Max Winter
Exil: 1934, USA
Vater: Julius Josef W. (1839 - 1907), Beamter der Südbahn. Mutter: Hildegarde, geb. Schniderschitsch (1841 - 1883). M.W. war der mittlere von drei Söhnen. 1873 übersiedelte die Familie nach Wien, die Mutter trug als Modistin zum Unterhalt der Familie bei. 1876 Besuch der Volksschule, anschließend k.u.k. Staatsgymnasium im 3. Bezirk. Wegen schlechter schulischer Leistungen trat er nach der 4. Klasse aus. 1886-87 kaufmännische Lehre. Erste journalistische Arbeiten u.a. für "Neues Wiener Journal". Mitglied der SDAP. 1895-1930 Redaktionsmitglied der AZ. M.W. revolutionierte und perfektionierte die Sozialreportage, schlüpfte für seine Recherche vor Ort in verschiedene Rollen, u.a. war er Bettgeher, Kanalstrotter, Hopfenpflücker, um so ein Höchstmaß an Authentizität zu gewinnen. Während seiner Tätigkeit für die AZ verfaßte er über 1.500 Sozialreportagen. Autor gesellschaftskritischer Theaterstücke: Zs. mit → St. Großmann "Eine gesunde Person" (1905) und "Bettelleut" (1907). Mitbegründer der "Freien Schule", die um eine Reform der Schulgesetze sowie der Unterrichtspraktiken kämpfte. 1908 erste Kandidatur für den Wiener Landtag. 1911-14 Reichstagsabgeordneter. 1919 heiratete er Josefine Lipa, mit der er bereits seit 1897 auf Grundlage eines privaten Vertrages zusammenlebte. 1919-23 Vizebürgermeister von Wien und Stadtrat für Wohlfahrt. Sein großes soziales Engagement für Kinder führte schließlich zur Gründung der "Kinderfreunde" in Wien. In einem Trakt des Schlosses Schönbrunn, das nach 1918 in den Besitz der Republik Ö. übergegangen war, richtete M.W. 1919 das "Kinderheim Schönbrunn" ein und eröffnete 1920 die erste Erzieherschule der Kinderfreunde. 1923 zog sich M.W. von der Gemeindepolitik zurück und gründete, ursprünglich zu Wahlkampfzwecken, "Die Unzufriedene", eine Zeitschrift für Frauen, die sich als Wochenblatt etablierte und seiner redaktionellen Leitung unterstand. Im Verlag der "Unzufriedenen" erschienen die "Wiener Groschenbüchel", von M.W. ausgewählte Texte, die einen billigen Zugang zur Literatur eröffnen sollten. 1925 erster Vorsitzender der Sozialistischen Erziehungs-Internationale und Bundesobmann der Kinderfreunde; vehementer Gegner der Prügelstrafe an Kindern. Mitbegründer des Verlages "Jungbrunnen". Gegen eine Haßpredigt des Linzer Erzbischofs Piffl, der den "Kinderfreunden" "einen Mühlstein an den Hals" wünschte, regte M.W. eine sehr erfolgreiche Geldspendenaktion an, durch die für jeden sogenannten "Mühlstein" die Grundausstattung einer Kinderbücherei gekauft werden konnte. - Ausgedehnte Reisen u.a. nach Südamerika. 1925-30 Bundesrat. 1930 zum "Bürger von Wien" ernannt.
M.W. verließ Ö. am 15.2. 1934, er reiste nach NY zu einer schon länger geplanten Vortragsreise. Ankunft in NY am 28.2. 1934. Am 4.3. 1934 Ansprache in der Carnegie Hall vor 3.000 Menschen, in der er scharfe Kritik am austrofaschistischen Regime übte, was Ende 1934 zum Anlaß seiner Ausbürgerung werden sollte. Sammelte Geld für seine Partei, versuchte zugunsten inhaftierter Genossen zu intervenieren. Artikel für "New Leader" und "World Tomorrow". Juli 1934 Umzug nach Hollywood, zunächst über die US-Sozialpolitik begeistert. Kolumne "Film Klatsch" bei "Jewish Daily Forward". Ende 1934 Ausbürgerungsbescheid mit der offiziellen Begründung: österreichfeindliche Handlungen.
