Theodor Kramer Gesellschaft

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EXIL UND WIDERSTAND IN FRANKREICH

Vorbemerkung

Um 1984 erschienen mit einem Mal Bücher und Filme zum österreichischen Exil in Frankreich. Meines Erachtens gab es hierfür drei Auslöser. Der erste war eine völlig neue Politik in Frankreich, geprägt durch eine linke Regierung, deren Mitglieder zur Hälfte NS-Verfolgte, Veteranen des Freien Frankreich oder Widerstandskämpfer waren, wie Jack Lang, Robert Badinter, Charles Fiterman, Michel Rocard, Jean-Pierre Cot, Gaston Defferre, André Cellard. Als Gegenüber in Österreich hatten sie Bruno Kreisky, Hertha Firnberg und Fred Sinowatz. Hinzu kommt, dass fast alle Botschafter Frankreichs in Wien zu Beginn der 1980er-Jahre für das Freie Frankreich gekämpft hatten. Botschafter François-Régis Bastide, zudem Schriftsteller und Komponist, war als Berater der Éditions du Seuil 1959 für die Veröffentlichung von André Schwarz-Barts Roman „Der Letzte der Gerechten“ verantwortlich gewesen. Und dieser Roman hat, wie auch das Tagebuch der Anne Frank oder die Dokumentarfilme von Marcel Ophüls, in Frankreich vieles zur Bewusstseinsbildung über die Naziverbrechen beigetragen. Direktor des französischen Kulturinstituts in Wien wurde 1982 der Politologe Michel Cullin, der selbst viel zur Exilforschung beigetragen hat, so mit dem 2008 gemeinsam mit Primavera Driessen Gruber herausgegebenen Standardwerk über das MusikerInnen-Exil in Frankreich „Douce France?“.
Der zweite Auslöser war 1983 die erfolgreiche große Ausstellung zum Wiener Fin de Siècle im Pariser Centre Pompidou. Unter dem Namen „Vienne 1880-1983“ war sie eine aufgestockte Version jener, die zuvor im Wiener Künstlerhaus unter dem Titel „Traum und Wirklichkeit“ gezeigt worden war. Als ein Ergebnis der Ausstellung stießen in Frankreich plötzlich die Werke von Robert Musil, Ludwig Wittgenstein, Stefan Zweig, Joseph Roth, Leo Perutz, Ernst Krenek, Arnold Schönberg auf reges Interesse. Paris lag im Wien–Fieber. Und vielen wurde bewusst, dass es sich bei diesem geliebten Wien um eine Welt von Gestern handelte, dass die Nationalsozialisten viele der Bewunderten vertrieben, ermordet hatten und viele der Vertrieben in Frankreich gelandet waren.
Der dritte Auslöser war ein Film, eigentlich eine Trilogie, nämlich Axel Cortis „Wohin und zurück“. 1982 war Georg Stefan Trollers erstes Drehbuch der Serie verfilmt worden, nämlich „An uns glaubt Gott nicht mehr“. Darin wird die Geschichte von Ferry Tobler erzählt, wie er 1938 aus Wien flüchtet, zuerst nach Prag, dann nach Paris, interniert wird und schließlich versucht, über Marseille Frankreich zu verlassen. Man konnte sehen, wie das Exil für viele Menschen ausgesehen hat und mit welchen Schwierigkeiten und Gefahren es verbunden war. Dieser erste Teil hat bei den ZuseherInnen des ORF wohl tiefe Spuren hinterlassen. 1986, mitten im Wien-Fieber, hatte der dritte Teil, „Welcome in Vienna“, in Paris großen Erfolg.
