Theodor Kramer
Anfang und Weltkrieg
Theodor Kramer (Th.K.) wird am 1. Jänner 1897 in Niederhollabrunn in Niederösterreich, 35km nördlich von Wien geboren. Seine Mutter ist Babette (Betty) Kramer, mit Mädchennamen Doctor, aus Stará Paka/Böhmen, sein Vater Dr. Med. Max (Michael) Kramer aus Bisenz/Mähren. Der Vater, der nur dank des Rothschild-Stipendiums der Israelitischen Kultusgemeinde Medizin studieren konnte, ist seit 1892 Gemeindearzt in Niederhollabrunn. Th.K. hat einen drei Jahre älteren Bruder namens Richard. Die Eltern kommen aus jüdischen Familien, doch wachsen die Kinder ohne religiöse Erziehung auf. Die Kramers wohnen in einem umgebauten Meiereihof, den man im Ort das „Doktorhaus“ nennt.
Nach anfänglichem häuslichen Privatunterricht besucht Th.K. von 1905 bis 1907 die örtliche Volksschule. Mit Schulbeginn 1907 kommt Th.K. ein Jahr lang ins Real- und Obergymnasiums in Stockerau. 1908 wird er Schüler in die Realschule Vereinsgasse im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Mit seinem Bruder bewohnt er in verschiedenen Untermietszimmern. Aus dieser Zeit stammen die ersten lyrischen Versuche Theodor Kramers, er hat sie schwer krank seiner Mutter diktiert.
1913 treten die beiden Brüder einer Gruppe Jugendlicher bei, die sich um die Zeitschrift „Der Anfang. Zeitschrift der Jugend“ des späteren Psychoanalytikers Siegfried Bernfeld sammelte. Neben Paul Lazarsfeld und Hanns Eisler treffen die beiden Brüder in dieser Gruppe auch auf Josephine Neumann (die Schwester von Elisabeth Neumann-Viertel, welche ebenfalls der Gruppe angehörte), die Richard 1915 heiraten wird. Th.K. bemüht sich vergeblich Gedichte im „Anfang“ zu publizieren.
Die Matura legt Th.K. 1914, mitten in der Julikrise und drei Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ab. Bis zum Juli 1915 ist er Hörer der Exportakademie in Wien. Im Oktober 1915 wird er zum Kriegsdienst als Offiziersanwärter einberufen und im Juni 1916 an der wolhynischen Front schwer, fast tödlich verwundet. Nach seiner Genesung wird er als Leutnant der Reserve zur Bewachung italienischer Kriegsgefangener in Ungarn eingesetzt. Im Mai 1918 inskribiert er mit Studienurlaub als außerordentlicher Hörer an der philosophischen Fakultät der Universität Wien. Kurz vor Kriegsende muss er noch als „Inspizierender“ an die italienische Front und nach der Demobilisierung bricht er wie viele andere zu einem Fußmarsch von Friaul nach Wien auf.
Überleben und Dichtung
In Wien angekommen setzt er sein Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte fort. Während Richard Kramer 1919 sein Chemiestudium aufgibt, um am Land für die KPÖ zu werben, beginnt Th.K. ein Jus-Studium. Aus finanziellen Gründen bricht Th.K. 1921 ebenfalls seine Studien ab, auch fehlt ihm das notwendige Latinum, um diese fortzusetzen. Da seine Eltern wegen der Inflation verarmt sind, muss Th.K. neben dem Studium arbeiten. Von 1919 bis 1921 ist er bei der Deutsch-Österreichischen Kriegs-Getreide-Anstalt angestellt, dann vor allem in Buchhandlungen und bis 1931 als Buchvertreter.
Die 20er Jahre sind auch die Zeit der ausgedehnten Wanderungen Theodor Kramers durch Niederösterreich und das Burgenland. Die Erlebnisse und Beobachtungen dieser Wanderungen fließen genauso in seine frühe Lyrik ein, wie die Erinnerungen an den Weltkrieg. Aus dem Jahre 1926 stammt seine erste Gedicht-Veröffentlichung unter dem Titel „Anderes Licht“ in der Wiener Zeitschrift „Die Bühne“. Das Jahr 1927 bedeutet für Th.K. selbst den Beginn einer eigenen lyrischen Ausdrucksweise. Leo Perutz ist einer jener Freunde, die ihm mit Rat und Tat helfen und ihm Wege zu den Verlagen und in die Öffentlichkeit ebnen. Entscheidende Mithilfe kommt von dem Lyriker und Journalisten Joseph Kalmer. 1927 ist auch das Jahr, in dem sich Th.K. zum ersten Mal an einem Lyrik-Wettbewerb, dem des S. Fischer-Verlages, beteiligt, dabei zwar keinen Preis gewinnt, aber als lyrische Hoffnung genannt wird.
