ihr Eintreten für die Rechte der Flüchtlinge und für das Ziel der Wiederherstellung eines demokratischen Österreich. Auch die exilierten Autorinnen und Autoren haben sich zu einem Zeitpunkt, als dies keineswegs selbstverständlich oder besonders erwünscht war, für ein Verständnis der Probleme, Kultur und Geschichte Österreichs eingesetzt und bieten in ihren Werken dazu ein reiches Anschauungsmaterial.
Wichtig erscheint aus heutiger Sicht auch die Einbeziehung jener Verfolgten, Widerstandskämpfer und Vertriebenen, die in autobiographischen Schriften Zeugnis von dem ihnen Widerfahrenen und ihrem eigenen Handeln ablegen. Diese Literatur ist nicht nur zu einem wesentlichen Teil der Exilliteratur geworden, hat durch die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Verfolgung eine literarhistorisch bisher ungekannte und in diesem Ausmaß unbekannte Ausprägung erhalten. Die Autobiographien werden auch zudem zur Quelle, aus der künftige Generationen eine lebendige Anschauung des Geschehens schöpfen werden. Eine Erfassung der wichtigsten AutorInnen und Texte auf diesem Gebiet erscheint daher dringend geboten.
Methodisch wird in dem Handbuch von einer inneren Verbundenheit von Verfolgung, Exil und Widerstand ausgegangen, eine Verbundenheit, die sich literarisch in der ersten kurzen Nachkriegsperiode (bis 1948) in Zeitschriften wie "Plan" manifestierte. Im literarischen Bereich überwiegen die im Exil entstandenen bzw. publizierten Werke die im Widerstand und in der "Inneren Emigration" entstandenen bei weitem. Die Literatur des Exils hat im Unterschied zur "Literatur im Reich" und zu jener sogenannten Gegenwartsliteratur, die sich seit den 1950er Jahren in Österreich etablierte, ein großes Sensorium für die Shoah, für die Leiden und Taten der in die deutschen Konzentrationslager Deportierten entwickelt.
Zu beachten ist auch, daß das literarische Österreich in der Zeit vor 1938 nur zum Teil aus Personen besteht, die in den Grenzen von 1918 geboren worden sind. Prag, Brünn, Czernowitz, Lemberg erscheinen ebenso als Zentren österreichischer Literatur und Kultur wie Graz oder Salzburg. Außerdem ist österreichische Exilliteratur nicht unbedingt allein deutschsprachige Literatur. In ihr sind auch AutorInnen vertreten, die Jiddisch oder aber in der Sprache ihrer Asylländer schreiben.
Ein Handbuch der österreichischen Exilliteratur hat für die Forschung international große Bedeutung. Über den österreichischen Kontext erschließen sich einerseits kulturelle, literaturpolitische und biographische Zusammenhänge, die in der Subsumption österreichischer Exilliteratur unter die deutschsprachige Literatur insgesamt notwendig verborgen oder ausgeblendet bleiben müssen. Andererseits geraten nur so eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren, von literarischen Werken ins Blickfeld, die bei allzu großräumiger Betrachtung übergangen werden.
Ein Handbuch der österreichischen Exilliteratur kann nicht wieder gut machen, was den verfolgten Autorinnen und Autoren persönlich und literarisch angetan worden ist. Aber eine Genugtuung stellt es für sie dar und eine Wehr gegen ein allzu landläufiges Vergessen.
1. Teil
Allgemeine Einführung
Überblick über das österreichische Exil 1930-1950.
Einführende Grundsatzartikel
- Antifaschistisches Engagement und Exilliteratur
- Österreich-Frage in der Exilliteratur
Karl Müller: Heimat und Heimatverlust. Zur Erfahrung des Exils seit 1933
- Jüdische Identität, Zionismus und Religion in der Exilliteratur
- Frauen und Exil
- Sprachliche Probleme und Errungenschaften der Exilliteratur
- Gattungsproblematik der Exilliteratur
- Autobiographik des Exils, des Widerstands und der Verfolgung als Ort der literarischen Reflexion historisch neuer Erfahrungen
- Rückkehr und Nicht-Rückkehr aus dem Exil, Rolle der Zurückgekehrten
- Fortbestehen des Exils und die Literatur
- Rezeption der Exilliteratur in den Gastländern und in Österreich
- Weiterwirken von Grundmotiven der Exilliteratur im Schreiben der Zweiten und Dritten Generation
2.Teil
Biobibliographisches Lexikon
Es sind ca. 200 Biobibibliographien vorgesehen.
