Theodor Kramer Gesellschaft

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Sonja Pleßl

Posthume Selbstbestimmung

 

Warum ist das kein Skandal? fragte Dorothea Brozek in der Arbeitsgemeinschaft assistierter Suizid, eingerichtet vom Österreichischen Behindertenrat nach dem Urteil des Verfassungsgerichtshofes in diesem Frühsommer 2021, angesichts der Forderungen nachstehender Petition.

Ich gebe die Frage von Dorothea Brozek an alle Leserinnen und Leser weiter und ersuche Sie Ihrerseits um Weitergabe.

Forderungen der Petition Rechtsanspruch auf professionelle Freitodhilfe! - Weil mein Ende nur mir selbst gehört. Setzen Sie endlich den Willen von uns Bürgerinnen und Bürgern um! Professionelle Freitodhilfe/Assistierten Suizid ermöglichen! Unser Ende gehört uns

1. Begründung:

Weil nicht nur unsere Haustiere das moralische Recht haben notfalls eingeschläfert zu werden. [...]

Weil sie viel weniger Geld kostet, Geld das in den Gesundheitssystemen effektiver/menschlich nutzbringender eingesetzt werden kann.

Weil sie das Pflegesystem spürbar entlasten wird.

Weil sie die Möglichkeiten zur Organspende verbessert.

Die Petition richtet sich an mehrere Regierungen.

Mit gezielt geschürter Angst der Sterbehilfevereine und deren Vertretern vor Hilfsbedürftigkeit und Autonomieverlust konnten international mehr als 100.000 Unterschriften eingesammelt werden. Was die Einschläferung von Haustieren, die weder Sozialstaat noch Sozialversicherung kennen, mit den Menschen zu tun haben soll, wurde medial ebenso wenig hinterfragt wie das Menschenbild hinter den Einsparungs-, Entlastungs- und Organspendeverbesserungspotentialen bei Freitodhilfe. Als Atheistin muss ich feststellen: Ertönt Selbstbestimmung, kommt von den allermeisten medial Tätigen ein SO SEI ES.

Initiiert wurde die Petition von Wolfgang Obermüller, Unternehmer und seit 2012 Sterbehilfeaktivist. Er sitzt im Beirat der Österreichischen Gesellschaft für ein humanes Lebensende, gegründet 2019, seit 2020 Mitglied im Weltdachverband der Right to die Societies. Im Beirat sitzen neben dem Wiener Anwalt Wolfram Proksch, der die Antragsteller gegen die Republik Österreich vertrat, Ludwig A. Minelli, Gründer der Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas, zuvor tätig bei der Schweizer Sterbehilfeorganisation "Exit", Rolf Kaufmann, Theologe mit zwanzig Jahren Freitodbegleitung ebenfalls bei "Exit" , Dr. Gerhard Köble, seit fast zwanzig Jahren Freitodbegleiter und Konsiliararzt bei Exit.

Die Petition flankierte die Klage gegen die Republik Österreich für die Aufhebung der beiden Paragraphen §78 StGB Mitwirkung am Selbstmord und §77 StGB Tötung auf Verlangen von vier Klägern: einem an Multipler Sklerose (MS) erkrankten Mann, der die Dienste des Vereins Dignitas oder eines anderen Vereins in einem der Mitgliedsländer der EU […] in Anspruch nehmen möchte, einem an Parkinson erkrankten Mann mit demselben Motiv, sowie einem Mann, der seiner Frau bei der Selbsttötung assistiert hatte und nicht gewillt ist, sollte er selbst schwer erkranken, sich in einen Zustand von Abhängigkeit Hilfe Dritter, wie insb. Ärzten, Krankenpflegern, Heimhilfen auszusetzen. Solche Zustände wären […] subjektiv unerträglich und kämen damit für ihn einer Aufgabe seiner Menschenwürde gleich, er sei spätestens bei Eintritt einer schweren unheilbaren Krankheit dazu gezwungen, sich selbst das Leben zu nehmen, solange er dazu noch in der Lage ist, wobei er das äußerst erhebliche Risiko des Scheiterns eines Suizidversuchs unter gleichzeitiger Verschlechterung seiner so schon hoffnungslosen Lage in Kauf nehmen müsste; schließlich ein Anästhesist und Intensivmediziner, der assistierte Selbsttötung durchführen würde und die Beratung undUnterstützung bezüglich Lebensende-Fragen durch § 77 und § 78 verhindert sieht, oft stehe er vor schwierigen Entscheidungen, doch sei es ihm durch die aktuelle Gesetzeslage verboten, sterbewillige Patienten aktiv bei der selbstbestimmten eigenen Beendigung ihres Lebens durch Suizidhilfe zu unterstützen, oder sie gar auf deren ernstliches Verlangen zu töten. (RIS – G139/2019 [G139/2019-71]

Bereits am 26.11.2018 hatte Ludwig A. Minelli im Interview mit dem sechsköpfigen Rechercheteam von Addendum über den Verein Dignitas verkündet, dessen Hauptaufgabe der Jurist und Vereinsleiter Silvan Luley im Führen von Musterprozessen sieht, um in möglichst vielen Ländern Sterbehilfe zu legalisieren: Wir sind bereit, derartige Verfahren zu finanzieren, denn es ist unsere Aufgabe und unser Auftrag, auch in Österreich das Licht der Freiheit anzuzünden. Luley ist die rechte Hand von Minelli, seine Mutter war als Sterbebegleiterin für Dignitas tätig. Addendum berichtete 2018 über Rüdiger Struck, dem Dignitas Selbsttötungshilfe angedeihen ließ, einen 34-jähriger Kärntner, körperlich gesund, depressiv, mit Vermögen. Es zahlte sich aus: für bestimmte Vereine.