1928 wird der erste Gedichtband "Die Gaunerzinke" im Frankfurter Verlag Rütten & Loening gedruckt, der Gedichte der Jahre 1927 und 1928 enthält, die z.T. vorher schon in verschiedenen Zeitungen, u. a. in der Wiener "Arbeiter-Zeitung" oder im "Simplizissimus" abgedruckt worden sind. Der Band wird von der Literaturkritik großteils positiv aufgenommen (z.B. Ernst Lissauer, Richard von Schaukal, Otto Koenig, Georg van der Vring). Th.K. wird noch im selben Jahr der Künstlerpreis der Stadt Wien für Lyrik verliehen, den mit ihm gemeinsam auch Heinrich Suso Waldeck erhält. Die nazistische Kritik meint schon zu diesem Zeitpunkt, ihn als "Hofpoeten der Demokratie" (Alfred Rosenberg) denunzieren zu können. Aus der christlich-sozialen Ecke glaubte man Kramer u. a. wegen seines angeblichen "jüdischen Jargons" verunglimpfen zu dürfen (Rudolf Sobotka).
Th.K. kann zeitweise bis 1933 von seinen Publikationen in diversen Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien und von den Einnahmen aus Rundfunksendungen leben. Seine Gedichte werden insbesondere in Wien, Berlin und Prag gedruckt. 1929 erhält er den Preis der Julius Reich-Stiftung. Th.K. schließt in dieser Zeit Freundschaften z. B. mit Paul Elbogen, Georg van der Vring und Rudolf Brunngraber. Er bekommt die Möglichkeit, in Wiener Arbeiterheimen und in den Volkshochschulen zu lesen. 1930 folgt der nur 14 Texte umfassende Gedichtband „Kalendarium“, herausgegeben in der Reihe der Flugblätter des Kartells Lyrischer Autoren und des Bundes Deutscher Lyriker in Berlin.
1931 nimmt sich der Zsolnay-Verlag der Gedichte Kramers an: Es erscheinen nach langem Schweigen seine erst zwischen 1928 und 1930 entstandenen Kriegsgedichte unter dem Titel "Wir lagen in Wolhynien im Morast...", gewidmet seiner späteren Frau Inge Halberstam. Einigen sozialistischen Kritikern, so z. B. Josef Luitpold Stern, fehlt die belehrende Moral, die eindeutige Tendenz dieser Anti-Kriegsgedichte, während Th.K. darauf besteht, die Dinge so darzustellen, wie sie waren.
Aufgrund einer schweren Erkrankung, die Kramer monatelang im Krankenhaus einsperrt, ist er ab Herbst 1931 gezwungen, ausschließlich von seinen sehr bescheidenen Einkünften als Lyriker zu leben. Eine für den Schlesischen Rundfunk geschriebene Lebensskizze (1931) zieht zum ersten Mal Bilanz. In seinem Text „Der Lyriker kalkuliert“ als Antwort auf eine Rundfrage des „Berliner Tageblatts“ berichtet Kramer über seine Arbeitsweise. Im Juni 1933 heiratet er Inge (Rosa) Halberstamm.
Der Beginn der Diktatur
Die Jahre 1933/1934 sind klarerweise Wendejahre auch für Theodor Kramer. Zwar findet er erst ab 1933 stärkeren Zugang zum Literaturbetrieb - im Jänner 1933 nimmt er an der Gründungsversammlung der "Vereinigung sozialistischer Schriftsteller" in Wien teil und wird in den Vorstand, ein Jahr später sogar zum Obmann-Stellvertreter gewählt (u. a. gehörten Josef Luitpold Stern, Else Feldmann, Adele Jellinek, Fritz Brügel, Rudolf Brunngraber, Ernst Waldinger, Oskar Maria Graf, Hermynia Zur Mühlen der Vereinigung an) -, gleichzeitig aber reduzieren sich zuerst im Deutschen Reich ab Jänner 1933 und nach dem Bürgerkrieg vom Februar 1934 auch in Österreich die Publikationsmöglichkeiten eklatant.
Die Berliner "Literarische Welt" diskreditiert Th.K. Ende April 1933 durch ihren Abdruck des Gedichtes „Maifeuer“ insofern, als zugleich regimefreundliche Texte anderer AutorInnen abgedruckt werden und sich sein unpolitischer Text dadurch politisch instrumentalisiert findet. Th.K. protestiert in der Wiener "Arbeiter-Zeitung" gegen diese Vorgangsweise und nimmt den Vorfall zum Anlaß, seine Arbeiten aus Hitler-Deutschland zurückzuziehen.