Anhang
- Chroniken
*Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser: Chronik des Exils. Großbritannien;
*Chronik Schweiz;
*Kleine Chronik: Einige kulturelle Ereignisse des Exils in Mexiko;
*Kleine Chronik österreichischer Exilaktivitäten in Palästina/Israel;
*Exil in Italien - kleine Zeittafel;
*Siglinde Bolbecher: Ungarn - kleine Chronik;
*Alexander Emanuely: Argentinien Chronik. 1930 bis 1946;
*Daniel Müller: Brasilien-Chronik 1930-1985;
*Jan Kreisky: Die Tschechoslowakei. Verfolgung, Exil, Widerstand - eine Chronik;
*Alexander Emanuely: Frankreich Chronik: 1933 bis 1946;
*Alexander Emanuely: Eine kurze Chronik zur Freimaurerei;
*Alexander Emanuely: Tränen und Marmor. Chronik: 200 Jahre Griechenland zwischen Unterdrückung und Befreiung
- Verzeichnis der Sekundärliteratur
- Anthologien des Exils
- Statistische Auswertungen: Geschlecht, Altersgruppen, Exilländer, Berufe, Verfolgungsschicksale
- Abkürzungsverzeichnis
- Personenregister und Verzeichnis der Pseudonyme und sonstigen Namen
- Vorgeschichte des Exils: Hier ist nicht nur eine Literatur vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten gemeint, sondern sie berücksichtigt deren kulturelle und territoriale Voraussetzungen. (d.h. sie ist aus mehreren Literaturlandschaften gespeist, wie z.B. der Literatur der Bukowina oder der Pragerdeutschen Literatur).
Peter Rychlo: Czernowitz und Bukowina ;
Thomas Soxberger: Jiddische Literatur aus Österreich im zeitgeschichtlichen Kontext
- Jüdisches Erbe: Der Anteil Jüdischer Autoren und Autorinnen an österreichischer Exilliteratur.
- Genderspezifische Aspekte der Exilliteratur: Dabei ist es notwendig, von einer genauen Kenntnis der Geschichte ausgehend, auf frauenspezifische Sichtweisen einzugehen.
- Etablierung neuer Gattungen: Die Entwicklung der Autobiographie von einem zeitgeschichtlichen Dokument zu einem eigenen Genre der Exilliteratur und der Literatur der Überlebenden.
- Sprachliche Probleme und innovative Errungenschaften der Exilliteratur. Dabei geht es auch um den oft durch existentielle Lebensprobleme bedingten Wechsel von Gattungen.
- Spezielle Ereignisse, die sich in der Exilliteratur widerspiegeln und in ihr reflektiert werden. (Kriege, Verfolgungen, Vertreibungen, Befreiung).
- Nation und Literatur: Dabei geht es nicht um die Frage des Österreichpatriotismus, auch nicht darum, wie sehr jemand Patriot, Monarchist oder eben das alles nicht ist, sondern wie weit Realität und Vorstellung eines nationalen Formationsprozesses ihre Entsprechung in der Literatur finden können.
- Die Zeitgeschichte in den Familiengeschichten: Z.B. Susanne Scholl, Claudia Erdheim, Anna Mitgutsch. In den letzten Jahren kam es zu einer sukzessiven Veränderung, historische Romane werden nicht länger als reaktionäres Genre rezipiert, die vielzitierte „Krise des Erzählens“ scheint zum Teil überwunden.
- Wie soll eine Kulturgeschichte des österreichischen Exils aussehen? Wie kann man sie etablieren? Sie hat weder Episodencharakter, noch bedarf sie einer Unterordnung.