Diese drei Auslöser trugen dazu bei, dass sich in Österreich 1984 eine rege Publikationstätigkeit zu Exil und Widerstand in Frankreich entfalten konnte. Im Gründungsjahr der Theodor Kramer Gesellschaft (TKG) erschien, herausgegeben von Franz Richard Reiter, „Unser Kampf. In Frankreich für Österreich“ mit Zeugnissen österreichischer Mitglieder der Résistance, so u.a. von Elisabeth Freundlich, Conrad H. Lester, Anna und Heinrich Sussmann, Antonie Lehr, Friederike Weizenbaum, Felix Kreissler. 1984 kam der erste Band der Reihe „Österreicher im Exil“ des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands heraus, es war jener zu Frankreich, zusammengestellt von Irma Schwager und Ulrich Weinzierl.
Auch in Frankreich wurde immer intensiver zu den österreichischen Flüchtlingen des Jahres 1938 gearbeitet. Felix Kreissler, selbst Ex-Autrichien, Widerstandskämpfer und Überlebender des KZ Buchenwald, gab seit 1975 am von ihm gegründeten Centre d‘Etudes et de Recherches Autrichiennes (CERA) der Universität Rouen die Zeitschrift „Austriaca“ heraus. 1983 erschien ein Schwerpunktheft „La résistance autrichienne“ (Nr. 17) und 1984 „Écrivains autrichiens émigrés en France“ (Nr. 19). Anfang 1984 organisierte CERA in Rouen ein Kolloquium zum Thema „Relations franco-autrichiennes“, bei dem Hermann Langbein, Richard Thieberger, Elisabeth Freundlich über Exil und Widerstand sprachen.
Dieses starke Interesse für das Frankreich-Exil hat dazu geführt, dass sich die Redaktion von ZW bzw. MdZ in den letzten 30 Jahren andere Themen suchen konnte und musste. Es wäre der getanen Arbeit vorerst nicht viel hinzuzufügen gewesen. Doch selbst wenn es bisher keinen Frankreich-Schwerpunkt gegeben hat, hat es gleich zwei Jean Améry-Hefte gegeben, 2003 und 2012. Die beiden Ausgaben könnten durchaus als kleine Frankreich-Schwerpunkthefte durchgehen. Ausführliche Beiträge sind weiters in den letzten Jahrzehnten über Emil Alphons Rheinhardt, Ernst Papanek, Albert Drach, Conrad H. Lester, Michel Herr, Maria Leitner, Anton Pariser, Adolf Unger, Charlotte Delbo, Germaine Tillion, Erich Schmid, Isidore Isou, Alfred Grünewald, Josef Wermann, Harry Spiegel, Leopold Spira erschienen. Und für ZW und den Verlag der TKG schrieben u.a. Elisabeth Freundlich, Bruno Schwebel, Bil Spira, Georg Stefan Troller, Felix Kreissler, Fred Wander, Alice Penkala, Rita Thalmann, Josef Wermann, Alfred Frisch, Felix Kreissler, Vera Freud. Zwei der ‚Franzosen‘ haben den Theodor Kramer Preis erhalten: 2003 Fred Wander und 2005 Georg Stefan Troller.
Im vorliegenden Frankreich-Heft geht es um ÖsterreicherInnen wie Ludwig Beer, Conrad H. Lester, Artur Rosenberg, Otto Kallir, Maria Leitner. Und weil das Exil international ist, geht es ebenfalls um jenes von Goetz Mayer, Ruth Tassoni, Vítězslava Kaprálová, Tita Hirschová, André Breton, seinerseits in den USA. Es geht auch um Widerstand, um jenen Armand Gattis und um jenen einer Gruppe in Paris, die sich vom Surrealismus und Arthur Rimbaud inspirieren haben lassen. An der ebenfalls dargestellten französischen Theodor Kramer-Rezeption kurz vor dem Ende Österreichs 1938 kann man ablesen, wie es in Frankreich überhaupt um Österreich gestanden hat. Eine Chronik schließt den Schwerpunkt ab. Mit ihr kann man sich auf einen Blick vergegenwärtigen, dass inhumane Flüchtlingspolitik in Europa durchaus Tradition hat.

Alexander Emanuely