Die derzeitige österreichische Rechtslage beruht auf dem 2001 durch die Parlamentarische Enquete Solidarität mit unseren Sterbenden festgelegten Österreichischen Weg, bestätigt2015 nach der Enquetekommission Würde am Ende des Lebens. Legal sind: Passive und indirekte Sterbehilfe, ebenso palliative Sedierung. Verboten sind: Beihilfe zum Suizid, Verleitung zum Suizid, aktive Sterbehilfe. Erlaubt ist somit das Unterlassen lebensverlängernder Maßnahmen inklusive des Abschaltens von Geräten (passive Sterbehilfe), Lebenszeitverkürzung als Nebenwirkung von Medikamenten zur Schmerzlinderung (indirekte Sterbehilfe; Anm. zu Morphium: richtig eingesetzt, bedingt es keine Lebenszeitverkürzung). PatientInnen dürfen medizinische Behandlungen ablehnen; der Wille kann für den Fall, dass er nicht mehr geäußert werden kann, in Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht niedergeschrieben werden. Liegen diese nicht vor, entscheiden Angehörige und Befugte, z.B ÄrztInnen im Krankenhaus. Palliative Sedierung dient der Linderung psychischer Erschöpfung, es wird die geringstmögliche Dosis je nach Zeitfenster unterschiedlich lang eingesetzt, um die Lebensqualität am Ende des Lebens zu verbessern, Kraftschöpfen zu ermöglichen, z.B damit der/die PatientIn den nächsten Besuch, das bevorstehende Familienereignis, den Abschluss eines Projektes (z.B ein Buch) noch erleben kann. Es gehört zur Taktik der Sterbehilfevertreter, palliative Sedierung mit Töten auf Verlangen gleichzusetzen und damit den schmalen Grat zwischen Helfen und Töten in der Palliativmedizin, einem relativ jungen Zweig der Medizin, sprachlich aufzuheben und damit den Damm zur Wahrung der Integrität des pflegenden und medizinischen Berufsstandes bersten zu lassen. Die für den assistierten Suizid plädierende Kritik an Übertherapien hingegen mag in manchen Fällen zutreffen, wird allerdings unter Anwendung grausamer Sprache übertrieben (elendiglich krepieren, lebende Leichen) und lässt außer Acht, dass ÄrztInnen Menschen sind: Auch sie können im Vorhinein nicht immer wissen, wie sich eine Krankheit entwickeln wird, zumal Wahrscheinlichkeiten bei Menschen andere Ergebnisse zeigen als in der Statistik: Ein Mensch ist nicht zu einem Drittel geheilt und zu zwei Drittel verstorben. Dem Gros der Menschen schwant im Übrigen Gegenteiliges. Zum Beispiel die Oma meiner Freundin. Da sagte die Ärztin im Krankenhaus, eine Operation zahle sich nicht mehr aus. Schauen sie lieber, dass sie noch drei schöne Monate hat.

Meine Freundin schaute sich nach einer Expertin um, die operierte. Die Oma lebte noch drei Jahre. Für sie, deren Mutter als junge Frau einen Unfall hatte, war ihre Oma wie eine Mama und ihr Opa wie ein Papa (ihr leiblicher Vater wollte von der im Rollstuhl sitzenden Mutter nichts mehr sehen). Aber auch, wenn sie bloß eine ganz normale Oma gewesen wäre – wie meine z.B, die vor zwölf Jahren einen Schlaganfall hatte, daraufhin ihren Mann nicht mehr pflegen konnte, sondern selbst gepflegt werden musste – ab wann zahlt es sich nicht mehr aus? Ab 90? Ab 80? Ab 70? Ab dem Zeitpunkt, wo man selbst, nach einem erfüllten Leben, große Kosten verursacht? Ab dem Zeitpunkt, wo man gar langsam zu gehen beginnt und den anderen im Weg steht? Manche lassen es sich ja wirklich nicht nehmen und wollen gar hundert werden! Es sei in Erinnerung gerufen, dass alte Frauen in unserer Gesellschaft keinen hohen Stellenwert haben, möglicherweise mit ein Grund, warum die Trauer um Omas eine ganz eigene ist. Manchmal, im Winter, sagte meine Oma: Mit mir ist es nichts mehr, ich kann ja nichts mehr. Niemand lacht wie Oma. Lachte.

2015 wurde der Österreichische Weg im Rahmen der Parlamentarischen Enquetekommission Würde am Ende des Lebens bestätigt. Allerdings: Die Bioethikkommission sprach sich für eine Gesetzesänderung aus. Abweichende Stimmen innerhalb der Bioethikkommission indes mahnten zur Beibehaltung des Österreichischen Weges. Einer forderte die Legalisierung von Töten auf Verlangen: Univ.-Prof. Dr. h.c. Dr. Peter Kampits, zweiter stellvertretende Vorsitzender der Bioethikkommision. Kampits sitzt im Beirat von Letzte Hilfe, Verein für selbstbestimmtes Sterben.

 

Angesichts der internationalen Musterklagen der Sterbehilfevereine gegen Regierungen hatte der Behindertensprecher Dr. Franz-Josef Huainigg 2015 gefordert, ein Verbot von Töten auf Verlangen in der Verfassung festzuschreiben. Die Verfassung sei von ideologischen Duftmarken freizuhalten, so lautete der Kommentar von DDr. Christian Kopetzki, Professor für Medizinrecht, und von Verfassungsjurist DDr. Heinz Mayer, letzterer ebenfalls im Beirat von Letzte Hilfe.

