Alexander Emanuely
Luegers antisemitischer Terrorismus
Ein dokumentarischer Beitrag zur Diskussion rund um das Lueger-Denkmal
In den 1880er und 1890er-Jahren erfuhren in ganz Europa antisemitische Parteien und Gruppierungen einen Aufschwung, wurden rassistische Theorien und Verschwörungsmythen konstruiert, herrschte ein teils staatlich tolerierter antisemitischer Terror. Im Zarenreich kam es, ausgelöst durch die Ritualmordlegende, ab 1881 zu zahlreichen Pogromen, denen tausende Menschen zum Opfer fielen. In Frankreich konnte ein Édouard Drumont für seine gewaltbereite Antisemitische Liga 500.000 Mitglieder gewinnen, wurde Alfred Dreyfus verurteilt. In Österreich-Ungarn verurteilte ein Gericht den Schuhmachergesellen Leopold Hilsner wegen „Ritualmordes“ zum Tode. Nur dank der Intervention Tomáš Masaryks und anderer namhafter Intellektueller und Politiker wurde er nicht hingerichtet. Die Galionsfiguren der Antisemiten im deutschsprachigen Teil Österreich-Ungarns waren der deutschnationale Georg Schönerer und der christlichsoziale Karl Lueger. Die beiden Politiker sind für unzählige Gewaltakte gegen Juden und Jüdinnen verantwortlich, so auch im Jahr 1895.
Der drei Prozent Bürgermeister
Im Herbst 1895 wurde der Wiener Gemeinderat gewählt. Die von Lueger initiierte „Antiliberale Wahlgemeinschaft“, in manchen Zeitungen auch kurz Partei der Antisemiten genannt, bestehend aus Deutschnationalen und Christlichsozialen, trat an, um die bisher regierende liberale „Fortschrittspartei“ zu stürzen.
In Wien lebten um 1890 über 1,4 Millionen Menschen, davon waren 1895 ca. 70.000 Männer wahlberechtigt. Das Wiener Zensuswahlrecht kannte drei Wahlkörper, die jeweils 46 Mandatare in den Gemeinderat entsandten. 66.644 Wiener nahmen im September 1895 an der Wahl teil. Wahlberechtigt war man, wenn man mindestens eine Steuerleistung von 5 Gulden pro Jahr aufbringen konnte. Wenn man dann auch noch 24 Jahre alt und männlich war, wurde man für den Dritten Wahlkörper zugelassen. In Wien lebende Beamte, akademische Lehrkräfte, Offiziere, Ehrenbürger mussten, laut Gemeindewahlordnung von 1890, keine Steuerleistung nachweisen, um wählen zu dürfen. Für den Ersten Wahlkörper lag die Mindeststeuerleistung bei 200 Gulden, für den Zweiten bei 30 Gulden. Die Wahlbeteiligung lag bei über 90%. Vom Ersten Wahlkörper schritten 4.099 Stimmberechtigte zu den Wahlurne, vom Zweite 20.167, vom Dritten 42.378. Von den abgegebenen Stimmen des Ersten Wahlkörpers kamen 1.420 auf Lueger, von jenen des Zweiten Wahlkörpers 11.079 und von jenen des Dritten 31.277. 22.868 Wähler stimmten insgesamt für die Fortschrittspartei, die 42 Gemeinderäte stellte. 43.776 Wähler stimmten für die Antisemiten, deren 92 Gemeinderäte Karl Lueger schließlich zum Bürgermeister wählten.
Es ist bemerkenswert, wie gerne oft übersehen wird, dass gerade einmal drei Prozent der in Wien lebenden Menschen Karl Lueger zum Bürgermeister gewählt haben, genauso wie übersehen wird, dass neben der antisemitischen Demagogie des Luegers ebenfalls, wie im folgenden Bericht aus der Ausgabe vom 21. Juli 1895 der Wochenzeitschrift „Freies Blatt. Organ zur Abwehr des Antisemitismus“* zu lesen ist, dessen Wahlvolk mit heftiger Brutalität vorging.
