Theodor Kramer Gesellschaft

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Alexander Emanuely

Eine Art Rückkehr


Zwischen zwei Träumen herrscht immer die bitterste Realität.

Was zwischen zwei Träumen sei... Wenn man so wie ich etwas Glück hat, ist es Hühnersuppe, meistens in der Nacht und immer bei Meital in der Wohnung. Es waren besonders kalte Winternächte, die ich bei ihr verbrachte. Doch die Suppe war heiß, Meital  fütterte mich mit tea and oranges that came all the way from China, und ich fühlte mich wohl. Meital stellte jeden Morgen die Suppe zu und ließ sie zwei, drei Stunden lang vor sich hin köcheln, bevor sie mittags zur Probe fuhr. Meital war Tänzerin. Wenn sie nach Mitternacht, nach der Vorstellung, erschöpft nach Hause kam, wurde die Suppe aufgewärmt. Doch seit einiger Zeit schien Meital diesen Rhythmus nicht mehr zu verkraften. Einiges zumindest deutete auf Unstimmigkeiten hin: Zunächst einmal erzählte sie immer wieder davon, dass ihr die Gage für die letzte Produktion erst in einem Jahr ausgezahlt werde. Und jedes Mal, wenn sie davon erzählte, wurde ihr Reden langsamer, so als wolle sie ihre Wut und Frustration aufstauen. Dann lagen auf dem Papierberg im Vorzimmer, neben den Büchern, Rechnungen und Werbeprospekten, immer mehr Blätter und Zettel aus einer anderen Welt, einer Welt, für die ich mich wenig kompetent fühlte, ging es doch um Religion. Auch erzählte sie mir immer öfter von einem Radiorabbiner, dessen Predigten sie in der Früh über Internet lauschte. "Er ist Rabbiner und Atheist. Wenn ich in Tel Aviv bin, muss ich in seine Vorlesung!... Ja, Atheist, du hast richtig gehört!"

Hinter dem Papierberg stand Meitals leicht ramponierte Kofferküche, die irgendwann einmal in einem Theater übrig geblieben war, und auf deren Herdplatte ein alter Topf aus Aluminium, in dem die Suppe köchelte. Dieser mobile Kochkasten nahm fast den ganzen Platz in Meitals Vorzimmer ein. Vorzimmer? Wohl eher Kabinett mit Eingangstür. Und dieses Kabinett war nicht nur Küche, sondern auch Esszimmer, Wohnzimmer, Papierberg und Duschecke zugleich... Meitals Wohnung im Hochparterre einer alten Mietskaserne in der Wiener Brigittenau war seit über hundert Jahren ein Mehrzweckdoppelkabinett für arme Leute. Neben der alten Duschkabine, die hinter der Kofferküche nistete, hatten nur sie und ich und die beiden Suppenteller auf einem kleinen, wackeligen Tisch Platz. Ich durfte auf dem Schaukelstuhl sitzen, der in diesem Kabinett wie ein überdimensionierter Thron wirkte, und blockierte somit, ganz im Sinne der religiösen Schriften auf dem Papierberg neben der Eingangstür, den Weg ins nächste Kabinett, auch Schlafzimmer genannt, das aber eigentlich gleichzeitig Bibliothek, Koffergarage und Sommerkleidungsdepot war. Meital machte es sich immer auf einem wackeligen Klappsessel bequem. Unter dem Tisch wärmte eine kleine, voll aufgedrehte Elektroheizung unsere Zehen.

Da saßen wir nun und aßen die heiße Suppe. Meital sprang immer wieder auf und holte aus einem ihrer Depots neben Dusche oder Papierberg eine von den kleinen Weinflaschen, die an jene erinnerten, die man gewöhnlich im Flugzeug serviert bekommt. Es war ein Wein aus dem Burgenland, mit Koscher-Zertifikat, ein Geschenk von Shelly, ihrer Freundin und Studienkollegin in Sachen Gott. Gemeinsam studierten sie die Schriften des lubawitscher Kehot Verlages, eines Verlages, der in Wien vermutlich noch weniger Menschen erreichte als die Zeitschriften, für die ich gelegentlich schrieb. Ohne sich dagegen wehren zu können, fanden sich diese Bücher in allen möglichen Ecken von Meitals Wohnung wieder, zwischen jenen von E.T.A. Hoffmann, Dostojewski, Balzac und Anaïs Nin und zwischen den selbst gebrannten CDs mit Musik von PJ Harvey, Damien Rice und Noir Désir.

