Theodor Kramer Gesellschaft

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Margarete Petrides

Wir kennen uns!

Gedichte

Luxusarbeit

Das Abendkleid der Frau Baronin Holm
Ist an der linken Hüfte um zwölf Millimeter länger:

„Wenn Sie so ungenau sind, Frau Marie,
Kann Sie der Chef nicht brauchen“, sagt die Directrice.

Sie sieht betroffen ihre Arbeit an
Und setzt sich schweigend hin, den Fehler zu verbessern.

Sie hat es schwer. Der Mann kam heim vom Feld.
Zwar nicht verwundet, jedoch sehr erkrankt.

Doch auch nicht invalide, sondern „selbstbeschädigt“,
Unfähig zu verdienen, auf sie angewiesen.

Das Töchterchen lernt Lückerlstickerei,
Macht schöne Hemden für die feinen Damen.

Und ist mit all der unentworr’nen Sehnsucht,
Die jugendliche Menschen in sich tragen
In diese schrecklichen Verhältnisse gezwängt.

Darüber hat sie nachgedacht, der große Kummer war’s:
Zwölf Millimeter Seide mußten daran glauben.

Und wenn’s noch mal geschieht, dann kann sie gehen,
Dann wird der große Kummer ganz untragbar sein.

Oh fühlt ihr es, wie diese Schmach uns peitschet,
Die so an unserm armen Leben frißt,
Die so tiefes, uferloses Unglück
Am Millimeterunterschiede eines Kleides mißt!

Arbeiter-Zeitung, 8.4.1928, S. 23

Abend

Das war gestern – klar, in blassem Golde
Glänzt der Himmel, webt der zarte Hauch
Seiner Gottesnähe über dichte Wälder,
Küßt das Dunkel mit dem letzten Glanz.

Auf der Wiese flammt noch helle Sonne.
Abendlich verfließend, köstlich müd
Bettet sie den Schatten ihrer Leuchtkraft
Lang und dunkel an den feuchten Grund.

Heut ist Werktag: Aus der Arbeit eilend
Lauf ich durch den Lärm der großen Stadt.
Bleiche Farbe der Erschöpfung lastet
Schwül auf Häusern, Menschen, Straßenpflaster.

Staub, Benzingeruch und heißes Klirren
Zwängen graue, starre Mauern ein.
Seh‘ sie hoch hinaufgestoßen in den Himmel,
Der verwundet zwischen Dächern hängt.

Seh’ ein Wölkchen – auf dem duft’gen Kamme
Glänzt von mattem Gold ein blasser Schein –
Und ich schließe herzschlaglang die Augen,
Denke mir: „Wohl muß es Abend sein.“

Der Naturfreund. Zeitschrift des Touristen-Vereins „Die Naturfreunde“, 32. Jg., 1928, S. 15

Brüder
Wir kennen uns!

Fernher, durch grünes Land,
Stampft die Maschine.
Sausender, langer Zug,
Kunstvolle Rinne.

Streckenarbeiter hier
Im knappen Graben.
Die nun nach Stund‘ und Stund‘
Mittagsrast haben.

Fliegende Fensterreih’n
Streifen vorüber
Postersitz, weiche Ruh‘. –
Welch Gegenüber!

Flatternder Seidenschal,
Schneeweiße Hand,
Ringe und Ohrgehäng,
Blitzender Tand.

Aber wir, Abteil drei,
Kennen uns gut!
Kennen die karge Rast.
Arbeiterschweiß. Glut!

Brüder, wir kennen uns!
Schwielige Hände,
Arbeitswelt, unsere Welt,
Welt an der Wende!

Der Naturfreund,. Heft 5/6. 1929