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Konstantin Kaiser

Editorial: Der bequeme Mythos vom "Opfer-Mythos"

Ja, der Opfer-Mythos. So viele hochintelligente, kluge, beherzte Leute reden und schreiben immer wieder von ihm und jede/r scheint zu verstehen, was damit gemeint ist. Ich habe ja selbst einiges über österreichische Nachkriegsgeschichten geschrieben, so über die Rezeption des Exils in Österreich, über die Dämonisierung des Nationalsozialismus, über Massenwahntheorien, über Rekatholisierung und Entideologisierung, die Ideologie des Kleinen Mannes und fortwirkenden Antisemitismus, das macht inklusive „Österreich-Ideologie“ (das Erbe des Ständestaates) ein ganzes Bündel von ideologischen und geistigen Prozessen verschiedener sich überlagernder Art aus, und ich bin ohne das Wort vom Opfer-Mythos ausgekommen. Das hat und hatte zum Ersten den Grund, dass man mit einem Mythos nichts erklären kann; man kann sich allenfalls mit einem Mythos entschuldigen, man sei so lange im archaischen Banne dieses Mythos gestanden, und so sei geschehen, was geschehen musste. Für die politisch Verantwortlichen der ersten Nachkriegsjahrzehnte ist und bleibt der Opfer-Mythos oder besser der Mythos vom Opfer-Mythos eine bequeme Lösung: Nun ist der Sache nicht mehr weiter nachzugehen, man habe mit und seit der Entlarvung des Kurt Waldheim im Jahre 1986 erkannt, auf dem falschen Weg gewesen zu sein. Österreich und ÖsterreicherInnen seien sehr wohl mitschuldig an dem unter dem Regime des Nationalsozialismus Geschehenen und man dürfe sich nicht unter Berufung auf „Österreich als erstes Opfer“ vor der Verantwortung drücken. Die Behauptung, die eigentlich nur faustdicke Lüge wäre, daß ÖsterreicherInnen keine große Schuld auf sich geladen hätten, weil, staatspolitisch gesehen, Österreich doch ein "Opfer" war, entbehrt der mythischen Dimension: Nichts gärt da im Verborgenen und will sich schicksalhaft offenbaren. Also einfach eine Lüge, für manche eine „Lebenslüge“ der österreichischen Nation, die ohnehin nur erfunden wurde, sich aus der deutschen Misere fortzustehlen. Wo aber ist da der Mythos? Ist der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich im März 1938 ein Phantasiegebilde? Ein Wolkengebräu? Oder wurden die deutschen Soldaten vom anschlussgeilen Österreich zu einem Betriebsausflug in die Ostalpen eingeladen? War also keine Brechung eines Willens mit Gewalt mit im Spiel?
Das Diffuse am Mythos vom Opfer-Mythos verleitet nicht gerade zum Nachdenken. Wenn man einmal einen Mythos gelten läßt, statt sich schnurstracks um seine Aufklärung zu bemühen, gerät man leicht in trübe Verallgemeinerungen wie die der „Tätergeneration“ oder beginnt auf völlig irrationalistische Weise die Gräuel des nationalsozialistischen Massenmordens als unvorstellbar, unbegreiflich, unerklärlich zu bezeichnen. Und zugleich ruft man „Nie wieder!“ (eine Selbstverständlichkeit, die durch die monotone Wiederholung der Forderung eher in Frage gestellt als bestärkt wird) und „Niemals vergessen!“ Wer ernsthaft am „Nie wieder“ interessiert ist, sollte sich nicht mit der Singularität der Ereignisse zufrieden geben, sondern alles tun, um ihre Ursachen zu begreifen. „Wehret den Anfängen!“ hat rückblickend schon bei dem zu beginnen, was wir heute teils beschönigend, teils denunziativ als „protofaschistisch" bezeichnen. Alle die abfälligen Globaldiagnosen von der Verkommenheit Österreichs wischen mit großer Geste alles vom Tisch, was doch an Widerstand in diesem Lande und vielfältigen Bemühungen um Aufklärung und durch Initiativen einer Erinnerungskultur geleistet wird. Auch die Ermöglichung solcher Gesten narzisstischer Selbstinzenierung geht auf das Konto des bequemen Mythos vom Opfer-Mythos. Selbstredend wissen die Leute, die so großzügig über die Verdienste anderer hinwegsehen, nichts über die weltweiten Anstrengung von österreichischen Exilierten, den Alliierten die Wiederherstellung eines freien und unabhängigen Österreich als Kriegsziel zu suggerieren. Von Österreich als „Erstem Opfer“ schrieben schon 1939 österreichische Exilzeitschriften in Frankreich; die MitarbeiterInnen dieser Zeitschriften fanden sich später als MitkämpferInnen der französischen Résistance im Untergrund; einer von ihnen war Felix Kreissler, der in Lyon von der Gestapo gefoltert wurde und die deutschen KZs überlebte. Er schrieb ein dickes Buch: „La prise de la connaissance nationale autrichienne“ über die eng mit demokratischen Bewegungen verbundene Entwicklung eines österreichischen Nationalbewußtseins. Nicht aus der Opferrolle leitete er sein Österreich ab, sondern aus der Intelligenz und Tatkraft seiner BewohnerInnen. Also bitte: Lüge, Vertuschung, Heuchelei, aber Mythos – war und ist es keiner.

