Laurenz Genner
Wo steht der Bauer?
Im niederösterreichischen Landtag haben sich christlichsoziale Abgeordnete scharf gegen den Fascismus gewendet und ein unzweideutiges Bekenntnis zur Demokratie abgelegt. Das hat verschiedene Wirkungen ausgelöst: die Arbeiter haben dieses Bekenntnis, dem freilich Taten folgen müßten, begrüßt, die "Reichspost" hat daran herumzudeuteln und es in ihrem Sinne auszulegen versucht, die Heimwehr ist in ein Wutgeheul ausgebrochen und hat die christlichsozialen B auernführer beschimpft
Und was sagen die Bauern draußen in den Dörfern?
Sozialdemokratische Vertrauensmänner haben in einem Dorfe Zeitungen verbreitet, die ausführliche Berichte über die Budgetdebatte im Landtag enthielten. Nachher erzählten sie ihre Erlebnisse. Sie haben in den vergangenen Jahren oft Zeitungen und Flugblätter verteilt und dabei manches erlebt: oft wurden sie beschimpft, oft wurden die Flugblätter vor ihren Augen zerrissen. Diesmal war es ganz anders. Ganz erstaunt berichteten die Vertrauensmänner, daß sogar Bauern, die früher bei solchen Gelegenheiten gehässige Bemerkungen gemacht haben, diesmal wortlos die Zeitungen genommen und den kleinen Beitrag dafür gezahlt haben. Andre haben ihre Freude darüber Ausdruck gegeben, daß sie "etwas zu lesen" erhielten. Und sie haben die Zeitungen gelesen: nachher wurde beim Kaufmann und im Wirtshaus über ihren Inhalt eifrig diskutiert. Warum greifen die Bauern jetzt freudig nach sozialdemokratischen Zeitungen? Weil sie die Wahrheit wissen möchten!
Kürzlich war Gemeinderatssitzung. In der Küche des Bürgermeisters saßen Bauern, Gewerbetreibende, einige Arbeiter. Es geht nicht um große Dinge im Gemeinderat eines Dorfes. Aber die Gegensätze zwischen den Kleinen und den Großen, die Klassengegensätze, offenbaren sich auch im Dorf oft in sehr schroffer Weise. Als im Jahre 1929 in vielen Dörfern in Niederösterreich zum erstenmal Sozialdemokraten in die Gemeindestuben kamen, wollte das mancher reiche Protz nicht wahrhaben, wollte weiter schalten und regieren wie bisher, ohne die Arbeitervertreter zu fragen. Da gab es oft harten Kampf, und nicht gerade in feinen Formen. Diesmal war eine Eintracht wie noch nie. Es war eine gedrückte und sorgenvolle Stimmung. Auch bei den Bauern. Nach der Sitzung blieben die Bauern noch eine Weile und sprachen von ihren Sorgen: von den Preisen, von der Notverordnung über die Schweinehaltung und über die Milchpreise. Die Bauern in den Dörfern, die weitab von der nächsten Bahnstation und dem nächsten Industrieort liegen, bringen überhaupt ihre Milch nicht mehr an; ihnen hilft keine Notverordnung. Auch von dem Käse, den die Arbeitslosen erhalten, sprachen sie; was sie sagten, kann man heute nicht schreiben. Bauern sind mißtrauisch, sind schweigsam. Heute sind sie schweigsamer denn je. Aber sie fühlen in dieser Zeit die Schicksalsverbundenheit mit den Arbeitern. Sie reden mit den Arbeitern von den gemeinsamen Sorgen und Nöten. "Dös is dös ganzi Unglück, daß d Orbeiter nix kafa kinnan", sagte ein Bauer. Und alle stimmten zu. Noch lange sprachen die Bauern von der Arbeitslosigkeit und der Not der Arbeiter. Eine so friedliche Gemeinderatssitzung war noch nie. "Jatzt kemman dö zur Einsicht", sagt ein bißchen verwundert ein Arbeiter beim Heimgehen.
In einem Nachbardorf ist eine Ortsgruppe des Verbandes der freien Arbeitsbauern. Die Mitglieder, kleine und mittlere Bauern, kaufen im Konsumverein des nächsten Industrieortes, obwohl dieser fünfzehn Kilometer entfernt ist, ein, was sie brauchen, und verkaufen dort ihre Erzeugnisse. Sie haben es selber erfahren, welchen Wert der Arbeiterkonsumverein auch für die Bauern hat. Diese Bauern haben die wirtschaftliche Verbindung mit den Arbeitern hergestellt. Und sie fahren gut dabei. Wirtschaftliche Zusammenarbeit, die allein die Not der Bauern wie der Arbeiter zu lindern vermag, ist freilich nur möglich im Geiste der Verständigung und der Gleichberechtigung.
In den letzten Jahren sind schwere Stürme über die Dörfer hinweggegangen. In der Blütezeit der Heimwehr waren alle unter dem Hahnenschwanzhut gegen die Arbeiter vereinigt: christlichsoziale Großbauern und "nationale" Förster, Oberlehrer, Advokaten. Damals war der Terror gegen die Arbeiter im Dorf am größten. Heute, wo die Heimwehr die ganze Macht im Staate an sich reßen will, kräht in den meisten Dörfern, in denen einmal Heimwehrortsgruppen waren, kein Hahn mehr nach den Hahnenschwänzlern. Die Naziflut, die dann hereinbrach, ist im Dorf abgeebbt; in den Landstädten freilich nimmt sie eher noch zu.
Was nun? Jeder, der die Bauern kennt und in das Landvolk hineinzuhorchen versteht, weiß, daß für die Vaterländische Front nirgends unter den Bauern Begeisterung zu finden ist. Bemerkenswert ist aber, daßß gerade jetzt, wo manches gegen die Arbeiter geschieht, bei den Bauern im Dorf draußen eine friedlichrer Stimmung gegenüber den sozialdemokratischen Arbeitern herrscht als in all den letzten Jahren, ja daß der Bauer in seiner Not ganz offensichtlich Annäherung an die Arbeiter sucht.
Der Fascismus hat viel Verwirrung und Unsicherheit in die Dörfer getragen. Langsam, aber ganz deutlich vollzieht sich eine Wandlung. Der Bauer verspürt an seinem Leib und erkennt darum immer mehr, daß es in Wahrheit nur zwei Fronten gibt: dort Großkapitalisten und Großgrundbesitzer, dort alle, die ein Interesse daran haben, daß die künstlich erzeugte Kluft zwischen Stadt und Land niemals überbrückt werde, hier das Arbeitsvolk, hier Arbeiter und Bauern. Man frage nur die Bauern, in welcher Front sie stehen wollen! Heute fällt ihnen die Antwort nicht mehr schwer.
Arbeiter-Zeitung, 31.12.1933, 4