Tötung, so Huainigg, ist niemals ein Akt der Barmherzigkeit, hier geht es um eine Richtungsentscheidung, der Wunsch eines Einzelnen sei keine Basis, um ein Gesetz für alle anderen zu machen. Der Vorschlag der Bioethikkommission fördere einen Gewissenskonflikt der pflegenden Angehörigen, der durch die Möglichkeit zur Beihilfe zum Suizid nicht gelöst, sondern im Gegenteil erst richtig geschürt werde. Die Bioethikkommission habe ihren Arbeitsauftrag aus dem Regierungsprogramm, sich mit der Möglichkeit der verfassungsrechtlichen Verankerung des Österreichischen Weges zu befassen, nicht wahrgenommen; bei einem Hospizdeckungsgrad von bloß 50 Prozent die Einführung der Beihilfe zur Selbsttötung zu fordern, sei besonders im Hinblick auf unsere Geschichte äußerst bedenklich und abzulehnen. Das Beispiel aus den Niederlanden zeige, wie schnell aus Ausnahmeregelungen für Härtefälle eine Euthanasie-Gesetzgebung werden könne. Eine Gesellschaft, die am Ende Häuser bauen würde, in denen man den Menschen nicht beim Sterben hilft, sondern sie töten hilft, wäre eine andere Gesellschaft als die, in der wir leben, zitierte Huainigg den ehemaligen SPD Vorsitzenden Franz Müntefering. (OTS Huainigg: Töten ist niemals Barmherzigkeit, 12.2.2015). Da es inzwischen Mode geworden ist, Argumente mit dem Verweis auf eine Partei – Huainigg ist Behindertensprecher der ÖVP – vom Tisch zu wischen, sei der ehemalige Nationalratsabgeordnete kurz vorgestellt: Dr. der Philosophie, schreibt Gedichte und Kinderbücher, schreibt über Liebe mit einem Behinderten (Ist Ihre Frau auch behindert?), über das Leben als behinderter Vater. Seine Tochter ist damit aufgewachsen, dass ihr Vater einen Rollstuhl hat. In Ein Vater auf vier Rädern – wie soll das gehen oder noch besser rollen? beschreibt er eine Szene, als seine Tochter fünf Jahre ist: Als ein Kind am Spielplatz etwa fragte: „Was hat dein Papa?“, drehte sie sichzu mir hin, sah mich telefonieren und antwortete: „Ein Handy“. Huainigg ist seit seinem siebten Lebensmonat behindert, Folge einer Keuchhusten-Diphterie-Tetanus-Impfung. Am 11.1.2021 klagte er gemeinsam mit 3000 Schwerstbehinderten an: Beim Impfen hat man auf uns vergessen! Sie alle, die nicht in Heimen leben, wollten sich gegen Corona impfen lassen, allein, die Regierung hatte sie nicht mitgeplant. - Die meisten Behinderungen entstehen erst nach der Geburt, durch Verkehrsunfälle - diese umfassen auch überfahrene FußgängerInnen durch rücksichtslose Raser -, Krankheiten, Freizeitunfälle, Unfälle am Arbeitsplatz.

Am 11. Dezember 2020 haben vierzehn RichterInnen des österreichischen Verfassungsgerichtshofes entschieden, dass die derzeitige Gesetzeslage das Recht auf Selbstbestimmung verletze. Das Verbot der Hilfeleistung beim Suizid ist mit Wirkung 1.1.2022 als verfassungswidrig aufzuheben (Streichung der Wortfolge oder ihm dazu Hilfe leistet in § 78 StGB). Verleitung zum Suizid bleibt strafbar. Dem Begehren der Antragsteller auf Töten auf Verlangen wurde aus formalen Gründen nicht stattgegeben (G 139/2019-71).

Ein in meinen Augen besonders heikler Passus des Entscheids: Aus grundrechtlicher Perspektive macht es nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes im Grundsatz keinen Unterschied, ob der Patient im Rahmen seiner Behandlungshoheit bzw im Rahmen der Patientenverfügung in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes lebensverlängernde oder lebenserhaltende medizinische Maßnahmen ablehnt oder ob ein Suizidwilliger unter Inanspruchnahme eines Dritten in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes sein Leben beenden will, um ein Sterben in der vom Suizidwilligen angestrebten Würde zu ermöglichen. Entscheidend ist vielmehr in jedem Fall, dass die jeweilige Entscheidung auf der Grundlage einer freien Selbstbestimmung getroffen wird.

Die Ablehnung einer Behandlung wird damit gleichgesetzt mit Selbsttötung, wobei ein Dritter seine helfende Hand reichen kann. Sollten in der Verfassung nicht Sicherungsmechanismen eingebaut werden, sehe ich die nächste erfolgreich durchgeführte Klage vor der Haustür der Republik, diesmal für Töten auf Verlangen. Wenn es zulässig ist, dass einem Menschen ein Giftcocktail verschrieben, und auf den Nachttisch gestellt wird, hat eine Klage unter Berufung auf einen Schwerkranken, der seine Hand nicht mehr heben kann, Erfolgsaussichten. Dr.in Elisabeth Pittermanns Kommentar am 24.9.2020 Sterbehilfe nicht erlauben: Töten als Tabubruch (Der Standard) zielte genau darauf ab. Pittermann, Internistin, ehem. Wiener Stadträtin für Gesundheits- u. Spitalswesen, siebenfache Großmutter, war vor dem VfGH zwar angehört, aber nicht gehört worden. Oder war sie bloß in der Minderheit gelandet?

Der Verfassungsgerichtshof besteht aus zehn Männern und vier Frauen, Stimmenverhältnis und Argumentationen bleiben der Öffentlichkeit vorenthalten. Seine Aufgabe ist nicht, neue Gesetzesnormen zu schaffen, sondern Gesetze dahingehend zu überprüfen, ob sie dem Geist der Verfassung entsprechen. Ist dies wirklich geschehen? Kritik an einzelnen Urteilen des VfGHs kommt neuerdings einem Angriff auf die Demokratie gleich, als wäre der Verfassungsgerichtshof per definitionem unfehlbar.

In keiner der drei Begründungen (Kläger/Republik Österreich/VfGH) gibt es irgendeinen Bezug zur Vergangenheit.