M.W.s Versuche, als Journalist sein Auskommen zu finden, scheiterten. Auch seine Bemühungen im Filmgewerbe Fuß zu fassen, blieben ohne Erfolg. Er schrieb Drehbücher für Charlie Chaplin und Max Reinhardt, bewarb sich bei Warner Brothers und MGM. Schließlich bot er sich Kindergärten und Supermärkten als Märchenerzähler und Vortragender an. Erfolgreicher war er ab Oktober 1935 mit der "Californische(n) Korrespondenz", später "Cosmopolitische(n) Korrespondenz"; ein für europäische Zeitungen gedachter Informationsdienst im Umfang von zwei Feuilletons und vier bis acht Notizen pro Monat, Beschreibungen des "american way of life". Enttäuschend war für M.W., daß seine Überzeugungen in den USA als weltfremde Illusionen abgetan wurden. Ab 1936 verschlimmerte sich sein Gesundheitszustand, vereinsamt starb er 1937 in einem Krankenhaus in Los Angeles. Am 17.9. 1937 wurde er am Matzleinsdorfer Friedhof in Wien beerdigt. Obwohl der Begräbnistermin nicht bekanntgegeben werden durfte, nahmen Tausende Menschen daran teil. - NL: Kammer für Arbeiter und Angestellte, Sozialwissenschaftliche Dokumentation, Wien.
Werke
Im dunkelsten Wien. Wien u.a.: Wiener Verlag 1904. 152S.
Im unterirdischen Wien. Berlin: Seemann 1905. 77S.
Das goldene Wiener Herz. Berlin, Leipzig: Seemann 1905. 96S.
Der Fall Hofrichter. Aus dem Notizbuch eines Journalisten. München: Langen 1910. 198S.
Das Kind und der Sozialismus. Eine Betrachtung. Berlin: J.H.W. Dietz Nachf. 1924. 135S.
Höhlenbewohner in Wien. Brigittenauer Wohn- und Sittenbilder aus der Luegerzeit. Wien: Vorwärts 1927. 104S. (Wiener Groschenbüchel der unabhängigen Wochenschrift "Die Unzufriedene". 14/15).
10 Jahre Erinnerungsbilder aus dem Werden des Vereins "Freie Schule - Kinderfreunde" von den Anfängen bis zum 10jährigen Gründungstag des Reichsvereins. Wien: Jungbrunnen 1927. Mit Abb. 63S.
Die lebende Mumie. Ein Blick in das Jahr 2025. (Roman.) Berlin: E. Laub 1929. 254S.
Geschichten aus dem Freundschaftsland. Hg. von der Landesgruppe Wien "Freie Schule - Kinderfreunde". Wien: Jungbrunnen 1946. 32S.
Das schwarze Wienerherz. Sozialreportagen aus dem frühen 20. Jhd. Hg. von Helmut Strutzmann. Wien: Österr. Bundesverlag 1982. 164S.
Arbeitswelt um 1900. Texte zur Alltagsgeschichte von M.W. Hg. von Stefan Riesenfellner. Wien: Europaverlag 1988. 293S. (Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Materialien zur Arbeiterbewegung. 49).
Expeditionen ins dunkelste Wien. Meisterwerke der Sozialreportage. Hg. von Hannes Haas. Wien: Picus 2006. 282 S.
Sekundärliteratur
St. Riesenfellner: Der Sozialreporter: M.W. im alten Ö. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1987. 278S. (Mit einer Bibliographie der Broschüren und Bücher M.W.s).
Gabriele Selbherr: M.W. - Sein Wort sprach für Freiheit und Recht. Seine Feder diente den Enterbten. Sein Herz aber schlug für die Kinder. Diplomarbeit, Wien 1995. 169S. (Ausführliche Bibliographie der Zeitungsartikel von 1895-1933, Auflistung der Nachlaßbestände).
Aus: Siglinde Bolbecher/Konstantin Kaiser: Lexikon der Österreichischen Exilliteratur. Wien: Deuticke Verlag 1999,701-703
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