HINWEIS
CfP: Vor Ort: Erinnerung, Exil, Migration - München (15.01.2021)
Jahrestagung der Gesellschaft für Exilforschung in München vom 2. bis 4. September 2021. In Kooperation mit dem NS-Dokumentationszentrum München
Die 1984 gegründete Gesellschaft für Exilforschung e.V. bündelt Forschungen, die Umstände der Flucht sowie Lebens-, Arbeits- und Integrationsbedingungen von Emigrierten wie auch Möglichkeiten der Remigration rekonstruieren.
Hatte die Jahrestagung 2018 Archive und Museen in den Mittelpunkt gerückt, so beschäftigt sich die Jahrestagung 2021 mit einer vielfältigen Topologie des Erinnerns, genauer gesagt: mit Orten des Exils und der Migration und ihrem Verhältnis zu Erinnerungskulturen. Durchgeführt in Kooperation mit dem NS-Dokumentationszentrum München richtet sich der Blick auf eine vielfältige Topographie des Erinnerns und die Rolle von Orten im kollektiven Gedächtnis. Die Tagung ist interdisziplinär ausgerichtet und möchte den Austausch zwischen der Exilforschung und anderen Forschungsrichtungen anregen, die sich mit (erzwungener) Migration und Flucht befassen. Insofern thematisiert sie auch Exilerfahrungen jenseits des Exils und der Massenflucht in der Zeit des Nationalsozialismus.
Die Frage nach der Rolle von Orten im kollektiven Gedächtnis lenkt den Blick auf gesellschaftliche Aushandlungen im Zuge erinnerungspolitischer Relevanzsetzungen. Das kollektive Gedächtnis (Maurice Halbwachs) bzw. kulturelle Gedächtnis (Aleida und Jan Assmann) entsteht in der Interaktion und Kommunikation zwischen verschiedenen Akteur*innen, die (z.T. kontroverse) Interessen an der Darstellung vergangener Ereignisse und ihrer Schauplätze haben. Reale Zufluchts- und Migrationsorte werden auf verschlungenen Wegen zu symbolisch aufgeladenen lieux de mémoire (Pierre Nora) mit einer spezifischen Funktion in der identitätsstiftenden Konstruktion von sozialen Gruppen, bis hin zu Nationen.
Orte können, aber müssen nicht zu Bezugspunkten des kollektiven Erinnerns und Gedenkens werden. Gerade im europäischen Kontext tun nationale Erinnerungskulturen sich schwer mit einer transnationalen Erinnerung an Exil und Migration. Ihre Geschichte bildet vielerorts noch immer einen „non-lieu de mémoire“, einen „Nicht-Ort des Gedenkens“ (bzw. Ort des Vergessens). Die Tagung lädt dazu ein, anhand von Fallstudien zu bestimmten Orten nach Prozessen und Akteur*innen der Aushandlung von öffentlichem Gedenken zu fragen.
Es geht, erstens, darum, anhand von vielfältigen Quellen – Texte, Artefakte, Bilder etc. – Orte als Schauplätze von Exil und Migration zu untersuchen und dabei auch Orte erzwungener Mobilität und erzwungener Sesshaftigkeit einzubeziehen (Internierungen beispielsweise). Wie waren diese Orte organisiert und strukturiert? Welche Handlungsspielräume haben sie Menschen verschiedenen Geschlechts eröffnet, welche begrenzt? Zweitens geht es darum, Bedeutungszuweisungen zu analysieren, die in der Literatur, in den Künsten oder auch in Oral History Interviews vorgenommen werden. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Orten von Migration und Exil und ihrer metaphorischen Aufladung, etwa als „Zufluchtsorte“ oder, wie im Falle des Fischerdorfs Sanary-sur-Mer, als „Hauptstadt der deutschen Literatur“ (Ludwig Marcuse)?
Drittens sollen die Prozesse nachgezeichnet werden, in denen Orten Bedeutung zugewiesen wird. Wer tritt für Erinnern und Gedenken an welchen Orten ein? Die (Nachkommen der) Betroffenen? Lokale, nationale und/oder internationale Akteur*innen, institutionelle oder zivilgesellschaftliche? Welches Konzept wird dabei verfolgt, an wen, in wessen Namen und mit welchen Wertbezügen wird erinnert und an wen nicht? Wer sind die Adressaten der Erinnerungspraxis? Welche ästhetische Beziehung besteht zwischen einem Gedenkort – einem Denkmal, einem Straßennamen oder auch einem künstlerischen Zugang wie Edmund de Waals „library of exile“ – und dem konkreten Akt der Flucht oder der Migration, an den er erinnert? Welche gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse zeigen sich an Schauplätzen von Flucht und Migration, beispielsweise bei der Entstehung der Gedenkstätte Berliner Mauer oder dem „Archiv der Flucht“, das nach Erinnerungsformen in heutigen Einwanderungsgesellschaften fragt?
Beiträge zu vielfältigen – auch theoretischen – Fragen sind willkommen, z.B.:
- Welche Rolle spielen Literatur und Künste in erinnerungspolitischen Debatten, wenn sie an Orten entstehen, von ihnen handeln oder zwischen verschiedenen Orten Beziehungen herstellen? Orientieren und verstärken sie öffentliches Gedenken oder setzen sie dieses sogar erst in Gang?
- Wie lassen sich Doppel- und Mehrfachbezüge greifen, etwa, wenn Orten der Migration sowohl im Ankunfts-, als auch im Herkunftsland Bedeutungen zugewiesen werden, die sich aber nicht zwangsläufig decken?
- Welcher Zusammenhang besteht zwischen erinnerungs- und identitätspolitischen Fragen?
- Wie können Erinnerungs- und Gedenkorte des Exils und der Migration deren flüchtigem Charakter gerecht werden? In welchem Verhältnis stehen also die Deterritorialisierung von ‚Menschen unterwegs’ zu dem Bemühen um Verortungen von Erinnerung? Lässt sich Erinnerung und Räumlichkeit im Sinne eines „multidirectional memory“ (Rothberg) auch ohne den Bezug auf einen konkreten Ort fassen?
- Welche Leerstellen lassen sich in der aktuellen erinnerungspolitischen Landschaft in Bezug auf Migration und Exil ausmachen? Welche Reibungsflächen entstehen, wenn die Geschichte der Abwesenden und die Geschichte der Anwesenden im Ringen um öffentliche Aufmerksamkeit rivalisieren und in einen „memory contest“ (Anne Fuchs) treten?
Beiträge von 30 Minuten aus allen Disziplinen in englischer oder deutscher Sprache sind willkommen. Reise- und Übernachtungskosten können ggf. nach vorheriger Rücksprache übernommen werden.
Abstracts für Beiträge von 30 Minuten mit max. 1500 Zeichen inkl. kurzem CV werden erbeten bis zum 15.01.2021 anbernstor[a]uni-hildesheim.de; kristina.schulz[a]unine.ch; karolina.kuehn[a]muenchen.de
Kristina Schulz, Karolina Kühn, Wiebke von Bernstorff
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=> Gesellschaft für Exilforschung