Zum Wahlkampfe
Eine der traurigsten publicistischen Aufgaben, welche uns werden konnte, ist wohl die, die Wiener Chronik der letzten Woche zu schreiben: brutale Excesse der Antisemiten Tag für Tag, Gewaltthätigkeiten nicht nur gegen Juden, sondern auch gegen Christen, welche noch den Muth haben, sich gegen den Antisemitismus zu erklären, Gewaltthätigkeiten, welche sich nicht mehr gegen die Person allein kehren, sondern unmittelbar gesetzlich gewährleistete Rechte ganzer Gruppen zu unterdrücken streben, Straßenkrawalle und Terrorismus, das ist die Signatur der letzten Tage. Saybusch* in Wien.
Die noch nie dagewesene Hetze, welche Dr. Lueger seinen Wählern als Ersatz für den Entgang einer Sommerfrische versprochen hatte, ist in floribus. Organisirte Banden betreiben sportmäßig das Sprengen nichtantisemitischer Versammlungen, mit unerhörtem Cynismus wurde die Parole ausgegeben, die politischen Gegner überhaupt nicht zu Worte kommen zu lassen, und als es den Liberalen neulich trotz alledem gelang, im „Lanner-Saale“* eine Versammlung bis zum Schlüsse abzuhalten und die andrängenden Sturmhorden der Antisemiten siegreich zurückzuschlagen, da beklagten sich diese in der perfidesten Weise, als wäre der Hausfriedensbruch ihr Recht, und ihnen die Ausübung dieses guten Rechtes verkümmert. Am Orte der Versammlung, die eher einem Kriegsrath in einer cernirten Festung glich, kam es zu den unerhörtesten Ausschreitungen, auf die Juden und „Judenknechte" wurde in deutscher Zunge Hrom a peklo* gesungen, ahnungslose Passanten wurden angefallen, die die Versammlung verlassenden Liberalen bespieen, verhöhnt, gepufft und geschlagen, und nur der Umsicht der Polizei war es zu danken, daß die verhetzten und mit Freibier bezechten Kumpane den vor dem Versammlungslocale ausgegebenen Schlachtruf „Schlagt's die Juden todt!" nicht sofort verwirklichten. Allein der Groll über die Vereitelung ihres Vorhabens, den Terreur gegen alle Andersgesinnten auszurichten, brennt den Kerlen auf der Seele, sie empfinden es wie eine Schmach, das geplante Verbrechen an der Freiheit der Meinung nicht ausgeführt zu haben, und aufgehetzt durch die geifernde Wuth der ihnen gesinnungsverwandten Presse, schleichen diese socialen Brandleger mit der weißen Nelke und der blauen Cyane im Knopfloch* nun durch die ganze Stadt und zündeln mit der Brandfackel des Aufruhres, wohl wissend, daß die öffentliche Meinung wie ein Ballon mit explosiven Gasen bis zur Expansionsgrenze erfüllt sei, und daß ein Funke hinreiche, um einen furchtbaren Eclat zu bewirken.
