Theodor Kramer Gesellschaft

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Else Feldmann

Erster Abend in einer Stadt

Es war neun Uhr abends, als der Zug einfuhr. Finster, kalt, stürmisch harter November. Die Lichter des Bahnhofgebäudes funkelten auf und ab, als zitterten sie vor Kälte.
Ich stand an meinem Koffer gelehnt, hielt Ausschau, dachte, ein wenig über die nächsten Minuten nach. „Träger! Gepäckträger!“
Keiner zu sehen.
Ein Mann kommt hergewankt, spricht:
„Hüten Sie sich. Sie sind von Verzweifelten umlagert. Alle Gestalten warten auf Verdienst. Aber wenn’s nicht anders geht, wollen sie stehlen und rauben. Geben Sie mir Ihren Koffer, ich trag’ ihn zum Wagen. Ich mein es ehrlich, obwohl auch ich einer von den Gestalten bin.“
Ein Arbeitsloser.
Jetzt im Wintersturm ohne Brot, ohne Obdach und Überrock.
„Und außerdem hab ich einmal studiert.“
„Wollen Sie mir Ihren Koffer anvertrauen? Ich trag ihn glücklich zum Wagen.“
Durch eine Schar unheimlicher schwarzer Gestalten schritten wir...
Vor einem fremden älteren Herrn im Pelz stand ein Kind von sechzehn Jahren, bittend die Hände emporgehoben, unter den Lumpen magere Knochen, vom Fleische gefallen.
„Herr, nehmen Sie mich mit für heute!“
Der Herr gab nur Geld.
Ein andrer kam, nahm sie mit. Und noch andre Kinder tauchten aus der Finsternis auf.
Knaben und Mädchen – bleich wie der Tod.
Schlichen wie Katzen umher...
Verschwanden irgendwohin.
Alles kam und verging, schnell wie ein Traum, wie ein Spuk.
Mein fahler Handlanger empfing meinen Lohn
Ging zu seinem hungernden Brüdern zurück, die dort im Dunkel stehen, frieren.
Warten.
Mit weit aufgerissenen Fieberaugen, lauschenden Herzens
warten,
ruhelos warten:
Was diese sternklare, frostglitzernde Nacht
unter freiem Himmel
ihnen bringen wird.

Arbeiter-Zeitung vom 28. Februar 1926, S.18