Nachtrag zum Editorial zu Heft Nr. 3a/2020. Wie ich höre, spielt die Aktion für Deutschland (AfD) nun auch mit dem Gedanken eines „bedingten Grundeinkommens von sage und schreibe Euro 500,-, allerdings ausschließlich und hiermit  nationales und soziales „Anliegen“ verbindend – als „Staatsbürgergeld“ für Deutsche.  Dahin-termacht sich der aus der Geschichte bekannte „Staatsangehörige“ zum Einsatz bereit. – Dass die rechtsextreme AfD diese Forderung diskutiert, kann die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens noch nicht desavouieren, zeigt bloß, dass die extreme Rechte in die  aufgerissene  Lücke  vorzustoßen  sucht.  Gespart  werden  soll  hingegen bei der allgemein zugänglichen Sozialhilfe.

Nachtrag zum Begriff „Opfer“. Die Gestimmtheit, sich als „Wir sind immer nur die Opfer“ zu fühlen war schon seit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges in Österreich stark ausgeprägt. Wer so denkt oder spricht vollzieht einen Austritt aus der Geschichte: Auf ihren Verlauf kann man ohnehin keinen Einfluß nehmen. Insofern erweist sich eine enge Verwandtschaft der Opfer-Phrase mit der Ideologie des Kleinen Mannes, die in der österreichischen Literatur und Kultur sehr verbreitet ist.

 

Publikationshinweis

In den USA ist jetzt Helmut G. Aspers ausführliches Interview mit der Wiener Schauspielerin und Künstlerin Fini Rudiger erschienen: [Interview with] Fini Rudiger-Littlejohn (1914 – 2004) [1986/87] In: Didier Ghez (ed.): Walt’s People vol. 24. Theme Park Press (USA), 2020, p.83-128, 285-287. [Text Englisch]Das ausführliche mehrstündige Interview mit Fini Rudiger-Littlejohn hat Asper 1986/87 geführt. Fini Rudiger erzählt darin über ihre Jugend in Wien und Berlin, über ihre künstlerische Ausbildung an der Wiener Kunstgewerbeschule, ihre frühe Theater- und Filmkarriere in Wien und über ihre Emigration 1937 in die USA. Sie berichtet über ihre Erlebnisse erst in New York und dann in Los Angeles, über ihre Schaufenstergestal-tung bei verschiedenen Stores und ihre Kinderbuchillustrationen und vor allem über ihre Zeit im Character Model Department im Disney Studio 1939/40.