Am Montag fielen vier berauschte Handwerksgesellen (von denen sich wenigstens einer bereits vor der Polizei als bezahlter Scandalmacher vor dem Lanner-Saale entpuppt hat) in ein Café am sogenannten „Salzgries“ ein und schlugen den übrigens arisch-christlichen Cafetier als „Saujuden" blutig, weil er es gewagt hatte, den angetrunkenen Kumpanen das Billard zu versagen. Fast um die gleiche Stunde erscholl der Ruf: „Schlagt's die Juden todt!" auch in der Judengasse; es kam zu einem höchst bedrohlichen Menschenauflauf, der sich erst verlief, als Organe der öffentlichen Sicherheit durch ihr Erscheinen den Muth der antisemitischen Thatpropagandisten auf eine allzu harte Probe stellten. Tags vorher hatte sich bei Klosterneuburg ein Hundert antisemitischer Turner das echt germanische Vergnügen gestattet, einen einzelnen Menschen, einen harmlosen jüdischen Studenten, welcher von der Neugierde angelockt dem Turnfeste zusehen wollte, wie einen Hasen vor sich herzujagen mit dem tröstlichen Zurufe: „Werft's den Juden in die Donau!“ Auch hier rettete nur das rechtzeitige Eingreifen der Gendarmerie dem Ärmsten das Leben. Das sind nur so einige Bildchen aus dem Guckkasten der letzten Tage. Das Auge wendet sich entrüstet davon ab, es begehrt nicht mehr zu sehen, und fast fühlt man sich versucht, traurige Betrachtungen über die Degeneration der Menschheit anzustellen. Allein hiezu ist jetzt nicht Zeit. Wir müssen dem Gorgonenhaupt trotz alles inneren Widerstrebens ins Antlitz sehen, wir müssen die Gegenwart und Zukunft überblicken, und da wirft sich ganz von selbst die Frage auf: Welches wird die nächste Steigerungsstufe der leidenschaftlichen Erregung, der künstlichen Verhetzung sein, und wie wird man sich dieser gegenüber verhalten?
Vor Allem, was gedenkt die Regierung zu thun, um zu verhüten, daß eines Tages der blutgetränkte Böden des alten Wiener Ghetto sich am Ende des XIX. Jahrhunderts neuerlich von dem Blute der Juden roth färbe? Was gedenkt sie aber auch zu thun, um den antisemitischen Terrorismus zu brechen und uns, die nichtantisemitischen Nichtjuden, vor gleichen Gefahren wie die Juden zu bewahren? Ein paar Polizeimänner mehr oder weniger, früher oder später thun's nicht. Man heilt die Krätze nicht, indem man die Pusteln abschabt. Man bestrafe immerhin die unmittelbaren Thäter, das versteht sich von selbst, obwohl bisher die antisemitischen Excedenten scheinbar immer einen Schutzgeist mit sich führten und leider nur zu oft entkamen. Man gehe aber auch auf die näheren und entfernteren Ursachen zurück und dulde die Aufreizung zum Excesse, ja zum Judenmorde nicht länger! Was würde geschehen, wenn ein Arbeiter in seinen Kreisen die Aufforderung ergehen ließe, man solle die Bourgeoisie oder den Adel, kurzum einen bestimmten Theil der Gesellschaft austilgen, verbrennen? Pfarrer Deckert* that dasselbe gegen die Juden, und er wandert noch auf freiem Fuße? Er versieht noch eine öffentliche Stellung, ertheilt der Jugend die gewisse „sittlich-religiöse Erziehung" und genießt die Privilegien seines Standes? Was ist es mit der strafgerichtlichen Untersuchung, die nach dem Zeugnisse des früheren Ministerpräsidenten wider ihn eingeleitet wurde?
Ist sie mit dem Cabinet gefallen? Man sollte meinen, die Öffentlichkeit hätte ein Recht, zu erfahren, was es mit diesem Pfarrer Deckert denn eigentlich ist, jetzt umsomehr, da die Saat seiner Predigten aufzugehen beginnt. Wir stellen diese eindringlichen Fragen nur deshalb, weil es abermals heißt, die Polizei pflege im Auftrage des Landesgerichtes Erhebungen über die Vorgänge, welche sich innerhalb des Lanner-Saales und vor demselben am Tage der Scandalversammlung abgespielt haben, und die strafgerichtliche Untersuchung sei bereits im Gange. Auch die Attentäter vom Salzgries und der Judengasse sollen diesmal nach den Satzungen des Strafrechtes behandelt werden. Wir finden dies ganz in der Ordnung, wünschen aber auch, daß diese Untersuchungen nicht ebenso im Sande verrinnen mögen, wie die bereits zweimal gegen Deckert eingeleiteten.
