Hermynia Zur Mühlen
Ps.: Franziska Maria Rautenberg, Traugott Lehmann, Lawrence H. Desberry, Franziska Maria Tenberg. Exil: 1938 ČSR, 1939 GB.
Geborene Hermine Isabella Maria Viktoria Gräfin Folliot de Crenneville. Ihren Vater, Franz Graf Crenneville (gest. 1920), österr. Gesandter, begleitete sie bereits als Kind auf seinen Reisen nach Nordafrika (Algier, Tanger) und in den Nahen Osten, sowie nach Konstantinopel, Lissabon, Mailand, Florenz; sie erlernte mehrere Sprachen, was sich in 150 Übersetzungen von Romanen und Erzählungen aus dem Franz., Russischen und Engl. niederschlug. Mutter: Isabella Louise Alexandrina Maria von Wydenbruck (gest. 1936). - H.Z.M. erhielt Unterricht von Hauslehrern, besuchte dann das Sacre Coeur in Algier und ein Pensionat für Höhere Töchter in Dresden. Ausbildung zur Volksschullehrerin in Ebensee (OÖ). Die Sommer verbrachte sie in der elterlichen Villa bei ihrer engl. Großmutter in Gmunden am Traunsee (OÖ). 1908, gegen den Willen ihrer Eltern, Heirat mit dem baltischen Gutsbesitzer Victor von zur Mühlen (1879-1950). Konversion vom römisch-katholisch Glauben zum Protestantismus. 1908-13 am Gut ihres Mannes in Eigstfer (Kreis Fellin, heute Estland); Trennung von ihrem Mann. Bis 1919 wegen einer Lungenerkrankung in Davos. Seit 1918 Verbindung mit → St.I. Klein (Heirat: Bratislava 1938). Übersiedlung nach Frankfurt, Beitritt zur KPD; später nach Berlin. In den 1920er Jahren wird sie als Übersetzerin von Upton Sinclair für den Malik Verlag bekannt: "Das Buch des Geistes", "Jimmie Higgins", "Der Liebe Pilgerfahrt", "Die Wechsler", "Petroleum", "Der Sumpf", "Wallstreet". Weitere Übersetzungen: Douglas Goldring: "Briefe aus der Verbannung"; John Galsworthy: "Jenseits"; Jerome K. Jerome: "Sie und ich". Aus dem Russischen übersetzte sie u.a. Alexander Bogdanoffs "Der rote Stern". Als Schriftstellerin hatte sie zunächst Erfolg mit ihrem Märchenbuch "Was Peterchens Freunde erzählen", das vielfach übersetzt wurde - so auch ins Japanische und Chinesische. (Lu Xun, der wohl bedeutendste chinesische Schriftsteller seiner Zeit, übersetzte "Das Schloß der Wahrheit"). Gegen die Erzählung "Schupomann Müller" (1924) erhob die Staatsanwaltschaft Leipzig 1926 Anklage wegen Hochverrat - das Verfahren wurde ein Jahr später eingestellt. Veröffentlichte Kurzgeschichten, Feuilletons und Essays in: Die Erde (Breslau), Die rote Fahne, Der Kämpfer (Chemnitz), Neue Leipziger Zeitung, NYer Volkszeitung und Herold, Arbeiter-Zeitung (Hessen-Frankfurt), Frankfurter Zeitung, Die Weltbühne u.a.