WER soll die Assistenz zur Selbsttötung ausüben? Auf diese Frage hat der VfGH keine Antwort. Die Ärztekammer hat klargestellt: Wir nicht. Die Integrität des Berufsstandes stünde zur Disposition. Das Vertrauensverhältnis zum Arzt, zur Ärztin kann nicht aufrechterhalten werden, wenn er oder sie gleichzeitig suizidpräventiv und selbsttötungsassistierend tätig ist.

Die Österreichische Gesellschaft für ein humanes Lebensende fordert im Dialogforum: Freitodhilfe sei in Palliativstationen von zumindest drei öffentlichen Krankenhäusern in allen Bundesländern kostenlos anzubieten. Das Urteil des VfGH sei vor Missbrauch jeglicher Hinsicht zu schützen, im Sinne eines Schutzes des Selbstbestimmungsrechtes vor dem Einfluss Dritter. Nicht von Lebens- und Todeswünschen hin- und hergerissene Kranke und Alte sollen mehr suizidpräventive Hilfe erhalten, sondern vor Selbstbestimmungswunschverhinderern geschützt werden. Wer selbst das Pech hat, eine teure und langwierige medizinische Behandlung zu benötigen, soll hinfüro zusehen, wie sein Nachbar Selbsttötungshilfe erhält. Dies ist in Belgien der Fall. Im Buch Euthanasia:Searching for the Full Story. Experiences and Insights of Belgian Doctors and Nurses(HgTimothyDevos, Springer 2021, im Original Euthanasie, l‘envers du décor.Réflexions et expériences de soignants,2019, Editions Mols, Belgium; open access publication) erzählen in den Gesundheitsberufen Tätige, was Sterbehilfe in den Gesundheitseinrichtungen selbst anrichtet: Da schlägt ein junger Kollege vor, der Frau, die drei Tage nach ihrem Schlaganfall noch immer nicht richtig reden könne, doch Euthanasie anzubieten (angehende MedizinerInnen fühlen sich über assistierten Suizid besser informiert als über Palliativmedizin); da wartet ein Sterbewilliger 20 Stunden auf den ihn selbsttötenden Primar, weil der zu Notfällen gerufen ist, die Angehörigen gehen wartend vom Zimmer aufn den Gang, die anderen Patienten in der Palliativabteilung werden nervös; da drängte eine Frau, die ihrem Mann das gemeinsame Sterben versprochen hatte, auf Suizidhilfe, bis ihr kranker Mann überraschend vorher verstarb, danach wollte sie nicht mehr. In der Hinterlassenschaft zeigte sich, dass der Mann sie jahrelang betrogen hatte. Eine Frau, sich selbst verabscheuend, weil sie ihre Kindheit hindurch ein ungeliebtes Mädchen war, suchte sich selbst neu zu erfinden und wollte ein Mann werden, nach der Operation konnte sie – er - sich mit der männlichen Brust und dem Geschlechtsteil erst recht nicht heimisch fühlen, suchte um Euthanasie an, diese wurde bewilligt, die Mutter sagte hinterher, alles habe seine Ordnung. Oder die Frau in den Niederlanden, der beschieden wurde, das Primärkarzinom befände sich an ungünstiger Stelle, man empfehle Euthanasie. Die Frau, die eine österreichische Journalistin zur Freundin hat, bewahrte ihren Mut, wie viel Energie hat das gekostet?, recherchierte mit Hilfe ihres Mannes eine Klinik in Deutschland, diese fand heraus, dass weder sorgsam operiert noch der Befund richtig erstellt worden war, neuerliche Operation, die Frau lebte weitere dreizehn Jahre. Undenkbar in Österreich? In Belgien ist das selbstbestimmt-Sterben-Recht mittlerweile auf Kinder ausgedehnt worden, bisher wurden ein neunjähriges Kind, ein elfjähriges und ein siebzehnjähriges euthanasiert. In den Niederlanden ist die Altersgrenze zwölf Jahre, in Luxemburg 16. Dass Argumente für das Selbstbestimmungsrecht auf den eigenen Tod hierzulande auch bei Säuglingen ziehen – in den Niederlanden erlaubt das Groningen-Protokoll die Euthanasie von Säuglingen im ersten Lebensjahr – zeigt die Diplomarbeit der 1987 geborenen angehenden Medizinerin Lisa Teresa Wehle Das Groningen Protokoll. Schwere Entscheidungsfindung an der Wiege (2014, Medizinische Universität Graz), wo sie nicht nur der Ansicht zustimmt, Säuglinge dürften getötet werden, um unerträgliches Leid zu ersparen, sondern dies sogar die einzig humane Lösung nennt, denn wenn Erwachsene um Euthanasie ansuchen, die doch das Leiden kommunizieren können, um wie viel mehr müsse man davon ausgehen, dass Säuglinge, die ihr Leid nicht kommunizieren können, unerträglich leiden? Unerträglich ist ein Terminus, den die Nationalsozialisten gern verwendeten und der uns erhalten geblieben ist, unerträglich ist nicht messbar, auch das Leiden ist es nicht. Wehle erklärt uns den Unterschied: Schmerzen können behandelt werden, aber das Leiden, vielfach psychologisch und sozial, das bestehe weiter.

Presentism nennt Margaret Somerville (Sydney) den auf die Gegenwart einengenden Zeitgeist, der schädliche Konsequenzen billigend in Kauf nimmt. (Vorwort zu Euthanasia. Searching for the Full Story.)