Nichts liegt uns ferner, als in die correcte Haltung des Grafen Kielmansegg* irgend einen Zweifel zu setzen; allein so sehr wir an seine Fähigkeiten und seinen guten Willen glauben, müssen wir doch zugeben, daß es selbst ihm schwer sein wird, alle die Unterlassungssünden, welche seine Vorgänger aus diesem Felde begangen, sofort gutzumachen. Zudem reichen hier weder Repressiv, noch Präventionsmittel allein hin. Wie der Antisemitismus keine isolirte Erscheinung ist, sondern mit dem gesammten reactionären Millieu auf das Innigste und Untrennbarste verquickt ist, so kann sich auch die Abwehr dieses die gesellschaftlichen Grundlagen unterfressenden Übels nicht auf eine Bekämpfung der Krankheitssymptome beschränken; es muß – sollen diese dauernd verschwinden – mit den ewigen Concessionen an die Reaction, an die verschämten und unverschämten Hintermänner dieses Antisemitismus, es muß mit der ganzen sittlich-religiösen Heuchelei, mit der reformatorischen Lüge gebrochen und ein System inaugurirt werden, welches sich auf den wahren Freisinn der Bürger stützt. Ob Graf Kielmansegg der Mann dieses nothwendigen Systemwechsels ist und sein kann, wissen wir nicht. Wir gönnten ihm wohl diese historische Auszeichnung. Allein die nächste Entscheidung hierüber wird man sich denn doch nicht von Oben, sondern von Unten zu holen haben. In erster Linie wird es die liberale Bürgerschaft sein, welche bei den bevorstehenden Wahlen den Beweis zu erbringen hat, ob sie noch über einen genügend starken Anhang verfügt, und somit den maßgebenden Personen klar und unwidersprechlich vor Augen führt, daß auch die nöthigen Factoren vorhanden sind, um einen derartigen Systemwechsel inauguriren zu können.
Die entscheidende That zur Verhütung so trauriger und beschämender Ereignisse, wie die der letzten Tage, muß also von den freisinnigen Bürgern und ihren politischen Führern ausgehen.
Ihre nächste Pflicht ist es, mit Außerachtlassung allen Personenhaders und Sectengeistes dem antisemitischen Terrorismus die Stirne zu bieten und geeint zur Urne zu schreiten. Dann aber, wenn der Sieg sich an ihre Fahnen heftet – was bei voller Einigkeit unvermeidlich ist – dann wird es ihre nächste Pflicht sein, ihren Principien auch treu zu bleiben und nicht neuerlich in die alten Sünden zu verfallen, welche leider nur zu sehr an der Schaffung der heutigen Verhältnisse mitgearbeitet haben.
Einige Erläuterungen
Freies Blatt – Organ zur Abwehr des Antisemitismus. Im April 1892 erschien die erste Ausgabe der Wiener Zeitschrift „Freies Blatt – Organ zur Abwehr des Antisemitismus“. Mit einer Unterbrechung im Sommer 1896 kam die dem „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ nahe stehende Wochenschrift bis Mai 1897 heraus. Sie war das Pendant der zwischen 1891 und 1924 in Deutschland erscheinenden Zeitschrift „Die Abwehrblätter“. Herausgeber bis Sommer 1896, und wohl auch Autor dieses ungezeichneten Leitartikels, war der Schriftsteller und Politiker Ernst Viktor Zenker, der einige Jahre später Herausgeber von „Die Wage“ werden sollte, einer der wohl kritischsten Publikationen der Donaumonarchie. Zenker war wohl einer der schillerndsten Intellektuellen des Fin de siècle, hatte sich für die „Freie Schule“ genauso eingesetzt, wie während der Ersten Weltkriegs für den Frieden. In den 1920er-Jahren sollte er jedoch das politische Lager wechseln und zum virulenten Antisemiten werden.[1]
Der Wiener „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ wurde im Juli 1891 ins Leben gerufen, nachdem ein Jahr zuvor die gleichnamige Schwesterorganisation in Deutschland gegründet worden war. Im Gründungskomitee der österreichischen Organisation saßen Arthur Gundaccar Suttner, Ehemann und Mitstreiter Bertha Suttners, der ehemalige Bürgermeister Wiens Eduard Uhl, der Doyen der Wiener Medizinischen Schule Professor Dr. Hermann Nothnagel, dem Stefan Pollatschek mit seinem Roman „Pest“ ein Denkmal gesetzt hat. Erster Vereinspräsident war der kunstsinnige Graf und Pazifist Rudolf Hoyos-Sprinzenstein. Der Verein zählte bald 1.000 Mitglieder, 1895 waren es schon über 4.500.
