Theodor Kramer Gesellschaft

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Afamia Al-Dayaa

erinnern


von ferne I

der wind weht
heimwärts

 

von ferne II

der wind weht heimwärts, ermüdet
vom tiefstand der sonne, vom stottern
der fenster & der motoren, von ferne

 

von ferne III

auf dem vorgelände kriecht der morgen.
er zieht den tag nach sich. er hat augen
so groß wie papier & weiß: geräusche
schmelzen, tropfen zu boden

 

von ferne IV

von ferne sah ich die bläue eines anderen tages
an dem die welt noch keinen namen hatte.
ich verneigte mich vor den ästen, die sich
vom wind bewegt, verneigten vor der welt.
schatten schwammen wie aale

 

von ferne V

von ferne hörte ich menschen grausame dinge sagen:
dass nicht nur hütten und häuser zerbrachen
sondern auch herdplatten und backenknochen
ich schloss die augen & hörte die stille, hörte den abend:
er kehrte zurück zu den blättern, zum vibrieren der blüten
zurück zur bläue des tages, ohne flüchtling zu sein

 

von ferne VI

der abend war elektrisch aufgeladen
jemand weinte, aber jemand weinte
ich wußte keinen rat, die herde war
stolz über ihr boden-nahes manöver
ich schloss die augen & hörte die stille
sie war elektrisch aufgeladen
wie der abend, an dem jemand weinte

 

von ferne VII

das boden-nahe manöver hatte trockenes gras
hinterlassen, tote körper, hände & köpfe ohne körper
zerfetzte hosen & hemden, fenster-rahmen ohne fenster
hier und dort fand man panzertürme & mörsergranaten
vor wänden, auf denen „peace“ und „smile“ geschrieben
stand. das boden-nahe manöver erreichte die städte
es dehnte sich aus, zog grenzen nach innen, war
störrisch, offensichtlich stachelte es die gesteins-häute an

 

von ferne VIII

niemand ist von etwas mehr überzeugt
als von der hand vorm mund und von der
kurzsichtigkeit dieses bemühens. am eigenen tisch
schmeckt das brot am besten, aber sicher
ist es nicht. nichts lässt sich genießen
wenn dem mond der anstand fehlt –
er klopft nicht an, er kennt keine gnade, belagert
die straßen, er schlittert entlang einer route
aus gähnendem glauben, gähnender klage

 

von ferne IX

die gesteins-häute hatten unterschiedliche farben
doch das war nicht das, was zählte. je mehr ich hörte
vom stottern der fenster & der motoren, vom hunger
der herzen in dieser ungenau ausgegossenen
landschaft, desto fester schloss ich meine augen
beim anblick des mondes, seinem tiefstand –
der mond ist die auf den kopf gestellte
zitternde unterlippe eines schreienden mundes
auf dem die hand liegt. man ist wohl überzeugt
von der kurzsichtigkeit dieser hand überm mund

 

Afamia Al-Dayaa, geb. 1985 mit syrischen und südkoreanischen Wurzeln, lebt in Wien. Studium klassisches Klavier in Trossingen,
Brüssel und Wien sowie Sprachkunst in Wien. Letzte Veröffentlichungen: vor dem schnee (und andere gedichte) in: Reisen. Rasen. Rasten. (2015, edition w2, Wien). inzwischen das meer in: Lyrik von Jetzt 3 (2015, Wallstein Verlag, Berlin).