2013 publizierte Götz Aly nach jahrzehntelanger Euthanasieforschung Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. Er habe bewusst diesen Titel gewählt, das Wort deutet nicht auf die Mörder, sondern auf die Ermordeten. Es führt zum erblich oder psychisch Belasteten, zu dessen belasteter Familie, zu Menschen, die zur Last fallen, heutzutage umgekehrt formuliert: die nicht zur Last fallen möchten. Das Buch ist seiner Tochter gewidmet, sie wäre unter T 4 gefallen. Mit acht Tagen hatte sie eine schwere Infektion. Der Arzt hatte Aly zur Seite genommen: Wenn das Baby diese Nacht überlebe, werde es schwer geschädigt sein. Eine verdeckte Frage? Seine Mutter wollte vor ihrem Tod noch unbedingt diese eine Geschichte erzählen: Mit aller Absicht kam sie auf ihre verstorbene Freundin Annemarie zu sprechen. Diese habe seinerzeit ihr behindertes Baby in eine Euthanasieanstalt gegeben, auf Druck ihres Ehemannes, und immer sehr darunter gelitten. Ich weiß nicht, ob das Kind ein Mädchen oder Junge war. Es hieß mit Nachnahme Kröcher. Bislang sind meine Nachforschungen gescheitert. (Perlentaucher, Leseprobe, Teil 2). Dass Götz Aly selbst betroffen ist und offen darüber schreibt, tragen ihm SterbehilfebefürworterInnen als Schwäche nach.

 

Ende April 2021 fand das vom Justizministerium eingerichtete Dialogforum statt, denn: Für die Vorbereitung einer Regelung bedarf es einer breiten Einbindung von Expert*innen und der Zivilgesellschaft. (https://www.bmj.gv.at/themen/Dialogforum-Sterbehilfe.html) Daran als Hinterbliebene eines durch Selbsttötung Verstorbenen teilzunehmen, gelang mir nicht. Ich erkundigte mich bei Selbsthilfegruppen und bei Hinterbliebenen, die in den letzten Jahren in den Medien gesprochen hatten: Sie wussten nichts davon. Auch der Berufsverband Österreichischer PsychologInnen (BÖP) wusste nichts, detto EuthanasieforscherInnen. Dass VertreterInnen misshandelter Heimkinder, Opfer sexualisierter Gewalt, ExilforscherInnen, in Österreich lebende Folteropfer ebenfalls nichts gewusst haben dürften, ist somit anzunehmen. Nicht vertreten war außerdem die Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (ÖGPP), wiewohl ihre Arbeitsgruppe Suizidprävention und Krisenintervention seit Jahren maßgeblich für eine bessere Aufstellung der Suizidprävention eintritt. Noch immer gibt es in Österreich keine flächendeckende psychologische und psychiatrische Versorgung, dies betrifft – seit der Coronapandemie noch mehr – auch Kinder und Jugendliche. Von Suizidalität besonders betroffen sind alte Männer. Eine der Hauptgründe für Selbsttötungen und Suizidversuche sind psychische Störungen, insbesondere Depressionen, wobei mit steigendem Alter depressive Inhalte häufiger über körperliche Symptome und hypochondrische Befürchtungen ausgedrückt werden. Schwere körperliche Erkrankungen, z.B. Krebs, erhöhen die Suizidgefahr, insbesondere nach der Diagnoseerstellung: Die Phantasien über befürchtete Folgen der Erkrankung bestimmen zu diesem Zeitpunkt in bedrohlicher Weise das innere Erleben und können zu Gefühlen von Auswegs- und Hoffnungslosigkeit und damit zu suizidalen Entwicklungen führen. Ältere Männer tun sich nicht nur schwer damit, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, sie tun sich überhaupt schwer mit der mit dem Alter einhergehenden steigenden Abhängigkeit. Sie tun sich auch schwer mit Trauer – Trauer hat in unserer Gesellschaft wenig Platz.

Ein deutsch-schwedischer Psychiater sagte mir im Telefoninterview, Sommer 2021, seinem Eindruck nach fordern vor allem alt werdende Männer das Selbstbestimmungsrecht auf assistierten Suizid oder Töten auf Verlangen, die an Macht verloren haben und nicht damit umgehen können, da können sie sich jetzt wichtig machen. (Dass sie dann selbst auch vorzeitig von dannen scheiden, um nicht unerträglich zu leiden, dazu zwingt sie ja niemand.) Den Namen kann ich leider nicht nennen, da die empirische Dokumentation der Beobachtung noch fehlt. Festzuhalten ist aber: Arme Frauen sind nicht die Treiber der Right to die Societies, nicht verwaiste junge Erwachsene, nicht Überlebende von Suizidversuchen. 2015 hat Großbritannien einen Gesetzesentwurf zur Selbsttötungsassistenz abgelehnt; stattdessen ein Ministerium für Einsamkeit gegründet. Bereits zu Beginn der Arbeit wurde bewusst, dass Einsamkeit nicht nur ein Problem der Alten ist, sondern auch der Jugendlichen. Wir haben kein Ministerium für Einsamkeit, selbst Forderungen nach einem solchen werden hierzulande nicht gestellt. Zusätzlich laboriert unsere Gesellschaft wie viele andere auch am Aufbau einer adäquaten Versorgung für PatientInnen mit Long Covid. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist nicht umgesetzt. Österreich hat noch immer kein eigenes Zentrum für Suizidforschung und -prävention, anders als Schweden, ein in der Suizidprävention führendes Land, wo bereits 1993 das National Institute for Suicide Prevention (NASP) eingerichtet wurde, das mit der Übernahme der Kosten der postgraduate Train the Trainers Programme für Länder der Dritten Welt sogar auf Ebene der Suizidprävention Entwicklungsarbeit leistet. In Schweden gilt Sterbehilfe und Euthanasie als im Widerspruch zur Wissenschaft und ärztlichen Erfahrung stehend und daher die Suizidprävention konterkarierend; ÄrztInnen in Schweden kann nach einem assistierten Suizid die Approbation entzogen werden. Bereits 2009 hat die Regierung die Nullvisjon Zero Suicide festgeschrieben, wobei Suizidprävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gilt. Studien zeigten, dass die Gesundheitsberufe nur 30 Prozent der Selbsttötungen verhindern können. (https://www.suicidezero.se/; Korrespondenz mit Dr. Johan Andreen, Psychiater, Kinder- und Jugendpsychiatrie, jahrelang im Vorstand von Suicide Zero, einer NGO zur Suizidprävention, die sich für die Nullvisjon stark machte.) Auch Norwegen hat die Nullvisjon, das Ziel einer Gesellschaft ohne Selbsttötungen, übernommen; in beiden Ländern erfahren Hinterbliebene von durch Selbsttötung Verstorbenen langfristige Unterstützung. Die intangiblen Kosten – Traumatisierung der von einem Suizid Betroffenen, dazu gehören auch ArbeitgeberInnen, KollegInnen, Rettungskräfte, PolizistInnen, FreundInnen, NachbarInnen – sind enorm, Selbsttötung ist nicht nur gewaltsam: Das Herz hört nicht von alleine zu schlagen auf, auch nicht in seiner von den Sterbehilfevereinen propagierten Form, es wird gewaltsam zum Stillstand gebracht – Selbsttötung zieht Kreise, da der Mensch ein soziales Wesen ist, selbst wenn er wie in einem Tunnel nur sich selbst und den Tod als einzig möglichen Ausweg aus diesem Tunnel sieht, wie es eine Genesungsbegleiterin, die selbst einen Suizidversuch hinter sich hat, nach dem Film Bruder Jakob, schläfst Du noch? bei einer Diskussion im Leokino in Innsbruck ausdrückte: Da hab ich nicht einmal meine eigenen Kinder gesehen. Suizid bietet keine Freiheit, kann aber eine Form des Widerstands sein, wie Erwin Ringel, Koryphäe der nationalen wie internationalen Suizidprävention, der die bahnbrechende Studie mit geretteten Selbstmördern durchführte, einmal in einem Gespräch betonte - zum Beispiel um unter der Folter niemanden zu verraten.