Saybusch. Der aktuelle Name der ca. 40 Kilometer südlich von Auschwitz gelegenen polnischen Stadt lautet Żywiec. Saybusch fiel schon bei der ersten Teilung Polens 1772 an Österreich und gehörte bis 1918 zu Galizien, bzw. zwischen 1820 und 1850 zu Österreichisch-Schlesien. Da das Königreich Polen erst kurz vor seiner dritten Teilung und seine Auflösung einen Großteil der Juden und Jüdinnen diskriminierenden Gesetze aufhob, griffen diese Reformen in Saybusch nicht mehr, womit das Stadtrecht, welches die Ansiedlung von Juden und Jüdinnen untersagte, weiterhin gültig blieb. Auch das Stadtrecht Wiens kannte bis 1848 und während des Neoabsolutismus ähnliche antisemitischen Bestimmungen. Dieses „Gewohnheitsrecht“, wie die Stadtverwaltung von Saybusch argumentierte, stand jedoch ab 1867 im radikalen Widerspruch zum Staatsgrundgesetz Cisleithaniens, dass die bisher vielerorts gültigen Diskriminierungen, denen Juden und Jüdinnen ausgesetzt waren, aufhob. Die polnische Stadt kam in Folge immer wieder in die Schlagzeilen, da es zu brutalen Übergriffen auf Juden und Jüdinnen kam, die gedachten sich trotz widerrechtlicher Rechtslage in der Stadt anzusiedeln. Im März 1871 wurde eine Tuchfabrik in der Vorstadt vom Mob verwüstet, nachdem deren auf dem Fabrikgelände wohnender Werkführer mosaischen Glaubens Arnold Lion geheiratet hatte. Um die Gründung einer jüdischen Familie in der Stadt zu verhindern, stürmten am Morgen des 25. März hunderte Saybuscher das Haus und verletzten den Werkführer schwer. Aus der Garnison in Krakau musste das Militär anrücken. Auch im Mai 1895 gab es brutale Exzesse in Saybusch, auf diese bezieht sich auch der Beitrag. Der Anwaltsanwärter Dr. Sigmund Leser trat seine Stelle in einer Kanzlei der Stadt an und noch am Tag seiner Ankunft sprach sich herum, dass er Jude sei. An die 1.000 Menschen, die Stadt zählte damals 5.000 Einwohner:innen, erstürmten seine Wohnung. Einige wohlhabende Bürger hatten zuvor Freibier an die Gewalttäter ausschenken lassen. Dr. Leser konnte nur knapp der Meute entkommen. 14 Angreifer wurden in Folge angeklagt, zehn zu mehreren Wochen Kerkerhaft verurteilt. Einige Tage nach den „Judenkrawallen von Saybusch“ interpellierten im Reichsrat die der Fabier-Gesellschaft nahe stehenden, demokratischen Abgeordneten Ferdinand Kronawetter und Engelbert Pernerstorfer, der bald Sozialdemokrat werden sollte, beim Innenminister und beim Justizminister bezüglich der Vorfälle in der galizischen Stadt.