Das Verbot der Sozialdemokratie, ihrer Nebenorganisationen, so auch der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller, und der Arbeiterpresse im Austrofaschismus ab Februar 1934 treffen den Lyriker schwer. Es sind Freunde und Freundinnen, die Th.K. finanziell unterstützen, so u.a. Otto Basil, Anna Blaukopf, Fritz Hochwälder, Leopold Liegler, Viktor Matejka, Johann Muschik, Erika Mitterer, Paula von Preradović und Rosa und Otto Spranger. Es werden Lesungen in Privatwohnungen, z. B. bei Viktor Matejka, und die Einhebung eines "Kramer-Schillings" durch Freunde organisiert.
1936, im Jahr nach dem Tod des Vaters Max Kramer, erscheint der bis dahin umfangreichste Gedichtband Theodor Kramers im Wiener Gsur-Verlag unter dem Titel "Mit der Ziehharmonika". In ihm sind Texte aus den Jahren 1927 bis 1935 versammelt, die den Autor als Dichter der Not und Armut, der Dörfler und Subproletarier, der Ränder und der existentiellen Ausgesetztheit einen festen Platz in der österreichischen Literaturgeschichte verschaffen.
„Fremd war Kramer das austromarxistische Leitbild vom ´Neuen Menschen´, der aus dem Industrieproletarier wachsen sollte, fremd war ihm jede sozialistische Asketik [...] und fremd war ihm jene zugleich grandiose und gefährlich abstrakte Orientierung auf eine bessere Zukunft hin, auf eine Welt jenseits der Entfremdungen. Kramer benötigte das Ideal vom Neuen Menschen nicht, um die Würde des Menschen zu entdecken und so seinen Anspruch auf Veränderung der entwürdigenden Verhältnisse zu legitimieren; ihm genügte dieser Mensch, um mit Wut und Zuneigung, Beharrlichkeit und Unversöhnlichkeit in abertausenden Gedichten von ihm zu sprechen.“ (Karl Markus Gauß: Th.K. 1987 - 1958. Dichter im Exil. Arbeiterkulturverein Salzburg 1983, S. 5f)
Flucht und Exil
Die Annexion Österreichs im Jahre 1938 bedeutet für Th.K. Berufsverbot, Arbeitslosigkeit, Verlust der Wohnung und zunehmende Aussichtslosigkeit. Im August 1938 erleidet er einen psychischen Zusammenbruch. Die Gedichte, die zwischen März und Juli 1938 angesichts der nazistischen Bedrohung entstehen, werden erst 1946 unter dem Titel „Wien 1938“, ergänzt durch Gedichte aus dem britischen Exil, in dem Sammelband des Globus-Verlages "Wien 1938/Die Grünen Kader" publiziert. Seit Herbst 1938 versucht Th.K. verzweifelt, aber lange erfolglos, in ein Asylland zu entkommen. England, die Schweiz, die USA und die Dominikanische Republik werden ins Auge gefaßt. Nach einer Intervention von Thomas Mann, gelingt Th.K. im Juli 1939 die Flucht nach England. Seine Ehefrau hat schon im Februar 1939 nach England ausreisen können. Im selben Jahr setzt die Reichsschrifttumskammer alle Schriften Theodor Kramers auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“.
Im Exil wird Th.K. vom Internationalen P.E.N.-Club unterstützt und kann vorerst in London und in Winborne (Dorset) leben. Von Mai 1940 bis Jänner 1941 wird er jedoch als "feindlicher Ausländer" in Huyton bei Liverpool und auf der Isle of Man interniert. Danach lebt er zeitweise in Wolverhampton er als Diener in einem größeren Haushalt und ist auf Unterstützungen angewiesen. Im Oktober 1942 trennen sich Theodor Kramer und seine Ehefrau Inge, die in einer Fabrik arbeitet, voneinander. Sie lassen sich jedoch nicht scheiden. Er schließt Bekanntschaft mit Erich Fried, Eleanor Farjeon, Hilde Spiel. Gleich im Jänner 1943 erhält Th.K. durch Vermittlung von Eleanor Farjeon schließlich die Stelle eines Bibliothekars im County Technical College in Guildford (Surrey). In Guildford lernt er Anna Krommer kennen.