Selbstbestimmung mit Selbsttötung oder dem Töten auf Verlangen zu verbinden, wie es die Sterbehilfevereine weltweit erfolgreich tun, ist in meinen Augen Ausdruck von Obskurantismus: Der Tod beendet jede Selbstbestimmung. Oder schreiten wir nach dem Tod einher in die Selbstbestimmung? Warum Selbstbestimmung durch (Sich-)Töten/Töten auf Verlangen als Argument so gut funktioniert, ist mir als Atheistin nur dann verständlich, wenn wir mitbedenken, dass die meisten sehr wohl an etwas glauben, nämlich daran, dass danach irgendwas kommt, es irgendwie weitergeht. Wir leben nicht in einer säkularen Zeit, sondern in einer mit esoterischen, postfaschistischen, verschwörungserzählerischen Strömungen durchsetzten Zeit, oder, wie der Kulturwissenschaftler Thomas Macho in Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne (2017) schrieb, auch in einer Zeit der Wiederkehr nietzscheanischer Ideologie: Das 20. Jahrhundert beginnt im Zeichen Nietzsches, ja, es ist vielleicht sogar das Jahrhundert Nietzsches, wie gelegentlich behauptet wird. (S. 54). Nietzsches Denken mündete konsequent in ein engagiertes Plädoyer für den freiwilligen, den vernünftigen Tod. (S. 53). Macho kritisiert nicht etwa Nietzsche, er kritisiert die Suizidprävention, da sie gegenüber Selbsttötungen voreingenommen sei; Erwin Ringel findet sich als Copy-Paste-Neunzeiler im 531-seitigen Buch wieder. Selbsthilfegruppen oder gar Hinterbliebenenorganisationen kommen nicht vor. Der Antiklerikalismus, den sich sämtliche Sterbehilfeorganisationen an die Fahnen heften, ist kein aufgeklärter.

Im Schlussbericht des Dialogforums, das weitere Stellungnahmen beinhaltet (die von Konstantin Kaiser und mir ist unter „oftmals aus religiösen Gründen“ subsumiert, da kann man gar nicht genug betonen, dass man als Atheist und Atheistin, Exilforscher, Radikalfeministin schreibt; es ist anzunehmen, dass diese Subsumierung auch anderen Privatpersonen geschah), heißt es zu SLIÖ: Selbstbestimmt Leben Österreich moniert, dass ignoriert werde, wie Menschen mit Behinderungen von Anfang bis Ende ihres Lebens in ihrer Existenz bedroht seien. Statt über eine vermeintliche „Erlösung“ nachzudenken, müssten Lösungen gefunden werden, die den ureigenen Lebenswillen der Menschen durch Verbesserung der Rahmenbedingungen stärken. Mittlerweile sei hinlänglich bekannt, dass der Wunsch zu sterben oft aus dem Gefühl entstehe, für andere eine zu große Last zu sein.

Eine der Wenigen in den Medien oft und gern Porträtierten, die sich für das Recht auf einen selbstbestimmten Tod aussprechen,ist die an MS erkrankte Nikola Göttling. Fast in Zeitlupe zeigte der ORF, wie schwer ihr Bewegungen fallen. Ihr Blick in die Kamera: Schaut her, wenn es schlimmer wird, dann ist das doch kein Leben mehr! Sollen wir zustimmen? Wer ist wir? Und wie wirkt diese Zustimmung auf jene jungen Frauen, die heute mit der Diagnose MS konfrontiert werden, auf deren Angehörige, auf ihre Kinder? Diese Krankheit, MS, hat auch Mex M., vierzigjähriger Energieberater aus dem Waldviertel, der mittels Crowdfunding dank der Anwältin Michaela Krömer und Fridays for Future vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage für das Recht auf Klimaschutz eingebracht hat - ab 25 Grad Celsius ist er an den Rollstuhl angewiesen. Es ist die Hitze, die ihn bedroht – jene Temperaturen, die wir früher als Hitze bezeichnet haben, heute normale Sommer. Der an ALS erkrankte deutsche Autor und Journalist Benedict Maria Mülder jedenfalls rät: Vielleicht sollte der Bundestag das von ihm initiierte Denkmal im Tiergarten am Ort der Euthanasie-Zentrale der Nazis vor der endgültigen Beschlussfassung wieder aufsuchen. (Tagesspiegel, 11.11.2014, Plädoyer eines ALS Kranken, Lebenshilfe statt Sterbehilfe.)