Lanner-Saal. Der Überfall auf die Wahlveranstaltung der Liberalen im Lanner-Saal, Ecke Rahlgasse, Mariahilfer Straße, am 13. Juli 1895 dürfte seitens der Christlichsozialen gut geplant gewesen sein. Während ca. 2.000 Parteigänger der Antisemiten auf der Rahlstiege zum Überfall bereit standen, koordinierten diesen vom Balkon im Saal aus die Christlichsozialen Reichsratsabgeordneten Ernst Schneider, Feinmechaniker, und Josef Scheicher, Priester, und der Wiener Gemeinderat Josef Gregorig, Hemdenerzeuger auf der Mariahilferstraße, alle drei virulente Antisemiten und enge Parteigänger Luegers.
Hrom a pelko bedeutet, aus dem tschechischen übersetzt, soviel wie Donner und Hölle. Gesungen wurden diese Worte in der Hymne der PanslawistInnen „Hej Sloveni“ (He! Slawe), welche wegen der Strophe manchmal auch „Hrom a pelko“ genannt wurde. Die Behörden Cisleithaniens verboten zeitweise dieses auf einem von Samo Tomášik 1834 geschriebene Gedicht basierende Lied. Kam es zu Versammlungen der Jungtschechen, zu Demonstrationen und in Folge zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, zumeist mit Deutschnationalen, wurde meist das Lied „Hej Sloveni“ angestimmt.
Weiße Nelke und blaue Cyane. Die weiße Nelke wurde von den Christlichsozialen als Erkennungszeichen getragen. Die blaue Cyane, bzw. Kornblume, war das Zeichen der Deutschnationalen, bzw. ist heute noch jenes der FPÖ.
Der katholische Pfarrer in Währing und Antisemit Joseph Deckert publizierte unzählige Schriften, in denen er versuchte die Ritualmordlegende zu belegen und zu beleben. Auch waren viele seiner Predigten antisemitische Hetze. Er zählte zu den Autoren der antisemtischen Zeitschrift „Correspondenzblatt für den katholischen Clerus Österreichs“. 1899 erhielt der Priester von Lueger, mit der „Goldenen Salvatormedaille“, eine der höchsten Auszeichnungen Wiens.
Der 1847 geborene Erich Graf von Kielmansegg war der Sohn des letzten Ministerpräsidenten des Königreichs Hannover Eduard von Kielmansegg. 1866 ging die Familie ins Exil nach Wien. Nach einem Studium der Rechtswissenschaften wurde Erich Kielmansegg 1870 Beamter. Bald war er Sekretär des Ministerpräsidenten Adolf Auersperg, der die Trennung von Kirche und Staat im Staatsgrundgesetz verankerte. Gegen dieses sollte Bürgermeister Luegers verstoßen, als er den Lehrbetrieb der von der Stadt betriebenen Volksschulen teils der katholischen Kirche anvertraute. Von 1889 bis 1911 war Kielmansegg fast durchgehend Statthalter von Österreich unter der Enns (Niederösterreich). Als solcher war er der Urheber einer modernen Verwaltungsreform, auch trieb er die Donauregulierung voran und ließ ua. den Donaukanal bauen. 1895 war er Ministerpräsident und Innenminister eines einige Monate lang amtierenden Übergangskabinetts, bzw. Beamtenministeriums. Als niederösterreichischer Statthalter versuchte Kielmansegg lange Lueger als Bürgermeister von Wien zu verhindern.
Das „christliche Volk“ befreien
Die antisemitische Hetze Karl Luegers ging ohne Abbruch auch nach seiner Wahl zum Bürgermeister weiter. Spätestens seit der Inszenierung von Joshua Sobols „Weiningers Nacht“ am Volkstheater 1988 kennt man, weil oft zitiert, Luegers im Programmheft abgedruckte Rede vom 20. Juli 1899 vor dem „christlich-sozialen Arbeiterverein“.[2] Vor der Versammlung sprach er davon, was alles in den „Händen der Juden“ sei, die Presse, das Kapital und das Großkapital, sprach vom „Terrorismus“ und von der „Vorherrschaft des Judentums“. Von dieser „Vorherrschaft“ wolle er das „christliche Volk“ befreien, welches „ärger verknechtet“ sei denn je.
