Theodor Kramer Gesellschaft

Menü

Editorial
Exil und Widerstand, international

Ich bitte um Nachsicht für das späte Erscheinen des vorliegenden Heftes, mit dem der 35. Jahrgang von Zwischenwelt abgeschlossen wird.  (Hatte auch gesundheitliche Gründe, doch nichts Dramatisches.) Ab April 2019 wird das Register der Jahrgänge 1-35 auf www.theodorkramer.at abrufbar sein, wo jetzt nur die ersten 30 Jahrgänge erschlossen sind. Später einmal, hoffe ich, wird eine thematische Erschließung folgen.
Eben lese ich, heute, Anfang Februar 2019, daß Paris seinen  Botschafter aus Rom abzieht, aus Protest gegen die Einmischung von Mitgliedern der italienischen Regierung in die inneren Angelegenheiten Frankreichs, hatte doch der italienische Innenminister Matteo Salvini die Franzosen u.a. aufgefordert, sich von ihrem "sehr schlechten Präsidenten" Emmanuel Macron zu "befreien" - als säße im Élysée-Palast ein kleiner Tyrann, der sein Volk knechtet. Nun ist eine Massenflucht verfolgter Franzosen nach Italien doch eher unwahrscheinlich; das Umgekehrte, Massenflucht politisch Verfolgter aus Italien nach Frankreich, hat es in den 1920er Jahren jedenfalls schon gegeben.
Man spricht von 300.000 politischen Flüchtlingen in der Zeit des Mussolini-Faschismus; die genaue Anzahl läßt sich kaum feststellen. Von den vielen italienischen ArbeiterInnen in Frankreich, heißt es, hätten zumindest 100.000 Italien aus politischen Gründen verlassen. Frankreich sei neben Österreich und der Schweiz das bevorzugte Ziel der Verfolgten gewesen. In den genannten Ländern bildeten sich die ersten Ansätze einer organisierten Opposition im Exil. Zwischen 1926 und 1927, nach dem Erlaß der faschistischen Ausnahmegesetze, begann der Exodus der bekanntesten Antifaschisten, der Intellektuellen und der führenden Politiker. Sie formierten sich, im Idealfall in Verbindung mit dem politischen Untergrund in Italien, für die nächsten 17 Jahre, um vor allem zwei Aufgaben zu erfüllen: zum einen die Weiterführung des politischen und ideologischen Kampfes gegen den Faschismus, die Sicherung des Fortbestandes der Oppositionsparteien und die Vorbereitung eines bewaffneten Widerstandes; zum anderen die Aufgabe, vor aller Welt Zeugnis von einem anderen Italien als dem der willfährigen Funktionäre und der Schwarzhemden abzulegen. Die Früchte dieses langen und schwierigen Kampfes wurden dann zwischen 1943 und 1945 geerntet, als sich das ganze bessere Italien zu den Exilierten, den Verurteilten, den UntergrundkämpferInnen und zu den Opfern des Faschismus bekannte.
Man merkt es vielleicht gleich: Ich habe den vorigen Absatz einigermaßen flüchtig aus einer italienischen Quelle übersetzt. Mich interessiert nicht so sehr, ob die hier gegebene Darstellung in jeder Hinsicht zutreffend ist, als vielmehr die sich daraus ergebenden Fragen. Gab es eine italienische Kultur des Exils, wer waren - außer Ignazio Silone - ihre RepräsentantInnen? Welche Rolle spielte das innere Exil, womit nicht die "Innere Emigration" gemeint ist, sondern die Verbannung an entlegene Orte, wie sie einem Cesare Pavese widerfuhr? Existierte im Österreich vor 1933/34 tatsächlich ein Zentrum italienischen antifaschistischen Exils? Wie stand es um die Verbindungen des italienischen Exils mit den anderen Exilen, so dem spanischen, etwa im Rahmen des MOI, der Main-d'Œuvre Immigré, in der französischen Illegalität? Erlangten die aus dem Exil Zurückgkehrten im Nachkriegsitalien tatsächlich maßgeblichen Einfluß?
Im Grunde kann man diese Fragen in leicht abgewandelter Form zu allen den großen und kleinen Exilen aus den vom Nationalsozialismus und Faschismus beherrschten Ländern Europas stellen. Um Fragen zu stellen, muß man sich aber um Kenntnisse bemühen, die uns leider vielfach fehlen. Deshalb widmet die Gesellschaft für Exilforschung e.V. in Kooperation mit der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung ihre Jahrestagung 2019 der Thematik "Exil(e) und Widerstand" - siehe den Aufruf dazu auf S. 62 des vorliegenden ZW-Heftes.
Ein wesentliches Motiv, die Erforschung von Exil und Widerstand zu internationalisieren, liegt im latent und offen ausgetragenen Streit um die "Gründungsmythen" der Europäischen Union. Während die einen die Überwindung und Ablehnung jeglicher Form des Totalitarismus (gleich ob stalinistischer oder nazistischer Prägung) als für die Europäische Union grundlegend ansehen, betrachten andere die Überwindung des Nationalstaats als Daseinsgrund und Zweck, als Prinzip der Union. So sehr man den edlen Absichten der einen wie der anderen gerne beipflichten möchte, darf man nicht übersehen, daß eine Europäische Union samt ihren Vorläufern (Montanunion, EWG, EFTA, EG) nur aufgrund der letztlich erfolgreichen Anstrengungen, die sogenannten Achsen-Mächte niederzuwerfen, möglich wurde. Und zu diesen Anstrengungen haben die Widerstandsbewegungen in vielen Ländern, aber auch die Exile aus diesen Ländern wesentlich beigetragen. Sie aber kämpften meist um Wiedererlangung nationaler Selbstbestimmung und demokratische und soziale Rechte auf der Grundlage eines wieder herzustellenden Nationalstaates im Rahmen eines im Frieden vereinten Europa. Insofern war der antifaschistische Widerstand, ob nun in Polen, Frankreich, Katalonien oder Österreich, "nationalistisch".
Man kann diese Vorgeschichte verleugenn und eine passendere erfinden - von Nutzen ist das nicht. Ich halte die Alternative "Nationalstaat" oder europäische "Föderation" für eine falsche, bin weder für ein Europa der "Vaterländer" noch der "Regionen". Ich bin für ein Europa der Widersprüche. Da fühle ich mich zwar nicht geborgen, aber zuhause.

Doch gilt es, neben dem aufs Große und Ganze zielenden Widerstand, bestraft als Hochverrat, als "Versuch der Lostrennung eines zum Reiche gehörigen Gebietes", die großen Taten des kleinen Widerstandes zu würdigen, bestraft nach dem Heimtückegesetz, als Desertion, als "Feindbegünstigung". Es wäre verfehlt, ihn als bloß spontanes Reagieren abzutun, haben doch solche Akte der Empörung und der Anteilnahme individuelle Vorgeschichten und ihre Bedingtheit durch soziale Umgebung, Tradition und Kultur. Als Widerstand wären auch die Bemühungen Exilierter anzusehen, ihren als Juden verfolgten Angehörigen und Freunden die Flucht aus dem Machtbereich Hitlers zu ermöglichen. Meines Wissen wurde diese Form von Widerstand zwar vielfach punktuell recherchiert, aber nicht zusammenhängend erforscht.
Konstantin Kaiser