 

Am 13.9.2021 riefen Selbstbestimmt Leben Steiermark in Abstimmung mit dem Österreichischen Behindertenrat und BIZEPS sowie den Selbstbestimmt Leben Initiativen Österreichs zur Unterzeichnung und Verbreitung einer Petition auf, der ich mich hiermit anschließe:

Gestartet wurde diese von Dr. Franz-Josef Huainigg am 9. September 2021 in Form eines Offenen Briefes - am 10. September ist Welttag der Suizidprävention –:

Beihilfe zum Suizid erlaubt? Aber wo bleibt die Beihilfe zum Leben? Zu den ErstunterzeichnerInnen gehören: Mag.a Dorothea Brozek, die einen Rechtsanspruch auf persönliche Assistenz, ähnlich wie in Schweden, fordert und deren Mutter gesagt worden war, dass sie nur sechs Jahre alt würde; Mag.a Bernadette Feuerstein, Mitbegründerin von BIZEPS; Prof.in. Dr.in. Iur. Rotraud Perner, promovierte Juristin, die sich als Psychotherapeutin auch mit Prostitution und Pornografie beschäftigt; Theresia Haidlmayr, sie zog sich 2008 nach vierzehnjähriger Tätigkeit im Nationalrat unfreiwillig als Behindertensprecherin der Grünen zurück; Univ.Prof. Dr. Ernst Berger, Facharzt für Kinder- u. Jugendpsychiatrie, Mitinitiator des Volksbegehrens Sozialstaat Österreich, Autor von Psychiatrie im Faschismus; Psychosoziale Belastungen für Kinder und Jugendliche – Konsequenzen neoliberaler Politik; Psychosen nach schwerer Traumatisierung; Lebenswille – Sterbewunsch; Kinderpsychiatrie in der NS – Zeit – Ordnungs- und Vernichtungspolitik in Kooperation mit Pädagogik und Fürsorge, Kinder der Rückkehr – Geschichte einer marginalisierten Jugend; Unausrottbarer Biologismus und der Missbrauch der Neuropsychologie; Marlies Neumüller, die erlebte, wie ein Wohltäter ihr den Kopf tätschelte, wie zuvor seinem Hund und es sich erlaubt, Licht ins Dunkel zu kritisieren; Prof.in. Dr.in Elisabeth Pittermann; Dr. Michael Preitschopf, Internist, klärt über Missverständnisse zu Palliativmedizin auf (APA, Palliativmedizin als Gegenentwurf zur Sterbehilfe, 6.11.2014); Dr. Thomas Szekeres, Humangenetiker, Präsident der Österreichischen Ärztekammer; Dr. Germain Weber, Präsident der Lebenshilfe, ehem. Dekan der Fakultät für Psychologie der Universität Wien, stellt sich Fragen zu den Wechselwirkungen zwischen Sterbehilfe und Suizidprävention, aufgewachsen in Luxemburg; Prof. DDr. Paul Michael Zulehner, Theologe, dessen Bruder mit einer schweren Behinderung lebte und damals ein potentieller Kandidat für Hartheim war; Oswald Föllerer, Mitarbeiter im Selbstvertretungs-Zentrum Wien, das von Menschen mit Lernschwierigkeiten gegründet wurde, und Sprecher der Gruppe Vienna People First, er wuchs zeitweise bei seiner Oma in der Engerthstraße 204 auf, Adresse der Theodor Kramer Gesellschaft.

Große Sorge wird in dem Offenen Brief geäußert, dass die 51 Empfehlungen des Allparteienbeschlusses des Parlaments vom 18. Juni 2015 anlässlich der Enquete Kommission „Würde am Ende des Lebens“ zu langsam umgesetzt werden, dass die Beihilfe zum Suizid alle Bemühungen zur Suizidprävention untergräbt, appelliert wird unter anderem, dass assistierter Suizid keinesfalls in Versorgungs- oder Betreuungseinrichtungen oder unter Einbeziehung von medizinischem und nichtmedizinischem Personal, die in diesen Einrichtungen arbeiten, [durchgeführt wird], da diese in nicht zumutbare Zielkonflikte gestoßen werden würden.

 

Am 18. August 2021 hatten die beiden Bürgermeister, Altbürgermeister Alfred Stingl (SPÖ) und Siegfried Nagl (ÖVP) der Menschenrechtsstadt Graz die Grazer Erklärung vorgestellt, sie fordert einen Rechtsanspruch für alle in Österreich lebenden Menschen auf Palliativ- und Hospizbetreuung sowie auf psychosoziale Suizidprävention. Vor zwanzig Jahren, unter dem sozialdemokratischen Bürgermeister Alfred Stingl, hatte sich Graz zur Menschenrechtsstadt erklärt, als erste in Europa. In diesem Sinne ist die Grazer Erklärung nach dem Grazer Dialog mit Vertretern der Ärztekammer, den Hospiz- und Palliativanbietern, psychiatrischen, psychologischen und psychotherapeutischen FachvertreterInnen, Behindertenorganisationen und den Religionsgemeinschaften verfasst worden. Man kann seine Unterstützung durch ein formloses Mail an den zuständigen Referenten Mag. Hans Putzer hans.putzer@stadt.graz.at zum Ausdruck bringen, ich habe es getan und würde mich freuen, wenn sich möglichst viele anschließen.