1941 nimmt er am Weltkongreß des P.E.N.-Clubs in London teil und 1942 an der vom österreichischen Exil-P.E.N. veranstalteten Kulturkonferenz im Austrian Centre/London. Auch gibt es in dieser Zeit Lesungen in Sendungen der BBC sowie Publikationen von Texten in diversen deutschsprachigen Exilzeitschriften (z. B. Austro-American Tribune, Aufbau...). Am 26. Jänner 1943 kommt Theodor Kramers Mutter Betty im Konzentrationslager Theresienstadt, wohin sie im Juli 1942 deportiert worden war, um. Davon wird Th.K. jedoch erst nach Kriegsende erfahren. Unter dem Titel "Verbannt aus Österreich. Neue Gedichte" erscheint 1943 ein neuer Gedichtband, der Gedichte der Jahre 1938 bis 1942 aus Wien und dem Exilland England enthält und vom Austrian P.E.N. in London herausgegeben wird (Nachdruck 1983 im Böhlau-Verlag). In überarbeiteter Form werden einige der Gedichte in den Zyklus „Wien 1938“ übernommen.
Rückkehr und Tod
Trotz mehrerer Möglichkeiten, unmittelbar nach dem Krieg nach Österreich zurückzukehren, kann sich Kramer dennoch nicht zu einer solchen entschließen. Im Wiener Globus-Verlag erscheinen im Jahr 1946 die beiden Gedichtbände "Wien 1938/Die Grünen Kader" und "Die untere Schenke". Verschiedene österreichische Zeitungen und Zeitschriften machen auf den in Österreich inzwischen weitgehend vergessenen Lyriker aufmerksam. Gegen Ende des Krieges und unmittelbar danach stellt Th.K. einen weiteren Sammelband zusammen, der unter dem Titel „Lob der Verzweiflung“ erst nach dem Tode des Autors zu dessen 75. Geburtstag von Erwin Chvojka herausgegeben werden kann. Dieser enthält Gedichte aus den Jahren zwischen 1941 und 1946. Im Jahre 1947 wird Th.K. der Ehrenring der Österreichischen Liga für die Vereinten Nationen zuerkannt.
In England zunehmend isoliert und schwer krank, erleidet Th.K. in den 1950er Jahren oft Nervenzusammenbrüche, die mehrfach in Sanatoriumsaufenthalten enden. Diese bilden den Erfahrungshintergrund für eine unablässig andauernde Gedicht-Produktion. Auch ist eine umfangreiche Briefkorrespondenz u. a. mit Hilde Spiel, Harry Zohn, Michael Guttenbrunner, Kurt Blaukopf, Anna Krommer, Hedwig Stadelmann, Jhann Muschik und Erwin Chvojka, aus dieser Zeit erhalten. Th.K. hat nicht mehr die Kraft seine lyrische Produktion zu sichten oder gar neue Sammlungen zusammen zu stellen. 1951 wird er britischer Staatsangehöriger. 1956 gibt sein Freund Michael Guttenbrunner eine Auswahl von Gedichten „Vom schwarzen Wein“ im Salzburger Otto Müller Verlag heraus.
Nach langer Vorarbeit gelingt es schließlich einigen Freunden und Bewunderen Theodor Kramers, darunter dem Staatssekretär im österreichischen Außenministerium Bruno Kreisky, der sowohl beim Unterrichtsministerium sowie bei Bundespräsidenten Adolf Schärf interveniert, den schwerkranken und depressiven Lyriker im Herbst 1957 nach Wien zurückzuholen. Der finanziellen Unterstützung und Würdigung Theodor Kramers dient auch die Verleihungen des Preises der Theodor-Körner-Stiftung in den Jahren 1956 und 1957. Die Ehrenpension des Bundespräsidenten kann Th.K. jedoch nur drei Monate lang in Anspruch nehmen, bevor er am 3. April 1958 stirbt. Posthum wird ihm der Literaturpreis der Stadt Wien des Jahres 1958 verliehen. Th.K. findet seine letzte Ruhestätte in einem Grab „in bevorzugter Lage“ auf dem Wiener Zentralfriedhof. Dieses wird in den 1990er Jahren in ein Ehrengrab der Stadt Wien umgewidmet.
Th.K. hatte zuletzt noch Erwin Chvojka als Nachlassverwalter eingesetzt. Dieser hat sich in Folge um das Werk Theodor Kramers verdienstvoll angenommen: ihm sind mehrere Ausgaben von Gedichtbänden und die Herausgabe der Gesammelten Gedichte in drei Bänden zu verdanken. Th.K. hat an die 12.000 Gedichte geschrieben, wovon über 2.000 publiziert wurden. Erwin Chvojka, der am 12. Jänner 2013 verstorben ist, hatte noch im Sommer 2012 den Nachlass Theodor Kramers, „der zum großen Teil noch in den acht Originaltransportkisten von 1957 und einigen Reisekoffern“ (Pressemeldung der ÖNB, Juli 2012) aufbewahrt wurde, dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek als Schenkung vermacht.
(Alexander Emanuely)