Theodor Kramer Gesellschaft

Menü

Siglinde Bolbecher
Ungarn - kleine Chronik

Erschienen in "Exil in Ungarn". In: Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und Widerstands. 23. Jg. Nr.2/3 März 2007, 72-73

1867: "Österreichisch-ungarischer Ausgleich" -  verfassungsrechtliche Vereinbarun­gen, durch die die k.u.k. Doppelmonarchie entsteht: Wiederherstellung der ungari­schen Verfassung von 1848 sowie des ungarischen Reichstages. Neben der Person des Monarchen, der zugleich König von Ungarn und Kaiser von Österreich ist, werden drei gemeinsame Ministerien geschaffen (Außen-, Kriegs- und Reichs­finanzministerium), denen zwei gleich große Delegationen aus dem ungarischen Reichstag und dem österreichischen Reichsrat gegenüber­stehen. Zwischen den Reichshälften besteht eine Handels- und Zollunion mit gemeinsamer Währung (Gulden, später Kronen). Das Königreich Ungarn umfaßt den Banat, Siebenbürgen, welches nun keine Autonomie mehr besitzt und das halbautonome Königreich Kroatien-Slawonien (Ungarisch-Kroatischer Ausgleich, 20. September 1868, wobei die Abhängigkeit von der Regierung in Budapest in allen wichtigen Angelegenheiten bestehen bleibt), sowie Fiume.
Magyarisierung: Staatlich geförderte gezielte Politik und später auch ganz offener Druck, die nicht­magyarische Bevölke­rung des Königreichs Ungarn zu einem Teil der magyarischen Nation zu machen. 1907 Lex Apponyi (Kultusminister Graf Albert Apponyi) eingeführt, mit der die staatliche Kontrolle und der Unterricht in ungarischer Sprache auf Gemeinde- und Konfes­sionsschulen ausgedehnt wird.
Zahlenmäßig zeigt sich die Magyarisierung darin, daß der Anteil der magyarischen Bevölkerung im Königreich Ungarn (nach offizieller Darstellung) zwischen 1780 und 1910 von etwa 29 auf 54 Prozent ansteigt.

Oktober 1918: Der ungarische Reichstag erklärt die Selbstständigkeit Ungarns; Ausrufung der Republik unter Mihály Károlyi (ungarische Revolution). Jänner bis August 1919 Räterepublik unter Béla Kun. In Szeged formiert sich eine konserva­tiv-reaktionäre Gegenregierung. Invasion rumänischer Truppen und Belagerung von Budapest. Admiral Miklós Horthy (Verteidigungsminister der Szegeder Reaktion) zieht mit seinen Truppen am 16. November 1919 in Budapest ein. Schärfste Ver­folgung der Anhänger der Räterepublik. Ein Teil von ihnen flüchtet nach Öster­reich; Béla Kun wird in Niederösterreich inhaftiert, flieht von dort in die Sowjet­union, wo er 1939 ein Opfer der Stalinschen Verfolgungen wird. Koloman Wallisch, aus einer ungarisch-schwä­bischen Familie stammend, flüchtet nach Österreich; wird Natio­nalrats­abgeordneter der SDAP und beteiligt sich aktiv am Februarauf­stand 1934 gegen die Diktatur Doll­fuß. Durch ein Standge­richt verurteilt, wird er am 18. Februar 1934 gehenkt.

1920-1946: Königreich Ungarn; Horthy wird von der Nationalversammlung zum Reichsverweser (kormányzó) gewählt; Restauration der ständischen Herr­schaftsordnung, die eine Bodenreform verhindert. Politisch erreicht Horthy diktato­rische Vollmacht.

Juni 1920: Friedensvertrag von Trianon im Versailler Palais Grand Trianon. Als am Krieg schuldigem Staat werden Ungarn hohe Reparationen auferlegt, und es muß große Gebietsabtretungen an die neu entstandenen National­staaten hinnehmen. Auch nach den Gebietsabtretungen leben be­trächtliche Min­derheiten auf ungarischem Territorium: 551.211 Deutsche, 141.882 Slowaken - nach tschechoslowakischen Angaben 400.000 -, 41.974 Kroa­ten, 23.760 Rumänen, 17.131 Serben und 60.748 sonstige (nach der Volkszählung von 1920). Über 3 Millionen Ungarn verbleiben in den neu entstandenen Nationalstaaten (in der südlichen Slowakei, der Karpato-Ukraine, der Vojvodina, im slowenischen Murland und im Inneren Siebenbürgens). Die Wirtschaftslage Ungarns verschlechtert sich drama­tisch.

Oktober 1921: Zweiter habsburgischer Restaurationsversuch, der von Horthy mit Waffengewalt bei Budaörs (vor Budapest) verhindert wird.