Aufrufen möchte ich auch zur Verbreitung des Aufsatzes des atheistischen kanadischen Professors Kevin Yuill, Associate Professor für Amerikanische Geschichte an der Universität Sunderland, England: For Abortion. Against Assisted Suicide. Aus dem Buch: Assisted Suicide: The Liberal, Humanist Case Against Legalization (2013) (online abrufbar unter https://www.researchgate.net/publication/304797828_For_Abortion_Against_Assisted_Suicide sowie von Susan M. Wolf, Professorin für Recht und Medizin an der Universität von Minnesota: Gender, Feminism, and Death: Physician-Assisted Suicide and Euthanasia (2011), und Physician-Assisted Suicide, Abortion, and Treatment Refusal: Using Gender to Analyze the Difference (1997). Kevin Yuill analysiert beide Bewegungen, die der blindwütigen AbtreibungsgegnerInnen (Pro Life) und die ebenso blindwütigen RuferInnen nach dem Recht-auf-Sterben, als postmoderne Bewegungen. Beide Bewegungen sind nicht älter als rund fünfzig Jahre und reduzieren den Menschen auf seine biologischen Funktionen. Sowohl Kevin Yuill als auch Susan M. Wolf arbeiten die Unterschiede zwischen Schwangerschaftsabbruch und Selbsttötungshilfe/Töten auf Verlangen heraus – Sterbehilfekläger ziehen bewusst Parallelen zwischen Abtreibung und selbstbestimmt sterben - ein Schachzug, der bemerkenswert gut gelingt, ebenso wie der postulierte Kampf gegen die Kirche. (Auch die österreichischen Kläger taten dies). Weiters zeichnen Sterbehilfebefürworter das Bild eines Menschen in Lebensgefangenschaft, die einzige Lösung sei der staatlich sanktionierte unterstützte Suizid/Töten auf Verlangen, amateurhafte Suizide würden die Volkswirtschaft und die Familien durch Verursachung von Kosten schädigen, wenn ein Suizidversuch scheitert. (Mein Vater war ein erfolgreicher Amateur). Dazu Theo A. Boer, der von 2005 bis 2014 als Mitglied der niederländischen Prüfungskommission über 4000 Gutachten im Rahmen der Überprüfung – im Nachhinein - der Rechtmäßigkeit aktiver Sterbehilfe erstellte: Wenn die Selbstbestimmung über das eigene Sterben ein Akt der Autonomie ist, soll der Patient so weit wie möglich diesen Suizid auch selbst organisieren und die ethische Verantwortung nicht an andere auslagern. (Die Zeit online, Stirbt der natürliche Tod? 26.2.2020) Boer warnt vor der Involvierung von ÄrztInnen, dies sende das Signal an die Menschen, der künstliche Tod wäre die richtige Lösung. Er erinnert sich an den Fall eines Patienten, der von seinem Onkologen mit den Worten heimgeschickt worden war, ihm bleibe für sein weiteres Leben nichts mehr außer Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen; über Palliativmedizin informierte der Onkologe nicht; an den einer dementen Frau, die vor der Verabreichung der Spritze aufwachte und sich wehrte, worauf sie ihre Familienmitglieder festhielten und der Arzt spritzte; generell habe durch die Normalisierung der Sterbehilfe der Druck von Verwandten in den letzten Jahren zugenommen, sowohl direkt als auch subtil. In bestimmten Regionen der Niederlande gehört aktive Sterbehilfe (Töten auf Verlangen) mit 10 bis 15 Prozent der gesamten Sterblichkeit (die nicht vorhersehbare Todesursachen wie Unfälle oder Gehirnblutungen miteinschließt) zu den wichtigsten Todesursachen. Meine Vorstellung war auch, was man reglementiert, hat man im Griff. Das hat sich nicht bewahrheitet. Vielmehr hat sich gezeigt: Wenn man eine umstrittene Praxis legalisiert, stellt man sie in einem Schaufenster aus als Warenangebot.

 

Ich halte es, in Anlehnung an die ProfessorInnen Kevin Yuill und Susan M. Wolf, für durchaus wahrscheinlich, dass in nicht ferner Zukunft Euthanasie bei gleichzeitigem Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen legalisiert wird. In dem Maße, wie bei Leihmutterschaft, Prostitution und Pornografie von Selbstbestimmung die Rede ist, wird Ungeborenen das Recht auf Selbstbestimmung zugeschrieben werden. Wir erleben einen Backlash nicht nur gegen den Sozialstaat und gegen die Werte der Aufklärung, wir erleben in gleichem Maße einen Backlash gegen Frauenrechte. Nietzsche mag es freuen.

 

Zurück zu Recht und Gerechtigkeit: Angesichts des internationalen Erfolgs der Euthanasiebefürworter kritisiert Prof Boer eine Entwicklung, in der nicht die Politik Gesetze schaffe, sondern Gerichte Gesetze erzwingen, eine demokratiepolitisch höchst bedenkliche Schieflage. In Kanada erfolgte 2015 der Urteilsspruch mit all seinen Konsequenzen. Nun reiht sich Österreich ein.

 

Der Pionier der holländischen Sterbehilfegesetze, der Psychiater Boudewijn Chabot, zeigt sich mittlerweile besorgt über die Entwicklung in den Niederlanden. Zusammen mit 200 niederländischen Ärzten hat er eine Petition vorgelegt und darauf hingewiesen, dass gesetzliche Schutzmaßnahmen langsam brechen, Menschen werden getötet ohne tatsächlicher mündlicher Zustimmung, er spricht von einer Entgleisung und beschuldigt die offizielle Euthanasiekommission, dass behinderte Menschen heimlich getötet wurden und dass jetzt Hinrichtungen vorkämen, berichtet Marianne Karner am 10.08.2017 auf Bizeps. Karner ist im Laufe ihres Berufslebens an MS erkrankt und seither im Rollstuhl mobil, sie publiziert seit Jahren zum Thema Sterbehilfe – und Nationalsozialismus. Studiert hat sie Evangelische Theologie.

 

Ich schlage vor, zu den zehn Geboten hinzuzufügen: Du sollst dem Staat nicht das Recht zum Töten geben.

 

Literatur