Nach der Machteinsetzung der Nationalsozialisten flohen H.Z.M. und St.I. Klein nach Wien. Dort erreichte H.Z.M. die Aufforderung ihres Verlages, die Mitarbeit an der von Oskar Maria Graf, Wieland Herzfelde und Anna Seghers hg. Exilzeitschrift "Neue Deutsche Blätter" einzustellen. Als Vorbilder wurden ihr die Autoren Alfred Döblin, René Schickele, Thomas Mann und → St. Zweig genannt, die damals auf Publikationen in der von Klaus Mann hg. Exilzeitschrift "Die Sammlung" zunächst verzichteten, um den weiteren Vertrieb ihrer Bücher in Deutschland nicht zu gefährden. In ihrer Antwort an den Engelhorn Verlag, bei dem 1932 ihr Roman "Das Riesenrad" erschienen war, erklärte H.Z.M. offen ihre Gegnerschaft zur NS-Herrschaft. Das Dritte Reich, "dieses zur Wirklichkeit gewordene Greuelmärchen, zu bekämpfen", wird zentrales Motiv ihrer drei großen Exilromane. Mitglied der VsS und Beteiligung an der Gründung eines Hilfskomitees für deutsche Flüchtlinge. Beiträge in: AZ ("Vierzehn Nothelfer", in Fortsetzungen, Juli/August 1933), Das kleine Blatt, Die Bunte Woche, Das Wort, Deutsche Freiheit (Saarbrücken; in Fortsetzungen "Unsere Töchter, die Nazinen", Juni/August 1934), Neue Deutsche Blätter (Prag), Prager Tagblatt, Pariser Tageszeitung. Daneben Arbeit an den Übersetzungen aus dem Engl. von Nathan Ash, "Das Tal" (1935), und J.K. Jerome, "Der Nebel steigt" (1936). In dieser Zeit innerliche Abwendung von der KP.
März 1938 Flucht nach Bratislava unter Zurücklassung ihrer Bibliothek und einer Erbschaft nach ihrer Mutter. ČSR-Staatsbürgerschaft durch die Heirat mit St.I. Klein. Kontakt zu Hubertus Prinz zu Löwenstein, erhält ein Arbeitstipendium von der AG. Arbeit an einer österr. Familien-Saga "Ewiges Schattenspiel", die in der Berner Zeitung "Der Bund" in Fortsetzungen von Dezember 1938 bis März 1939 veröffentlicht wird (engl.: "We poor shadows", 1943) und an dem Roman "Als der Fremde kam". Übersiedlung nach Bad Pieštany. Am 29. Mai 1939 Flucht über Budapest, Jugoslawien, Italien, die Schweiz und Frankr. nach London. Ankunft 19. Juni 1939. Die Fahrkarten hatte die Arden Society (eine Fluchthilfe für Künstler und Intellektuelle, die von den Erzbischöfen von Canterbury und York und Prominenten der engl. Society getragen wurde) bezahlt.
Bei Kriegsbeginn für ein Monat nach Reigate (wie auch → R. Fuchs und → L. Winder) evakuiert. Kontakt zum Austrian PEN (→ R. Neumann) und zu Rudolf Olden. Bis 1948 in London, dann Radlett (nördlich von London). Unterstützung vom Czech Refugee Trust Fund. Ab 1939 bei der um Wilhelm Sternfeld zentrierten Thomas-Mann-Gruppe (literarische Gruppe des Czech Trust Fund). Trotz einer schweren Erkrankung übersetzte H.Z.M. neben ihrer literarischen Tätigkeit noch zehn größere Prosaarbeiten von engl., franz. und US-amerikanischen Autoren wie Nevil Shute, John Owen, Hugh Seymour, Edna Ferber, Kenneth Roberts u.a. Mitarbeit bei "Inside Nazi Germany", "Zeitspiegel", "Die Zeitung", AAT. Zu ihrem 60 Geburtstag veranstalten der tschechoslowakische (Präsident: František Langer) und der österr. PEN-Klub eine besondere Ehrung mit einer Lesung aus ihrem Werk.
H.Z.M., zum Zeitpunkt ihrer Exilierung eine bekannte Schriftstellerin, gerät ab den 1950er Jahren in eine lange Vergessenheit. Ihr Roman "Unsere Töchter, die Nazinen", 1936 auf Intervention des deutschen Gesandten Franz von Papen in Wien beschlagnahmt, wird in Ö. nicht neu aufgelegt, die RAVAG setzt auf Veranlassung der Zensur ihre "Osterlegende" ab. - Beiträge in den Anthologien "Stimmen aus Böhmen" (London 1944), "Österr. Schriftsteller im Exil" (London 1946). - Nachlass: verschollen.
Werke
Was Peterchens Freunde erzählen. (Märchen.) Mit Zeichnungen von George Grosz. Berlin: Malik 1921. 32 S. (Neuausgabe: Wien: Globus 1946. 94 S. ÖNB 744.751-B Franz.: Ce que disent les amis du petit Pierre... Hg. von André Girald. Paris: Éditions Sociales Internationales 1934. 122 S. Auch Tschechisch, Polnisch Engl., Russisch, Esperanto, Serbokroatisch).