Was jedoch nicht erwähnt wird, ist, dass die Wiener Sozialdemokrat:innen eine Protestveranstaltung gegen Luegers Auftritt vor dem „christlich-sozialen Arbeiterverein“ im Hotel „Englischer Hof“, Mariahilfer Straße 81, organisiert hatten. Der Demonstration schlossen sich schließlich 20.000 Menschen an. Sie richtete sich weniger gegen den antisemitischen Charakter der Veranstaltung, als vielmehr gegen den Widerstand Luegers die Wiener Wahlordnung zu reformieren. Somit blieb ein Großteil der Arbeiter weiterhin, und das bis 1918, von den Gemeinderatswahlen ausgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt durften in Cisleithanien alle 24-jährigen Bürger, die keine Steuerleistung erbrachten, also auch die Arbeiter, zumindest in einer fünften Kurie Abgeordneten zum Reichsrat wählen.
Spätestens 1911, inzwischen gab es bei den Reichsratswahlen das allgemeine Wahlrecht für Männer, konnte man sehen, dass ein Großteil der Wiener nichts von den christlichsozialen oder deutschnationalen Antisemiten wissen wollte. Von den 30 in Wien gewählten Abgeordneten für den Reichsrat waren 16 Sozialdemokraten, acht freisinnige Demokraten, darunter Julius Ofner, Paul Freiherr von Hock, Ernst Viktor Zenker, alle entschiedene Gegner der Antisemiten. Die Wiener Antisemiten konnten 1911 gerade einen Deutschnationalen und fünf Christlichsozialen Abgeordnete in den Reichsrat entsenden.
Dass Lueger eine „ungeheuere persönliche und politische Popularität“ genossen habe, wie Bruce F. Pauley behauptet[3] oder, wie Carl E. Schorske schreibt, dass er den „Respekt der Massen“ für sich gewinnen hatte können,[4] entspricht meines Erachtens nicht der Realität. Vielmehr basieren Behauptungen, Lueger habe Mehrheiten oder Massen hinter sich gehabt, auf einer marketingtechnisch gut ausgearbeiteten Mythenbildung, laut der Lueger übrigens auch ein großer Reformer gewesen sein soll. Die Schlägertrupps der Christlichsozialen passen jedenfalls nicht zum Bild, dass Luegers Antisemitismus nur demagogisch, also irgendwie nur verbal, und strategisch eingesetzt, populistisch gewesen sein soll. Luegers Antisemitismus kam nicht ohne Einsatz von Gewalt aus, unterschied sich kaum von jenem Schönerers, Drumonts, und bewirkte, wie u.a. Albert Fuchs feststellte, dass „[…] die Verrohung mancher Volksteile, die durch seine Hetze herbeigeführt wurde, […] eine der Vorbedingungen für den Masseneinfluß, den nachmals der Nationalsozialismus in Österreich gewann“ war.[5]
Anmerkungen
- ^Alexander Emanuely: Das Beispiel Colbert. Fin de siècle und Republik oder die vergessenen Ursprünge der Zivilgesellschaft in Österreich. Wien 2020, 181f
- ^Joshua Sobol: Weiningers Nacht. Herausgegeben von Paulus Manker. Wien 1988, 145-146
- ^Bruce F. Pauley: Eine Geschichte des österreichischen Antisemititsmus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung. Wien 1993, 76
- ^Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle. Wien, Graz, Klagenfurt 2017, 155
- ^Albert Fuchs: Geistige Strömungen in Österreich 1867-1918. Wien 1978, 60