1933: Als erster ausländischer Ministerpräsident stattet Gyula Gömbös, Führer der nationalistischen "Partei der Ungarischen Nationalen Unabhängigkeit" (auch "Ras­senschutzpartei"), Adolf Hitler einen offiziellen Besuch ab. In der Folge enge wirtschaftliche und politische Beziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland.
Horthy unterstützt nachdrücklich eine Politik der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit mit Mussolinis Italien und Österreich; ein Resultat ist die Unter­zeichnung der Römischen Protokolle am 17. März 1934; aller­dings haben diese Verträge kaum Auswirkungen.

1935 gründet Ferenc Szálasi die "Partei des nationalen Willens", aus der 1937 die Pfeilkreuzler entstehen. Anführer der Pfeilkreuzler ist József Gera, sein Sekretär Lajos Polgár. Bei der ungarischen Parlamentswahl 1939 erhält die Pfeil­kreuzler-Partei zwar rund 25 Prozent der Stimmen, ist jedoch bis zum 15. Oktober 1944 nie an der Regierung beteiligt.

18.3. 1938: Einführung des Visumzwangs für österreichische Paßinhaber.

November 1938: Erster Wiener Schiedspruch (Schloß Belvedere) durch die faschi­stischen Großmächte Deutschland und Italien. Ungarn erhält Gebiete mit ungari­scher Bevölkerungsmehrheit in der Südslowakei und in der Karpato-Ukraine. Der Schiedspruch ist eine der Folgen des Münchner Abkommens und Bestandteil des Plans des nationalsozialistischen Deutschlands, die Tschechoslowakei zu zerschla­gen. Ungarn hingegen arbeitet darauf hin, die gesamte Slowakei mittelfristig wieder unter seine Herrschaft zu bringen. Besetzung der zugesprochenen Gebiete durch die Honvéd (Magyar Királyi Honvéd­ség), angeführt vom Reichsverweser Miklós Horthy. Entlassung slowakischer und tschechischer Angestellter bei der Bahn und im öffentlichen Dienst; Slowaken und Juden werden Gewerbescheine entzogen. Schließung slowakischen Schulen (386 Volksschulen, 28 Realschulen und 10 Gymnasien). Aus der Südslowakei flüchten etwa 100.000 Slowaken und Tschechen. Die jüdische Bevölkerung in den besetzten Gebieten ist verschiedenen Arten von Verfolgung und Gewalt ausgesetzt.

1939: Austritt Ungarns aus dem Völkerbund. Horthy unterzeichnet den Antikomintern­pakt.

August 1940: Zweiter Wiener Schiedsspruch: Ungarn erhält von Rumänien einen sichelförmigen Abschnitt durch das nördliche Siebenbürgen. November Beitritt zum Dreimächtepakt wie auch Bulgarien, Rumänien und die Slowakei.
Dezember: Abschluß eines "ewigen Freundschaftvertrages" mit Jugoslawien.

April 1941: Ministerpräsident Pál Teleki stirbt durch eigene Hand, nachdem von deutscher Seite eine Beteiligung Ungarns beim Überfall auf Jugoslawien gefordert wird. Sein Nachfolger László Bárdossy schließt sich dem Feldzug Hitlers an und läßt die ungarische 3. Armee in Jugoslawien einmarschieren. Ungarn erhält als Lohn u.a. Teile der Vojvodina und die Baranya. In Novi Sad richten die ungarischen Besatzungstruppen unter General Feketehalmy-Czeydner ein Massaker an Tausenden Serben und Juden an.

Juni 1941: Eintritt Ungarns in den Krieg gegen die Sowjetunion. Im Dezember erkärt Ungarn den Vereinigten Staaten von Amerika den Krieg.

Jänner 1943: Die ungarische 2. Armee wird bei den Schlachten am Don völlig aufgerieben, 40.000 Soldaten verlieren ihr Leben, 60.0000 geraten in Kriegsgefan­genschaft. Horthy versucht über die tschechoslowakische und die polnische Exilre­gierung Kontakte zu den Westalliierten aufzunehmen.

März 1944: Treffen Hitler - Horthy auf Schloß Kleßheim; deutsches Ultimatum an den Reichsverweser: Sollte keine das Deutsche Reich voll unterstützende Regierung in Ungarn ernannt werden, stünde eine Besetzung Ungarns bevor. Nach der Einsetzung einer Kollaborationsregierung unter Döme Sztójai (ehemaliger ungarischer Gesandter in Berlin) besetzen am 19. März deutsche Verbände Ungarn. Neue ungarische Divisionen werden an die Ostfront geschickt. Als von Deutschland Bevollmächtigte für die "Lösung der Judenfrage" treten der deutsche Gesandte, SS-Brigadeführer Edmund Veesenmayer, und Adolf Eichmann in Budapest auf. Bis 9. Juli dauern die Deportierungen der jüdischen Bevölkerung aus der Provinz in die Vernichtungslager an.

Juli 1944: Massive Luftangriffe der Alliierten auf Budapest. Die sowjetischen Streitkräfte befreien Minsk, die Hauptstadt Weißrußlands, wo vor dem deutschen Überfall 80.000 Juden gelebt hatten, und finden zehn Überlebende. BBC meldet, daß 400.000 Juden aus Ungarn in die deutschen Vernichtungslager deportiert worden seien. Internationaler Druck auf Horthy, vor allem durch den schwedischen König, die Schweiz, den Vatikan und das Internationale Rote Kreuz. Raoul Wallenberg trifft als Sonderbeauftragter Schwedens in Budapest ein.