Meitals heilige Folianten – ich erfuhr, dass sie mir unbekannte Titel wie Tanja oder mir schon eher bekannte wie Halacha trugen – waren größer und dicker als die anderen, profanen Bücher und wirkten wie Requisiten aus einem Fantasyfilm. Die Umschläge der Abhandlungen von Abhandlungen waren mit goldener Schrift bedruckt, und um mir verständlich zu machen, was sie an diesen Büchern fand, verglich Meital deren Inhalt mit Gedichten von Paul Eluard. Allein für diesen Vergleich musste ich sie bewundern, auch wenn er auf vehementen Widerspruch in der kommunistischen Partei Frankreichs und in der Chabad-Anhängerschaft gestoßen wäre. "Als ich bei Carolyn Carlson studiert habe, da haben wir auch für l'ésprit du bleu geprobt. Wie blau die Erde doch sein kann, so blau wie eine Orange..." ? womit wir wieder in der Welt des Tanzes waren. Im Grunde, meinte Meital, ging es, ob in Crown Heights im Brookliner Stetl oder ob am Carrefour Vavin im wilden Paris der 1920er Jahre, doch nur um die Frage nach dem Glück, nach dem guten Leben. Ob Schriftsteller oder Schriftgelehrte, ob Eluard oder Schneur Salman, sie haben alle gegen die ungenießbare Realität und für eine bessere Welt zwischen den Träumen gerungen. Ich wusste zwar nicht, wer Schneur Salman war, Meital klärte mich jedoch gleich auf. "Weißt du, früher dachte ich, dass es auch auf der Bühne um so was geht... vielleicht denke ich es heute auch noch manchmal, vor allem wenn ich an Carolyn denke... Aber eigentlich, nein... auf der Bühne geht es um gar nichts, außer um irgendwen, der sich dank meines Körpers und meines Könnens wichtig machen darf... Eine bessere Welt? Schau dir doch die Leute im Theater an, die Zuschauer, die könnten genauso gut in eine Freakshow gehen... Was wollen die überhaupt, ich verstehe das alles nicht mehr!"

Shelly hatte zwei kleine Kinder, mit denen spielte Meital, wenn nicht gerade die Halacha studiert wurde. Meital erzählte mir immer und immer wieder, wie glücklich sie die beiden Kinder machten, wie sehr sich diese über ihr Kommen freuten, schon ungeduldig am Fenster warteten und Meitals Namen riefen, wenn sie, endlich um die Ecke gebogen, die Leopoldsgasse herauf geschlendert kam. In Shellys Kindern sah Meital immer die eigenen, die vielleicht einmal noch kämen, nach denen sie sich sehnte, und die sie dann erziehen wollte, mit dem richtigen Mann, fernab aller "Freakshows", fernab all dieser Existenzfragen, die sie immer häufiger quälten. Einmal hat mir Meital auf ihrem Laptop einen Film von Shellys Hochzeit gezeigt, die vor fünf Jahren stattgefunden hatte und genauso vor hundert Jahren stattgefunden hätte können, eine traditionelle Hochzeit der Wiener Chabad Gemeinde, eine Hochzeit, wie sie sich auch Meital für sich wünschte. Das war ihre Art, mir zu zeigen, dass ich nicht der richtige Mann für ihren neuen Traum war.

Diesem neuen Traum versperrten etliche andere Wünsche und Träume den Weg. Auch ich war eigentlich so eine Hürde. "Hätten wir uns doch vor zehn Jahren kennen gelernt!" sagte sie mir dann, wenn ihr bewusst wurde, dass ich eher ein Mann für das Frühere gewesen wäre, für das Leben im Tanz, das Leben auf der Bühne. Jetzt versuchte Meital in beiden Welten zu existieren, das Gleichgewicht zu halten auf dem Seil ihrer vielen Zweifel und Überlegungen. Nur wurde dieses Balancieren immer unerträglicher. "In Israel wäre das viel einfacher, da gibt es viele, die so wie ich... eigentlich balancieren dort alle. Aber hier in Wien, da starren dich alle an, als ob du schizophren wärst. Im Theater glauben sie, ich spinne, und Shelly glaubt manchmal, ich meine es nicht ernst... Ach, essen wir die Suppe!" Die Suppe... sie wurde nach einem Rezept von Meitals syrischer Mutter gekocht, das ein oder andere Mal aber nach jenem der polnischen Großmutter väterlicherseits. Manchmal gab es Kochexperimente, dann konnte man einen stillen Wüstensee mit kleinen Pfefferinseln schmecken oder eine Ursuppe mit Felsen aus Fell... Hauptsache die Suppe schimmerte Gold und schmeckte.