(Ps. T. Lehmann) Die weiße Pest. Ein Roman aus Deutschlands Gegenwart. Berlin: Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten 1926. 195 S. (Neuausgabe: Hg. und mit einem Nachwort von Manfred Altner. Berlin: Tribüne 1987).
Ende und Anfang. Ein Lebensbuch. Frankfurt: Fischer 1929. 270 S. (Polnisch: Koniec i poczatek. Übers. Ireny Tuwim. Warschau: Wydawnictwo Wspóczesne 1936. 268 S. Deutsche Neuausgabe: Berlin, Weimar: Aufbau 1976).
Das Riesenrad. (Roman.) Stuttgart: Engelhorn 1932. (Neuausgabe: Gewidmet: "Für St." - Mit einem Nachwort → O.M. Fontana. Wien: Österr. Buchgemeinschaft 1948. 278 S. ÖNB 773.419-B Norwegisch: De tok våre dotre. Übersetzung von Gerda Grepp. Oslo/Kopenhagen: Tiden/ Forlager Fremad 1934. 192 S. DBF Auch Polnisch).
Schmiede der Zukunft. (Märchen.) Ill. von Heinrich Vogeler. Berlin: Verlag der Jugendinternationale 1933. 86 S.
Fahrt ins Licht: 66 Stationen. Wien, Leipzig: Nath 1936. 492 S. (Neuausgabe: Mit einem Vorwort von Karl-Markus Gauß. Villach: Sisyphus Autorenverlag 2000. 381 S.)
Nora hat eine famose Idee. (Roman.) Bern/Wien: Gotthelf/Saturn 1933. 263 S. (Neuauflage: Wien: Büchergilde Gutenberg 1938. 265 S. ÖNB 787.600-B Auch Engl. DBF)
Reise durch ein Leben. (Roman.) Bern: Gotthelf 1933. 383 S. DBF; ÖNB 635.866-B (Engl.: The Wheel of Life. Übers. Margaret Goldsmith. London: Barker 1933. 284 S. Deutsche Neuauflage: Wien: Saturn 1937).
Unsere Töcher, die Nazinen. (Roman.) Wien: Verlag Gsur & Co. 1935. 157 S. ÖNB 645.628-B (Neuausgaben: Berlin, Weimar: Aufbau 1983. 143 S.; Wien: Promedia 2000).
Ein Jahr im Schatten. (Roman.) Zürich: Humanitas 1935. 426 S.
Bethmann Hollweg. Luisterspel in vijf tooneelen. (Flämisch.) 1937. 22 Bl. DBF
Frederik de Groote. Luisterspel in vier tooneelen. (Flämisch.) 1937. 23 Bl. DBF
Kardinal Richelieu. Luisterspel. 1937. 28 Bl. DBF
Woodrow Wilson. Luisterspel in 5 tooneelen. 1937 19 Bl. DBF
Christoffel Colombus. Luisterspel in zeven tooneelen. (Flämisch.) Übers. Gust de Muynck. 1938. 58 Bl. DBF
Florence Nightingale. Luisterspel in vier tafewreelen. (Flämisch.) Übers. Leo Persyn. 1938. 27 Bl. DBF
De groote onbekende: luisterspel in negen tooneelen rondom de figuut von Joseph Fouché. (Flämisch.) Übers. Joris Merckx. 1938. 67 Bl. DBF
Isabella von Spanje. Luisterspel in 3 tooneelen. (Flämisch.) Übers. Raymond Brulez. 1938. 20 Bl. DBF
Lodewijk de veertiende. Hoorspel in vier tafreelen. (Flämisch.) Aus dem Deutschen von L. Persyn. 1938. 28 Bl. DBF
Lord Edward Grey. (Flämisch.) 1938. 22 Bl. DBF
Metternich: twee toonelen. (Flämisch.) Übers. R. Brulez. 1938. 18 Bl. DBF
De brug: een hoorspel in 7 toonnelen. (Nach der Ballade von Theodor Fontane, "De brug over de Tay". Flämisch.) Übers. L. Persyn. 1939. 36 Bl. DBF
We poor shadows. A Novel. (Engl.) London: Free Austrian Books 1943. 276 S.