August 1944: Die sowjetische Armee überschreitet die tschechoslowakische Grenze; slowakischer Aufstand im Industriegebiet um Banská Bystrica. Nach dem militärischen Ausscheiden Rumäniens (Kriegserklärung an Deutschland) dringt die sowjetische Armee über Siebenbürgen nach Ungarn ein. Fluchtbewegung der Siebenbürger Sachsen über Ungarn. Eichmann und sein Stab verlassen Budapest.
28. August: Der Horthy loyale Generaloberst Géza Lacatos bildet eine neue Regierung. Bemühungen, aus dem Krieg auszuscheiden und einen Waffenstillstand mit der UdSSR zu erreichen. Eine dementsprechende Verlautbarung erfolgt am 15. Oktober über den Rundfunk. Unter der Leitung von SS-Hauptsturmführer Otto Skorzeny wird Miklós Horthy jun. entführt und werden wichtige Regierungsstellen gestürmt.
Horthy gibt seinen Rücktritt bekannt und wird in deutsche Schutzhaft genommen. Einsetzung der nationalfaschistischen Pfeilkreuzler-Regierung unter Ferenc Szálasi.
Rückkehr Eichmanns nach Budapest. Die deutschen SS-Vertreter Edmund Veesenmayer und Otto Winkelmann fordern vom neuen ungarischen Innenminister Gábor Vajna die Überstellung von "Leihjuden" an das Deutsche Reich.

November 1944: Mit Hilfe der Pfeilkreuzler wird die von den Deutschen geplante Deportation der ungarischen Juden aus Budapest begonnen. Tausende Juden werden durch die Pfeilkreuzler am Ufer der Donau erschossen. Jüdische Frauen und Männer werden an die österreichische Grenze nach Hegyeshalom-Nickelsdorf getrieben und der SS übergeben.
Die Zahl der bis zum 1. Dezember 1944 ausgelieferten "Leihjuden" insgesamt 76.209. Der größte Teil kommt entweder auf Todesmärschen quer durch Ostösterreich, in Konzentrationslagern oder beim Bau des sogenannten Südostwalls ums Leben.
Im Dezember werden die verbliebenen Budapester Juden in der Pester Innenstadt in einem Ghetto zerniert.
Ab Weihnachten werden die ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter auf Lager in der Steiermark, Burgenland, Niederösterreich aufgeteilt; unterstellt sind sie der Gauleitung  bzw. Kreisleitungen; die Bewachung setzt sich aus SS, Gendamerie, Volkssturm, Hitlerjugend zusammen.
In Debrecen wird unter dem Befehlshaber der ungarischen 1. Armee, Béla Miklós von Dálnoki, eine Militärregierung gebildet, die am 20. Jänner 1945 in Moskau einen Waffenstillstand mit den Alliierten unterzeichnet und auf alle Gebietsgewinne der letzten Jahren verzichtet. Allerdings dauern die Kriegshandlungen im westungarischen Teil bis April an.

17. Jänner 1945: Befreiung des Stadtteils Pest durch die Rote Armee, im Ghetto haben 70.000 Menschen überlebt.

13. Februar: Ende der Schlacht um Budapest; 38.000 zivile Opfer. Der steirische Gauleiter ordnet die Liquidierung von erschöpften und kranken ZwangsarbeiterInnen an.
Im März werden 20.000 jüdische Arbeitsdienstler der ungarischen Armee teils zu Fuß oder per Bahn (aus Köszeg, Bratislava und Sopron) nach Österreich verbracht; in Todesmärschen entlang des Neusiedlersees, durch das Donautal oder Ennstal, über den Pyhrnpaß nach Mauthausen, dann Gunskirchen getrieben. Von den 40.000 ungarischen Juden, die sich vor Kriegsende auf österreichischen Boden befanden, überleben weniger als die Hälfte.

Miklós Horthy wird nicht als Kriegsverbrecher angeklagt und auf Druck der USA nach 1945 aus der Haft entlassen. Er stirbt 1957 in Estoril, im portugiesischen Exil. Miklós Horthy jun. wird am 4. Mai 1945 in Niederdorf (Villabassa) von amerikanischen Truppen befreit - er war mit 130 prominenten "Sonderhäftlingen" (darunter Kurt Schuschnigg mit Familie) vom KZ Dachau nach Südtirol transportiert worden.
Ferenc Szálasi wird der Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und am 12. März 1946 in Budapest hingerichtet.

 

Grundlagen der österreichischen Exilliteratur. Begleitende Studien zu einem „Handbuch der Österreichischen Exilliteratur in zwei Bänden“

Ein Projekt des Vereins zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur und der Theodor Kramer Gesellschaft

Gefördert durch