Aber wenn sie jetzt aufhört zu tanzen, Tänzerin zu sein, waren dann nicht all diese Jahre, Jahrzehnte der Mühe vergebens gewesen? Angefangen mit der Kindheit und Jugend im täglichen Unterricht beim strengen Ballettlehrer in Tel Aviv, einst Star der Kiewer Oper, alte russische Schule, jene, wo die kleine Peitsche schnalzt, wenn Worte nicht zum schrittabfolgenden Ziel führen... Bald begriff sie damals, dass das klassische Ballett mit seinen Hieben nichts für sie war, fand für sich neue Wege und hatte sich für eine klassische Form des modernen Tanzes entschieden. Nach ihrem Militärdienst folgten unzählige Off- und Offoff-Produktionen, kleine Projekte auf noch kleineren Bühnen, folgte viele Arbeit und wenig Ruhm. Übrigens Geld gab es auch nur selten und es wurde übergeben - als große Gabe und nicht als verdienter Lohn. Von Tel Aviv ging es nach Paris, in das unerschwingliche und schön große Paris. Dort hatte sie die Meisterklasse der großen Carolyn Carlson in der Cartoucherie besucht. Mitten in der ehemaligen Waffenffabrik im Bois de Vincennes, jenem Park, in dem ich selbst als kleines Kind schon auf die alten Bäume geklettert war, musste sie dann ihre erste große Katastrophe erleben. Cartoucherie, Catastrophe, eine "ca-ca" Zeit, und beschissen waren die Jahre wirklich. Doch das liegt alles weit zurück, zehn, eigentlich hundert Jahre. Hauptsache Paris. Und Paris war Alon, war die große Liebe... Meitals "Du hast übrigens die gleichen Augen wie er" hörte ich gerne... Paris war Vernachlässigen des Tanzes, Streit mit der Tanzmeisterin, Abgang von der Cartoucherie, Trennung von Alon...

In Paris war Meital das erste Mal in ihrem Leben der Atem in die Fersen gesackt, betonschwer, tanzunfähig. Die Rückkehr nach Israel war die einzige Rettung gewesen. Sie steckte ihre Zehen in den warmen Sand des Strands von Tel Aviv und fand ihre Beweglichkeit wieder, langsam, aber doch. Dann verschlug sie eine Produktion nach Wien – und in die Kabinettwohnung in einer tristen Seitengasse des Wallenstein Boulevards. Und hier drohte ihr nun wieder der Atem auszugehen. "Weißt du, ich bin so naiv, habe bis heute gedacht, dass sich mein Traum erfüllen wird. Tänzerin! Geliebt und verehrt... Naja. Jetzt brauche ich eben einen neuen Traum..." Zwischen zwei Träumen herrscht immmer die bitterste Realität "... oder die Goldene Joich, komm iss! Oder schmeckt sie dir nicht? Dir schmeckt sie nicht? Ah, sag das doch gleich!" Und ob sie mir schmeckte! Doch das war Meitals Endspiel-Humor, der an einem haften bleiben dürfte, wenn man einmal zu Beckett getanzt hat.

Geld ist ungenießbar, Realität auch. Geld ist Meital nie wichtig gewesen, bis vor kurzem nicht. "So wie die Realität?" will ich dummerweise fast fragen. Doch was ist schon Realität? Was heißt schon ungenießbar? Doch seit einiger Zeit quälen Meital Fragen wie: Wie willst du eine Familie gründen? Ohne Geld? Wie lebt man in einer Wohnung mit einem richtig großen Zimmer? Ohne Geld? Wie kann man sich Winterschuhe kaufen? "Geld ist nicht alles, Winterschuhe sind nicht alles, aber weißt du, auf der Bühne verlangt man alles von mir, doch geben, geben tut mir dort niemand was. Du siehst ja, wie ich lebe. Du kennst ja die ganzen Geschichten... Immer kämpfen, damit du dabei bleiben darfst, immer durchhalten... immer dankbar sein, immer bescheiden und voller Sorgen sein, und dann mit diesen Sorgen allein gelassen werden, und trotzdem auf der Bühne stolz die Brust heben, als wäre man wer... Und bei Chabad... da muss ich wohl auch alles geben, nur, dort bekomme ich auch was zurück, ein Lächeln, das Gefühl erwünscht zu sein, dazu zu gehören. Ich muss ihnen nichts beweisen. Nein, das stimmt nicht, aber ich...  Weißt du, ich bin müde, müde von der Bühne. Ich will Ruhe und Geborgenheit... In ein paar Jahren bin ich 40, da werden sie mich von der Bühne jagen, wie eine Aussätzige, oder kennst du Tänzerinnen mit 40? Und dann nur noch Fitnesstrainerin sein? Nein. Dieser lange, lange Weg, um am Ende Fitnesstrainerin zu sein? Nein..."

Ich schaukle ein wenig auf meinem Stuhl. Meital holt eine der kleinen Rotweinflaschen vom Kleiderschrank. Wir essen und trinken in dieser Nacht besonders langsam und viel. Meitals Rückkehr ist beschlossene Sache.