Kleine Geschichten von großen Dichtern: Miniaturen. London: Free Austrian Books 1945. 54 S. DBF; DÖW 3348 (Neuausgabe: Wien: Stern 1945. 60 S. Sowie: Wien: Globus 1946. 86 S. Ill. von Otto Rudolf Schatz ÖNB 743.058-B).
Little Allies. Fairy and folk tales of fourteen nations. (Engl.) London: Alliance Press 1945. 106 S. DÖW 7981
Came the stranger. A novel. (Engl.) London: Frederick Muller 1946. 295 S. DBF; ÖNB 596.653-B (Deutsch: Als der Fremde kam. Wien: Globus 1947. 345 S. DÖW 15.875 Neuausgabe: Berlin, Weimar: Aufbau 1979. 291 S. DÖW 9727 Sowie: Mit einem Nachwort von K.-M. Gauß. Wien: Promedia 1994).
Geschichten von heute und gestern. (Novellen.) NY: Holt 1946.
Guests in the House. (Roman. Engl.) London: F. Muller 1947. 239 S.
Eine Flasche Parfum. Ein kleiner humoristischer Roman. Wien: Schönbrunn 1947. 125 S. (Zuerst 1932. ÖNB 753.314-B lt. DBF erste Ausgabe 1932. (Flämisch: Bal- en dansgesprekken. 140 jaar geschiedenis en musiek. Übersetzung von J. Servottte. 1938. 30 Bl. DBF)
Der Spatz. (Märchen.) Hg. und mit einem Nachwort von M. Altner. Berlin: Der Kinderbuchverlag Berlin 1984. 230 S. ÖNB 1.239.848-B (Mit Ill. von G. Grosz, John Heartfield, Karl Holtz, Rudolf Schlichter, H. Vogeler. Enthält: Was Peterchens Freunde erzählen; Der Muezzin; Die Söhne der Aischa; Said der Träumer. Dazu Teile aus anderen Kinderbüchern H.Z.M.s).
Ewiges Schattenspiel. (Roman.) Hg. und mit einem Nachwort von Jörg Thunecke. Wien: Promedia 1996. 256 S.
Bei Fragen kontaktieren Sie bitte Alexander Emanuely (emanuely[a]theodorkramer.at)
Sekundärliteratur
Patsch: Österr. Schriftsteller im Exil in GB, 102-113.
Helmut Müssener: "Wir bauen auf, Mutter". Wie man sich "draußen" das "Drinnen" vorstellte. Zu H.Z.-M.s Roman "Unsere Töchter, die Nazinen". In: E. Koch, F. Trapp (Hg.): Realismus-Konzeptionen der Exilliteratur zwischen 1935 und 1940/41. Maintal 1987, 127-143.
K.-M. Gauß: H.Z.M. oder kein Weg zurück aus Herdfordshire. In: Tinte ist bitter. Literarische Porträts aus Barbaropa. Klagenfurt 1988, 160-173.
Beate Frakele: "Ich als Österreicherin ..." H.Z.M. (1883-1951). In: J. Holzner u.a. (Hg.): Eine schwierige Heimkehr. Innsbruck 1991, 373-383.
Walter Grünzweig: "Dear Comrade": Aus der Korrespondenz zwischen H.Z.M. und Upton Sinclair. In: MdZ 8 (1991) 3, 8-10. (Mit einer Bibliographie der von H.Z.M. übersetzten Werke U. Sinclairs).
M. Altner: H.Z.M. Konzeption einer Biografie. In: MdZ 6 (1989) 4, 7 f.
Ders.: H.Z.M. Biografische Notizen zu V. von zur Mühlen und St. I. Klein. In: Zwischenwelt 3, 218-232.
Ders.: H.Z.M. Eine Biographie. Bern: Peter Lang 1997. 257 S. (Mit einer ausführlichen Bibliographie).
Aus: Siglinde Bolbecher/Konstantin Kaiser: Lexikon der Österreichischen Exilliteratur. Wien: Deuticke Verlag 1999, 722-725