David Josef Bach
Mahler für Jedermann
Das ist der Titel eines ausgezeichneten kleinen Büchleins, das Paul Stefan in der Sammlung "Die Wiedergabe" (Verlag der "Wila" 1923) herausgegeben hat. Aber dieser Titel, der ein Progrramm enthält, er wird nicht nur im Buche, sondern im Leben, in der lebendigen Wirksamkeit der Kunst allmählich zur Wahrheit. Die Werke Gustav Mahlers, einstmals umstritten, befehdet, beschmutzt, sind heute Besitz der musikalischen Welt geworden. Doch diese Welt selber, sie hat sich gewandelt, sie wächst von Tag zu Tag, in die Tiefe, sie wird stärker verankert, im Bewußtsein der Allgemeinheit; denn die Klasse der Zukunft, das schaffende Proletariat hat sein Recht auf die Kunst geltend gemacht und seine Pflicht gegen die Kunst anerkannt. Neunzehn Jahre bestehen die Arbeiter-Symphoniekonzerte; in dieser Zeit haben sie, und zwar in den letzten vier Jahren, drei Symphonien Mahlers gebracht, die vierte, die dritte, die erste, dann Orchesterlieder und jetzt, im letzten Konzert, das "Lied von der Erde". Wie war dieses doch schon in die Mode gekommen, wie sehr schon Geschäftsbetrieb - und nun stand es wieder da, von allem Unedlen des Musikbetriebs befreit, rein, herrlich wie am ersten Tag. An diesen zwei Abenden des Arbeiter-Symphoniekonzerts ist das Werk neu geboren worden, weil es zu neuen Menschen sprach, die es aufnahmen und als kostbares Besitztum hüten werden; wahrlich, nun ist Mahler für jedermann geworden.
Es ist kein Zufall, daß mit dem Privileg der Genießenden an diesem Werk auch das Prvilegium der alle seligmachenden und rechtgläubigen Wiedergabe gefallen ist. Da hatte sich ein Geheimdienst herausgebildet, mit Ritualformeln, Zeremonien, die, von ausschließlich befugten Priestern und Auslegern geübt, nur einem Chor der eingeweihten Gläubigen verständlich waren. Allein das Sakrileg ist geschehen, die Menge hat den Tempel gesürmt, und siehe, das Wunder leuchtet durch neue Mittler zauberhafter denn je. Das Ghetto, in das man die Kunst eines Mahlers sperrte - die Anbeter nich mehr als die Feinde -, ist gesprengt, und Mahler gehört, wie sich's gebührt, allen. Anders, musikalisch-technisch ausgedrückt: es sind neue Zeitmaße, neue dynamische Rückungen und Schattierungen in der Wiedergabe gewagt worden. Falsche Tempi! schreit das orthodoxe Mahlertum. Doch ihre Richtigkeit erweist sich nicht nur an der Wirkung, sondern an dem Ausdruck, an dem Sinn, den das Werk dadurch erhält. Unter Fritz Stiedrys (Berlin) Leitung, dem das letzte Konzert anvertraut war, erhielt das "Lied von der Erde" männlichen Charakter; die Sentimentalität, die heir so leicht überwuchert, wurde in herbes Gefühl, in starke, unsentimentale Empfindungen verwandelt. Wohl sang eine Frauenstimme, Emilie Bittner, wunderschön auch den letzten Abgesang, den Abschied von der Erde; vielleicht fordert gerade dieses Lied wie kein anderes den Klang einer dunklen Männerstimme. Doch auch von einer Frau gesungen, klang es stark, nicht weichlich im Gefühl - allerdings, dazu bedarf es auch einer Sängerin von den musikalischen und stimmlichen Vorzügen dieser Sängerin. Und das "Trinklied vom Jammer der Erde" - wann hat man es so gehört als gerade diesmal? Dr. Franz Szekelihidy sang es mit großer, wohlgebildeter und anschmiegsamer Stimme; den Ausdruck schulen Orchester und Dirigent. Nicht alles war ganz frei; die Ungewohntheit der Tempi brachte das Orchester zu einem fast selbstverständlichen Widerstand, der vom Dirigenten durch scharfes Festhalten an seinen eigenen Absichten erst überwunden werden mußte. Doch sobald dieses einmal erzwungen war, verlor sich der letzte Rest an Starrheit und in nur durch Musikalität gebändigter Freiheit musizierte das Orchester, daß es eine Freude war. Die Wirkung war außerordentlich. Immer wieder kann man nur sagen: "Wenn Mahler das erlebt hätte!", der Beifall nur so niedersausen würde, wer hätte das zu hoffen gewagt! Jetzt wiessen wir's: Mahler ist für jedermann geworden.
Vielleicht gehört es zum Sinn dieser Entwicklung, wenn dem "Lied von der Erde" ein Werk eines jungen Wiener Komponisten vorangestellt wurde, das im Gefühl und in der Idee von Gustav Mahler beeinflußt ist. Sonst hätte man da wohl etwas Gegensätzliches finden können. Doch fast war es eine innere Nötigung, just diesmal diesen Zyklus "Vom Tode" von Karl Horwitz aufzuführen. Will man Mahler ganz erobern, so muß man auch mit dem Geist dieses Künstlers fühlen, der das Recht neuer Begabungen mutig verfocht, als er schon ein mächtiger, einflußreicher Mann war. Horwitz einmal ein Schüler Schönbergs, steht unter dem Einfluß dieser Schule ebenso wie unter dem Mahlers; eigen bleibt das Gefühl, die Sittlichkeit dieser Musik, die im Vorspiel ein wenig mehr Absicht als reine Musikalität hat, eigen in den Liedern der melodische Ausdruck. Eduard Erhard sang sie vortrefflich, ihre musikalischen und stimmlichen Schwierigkeiten künstlerisch überwindend. Der Erfolg der neuen Komposition war ehrlich, wenn auch natürlich nicht so überwältigend wie das nachfolgende "Lied von der Erde". Es war eine Uraufführung aus dem Manuskript gewesen; es ist der Ruhm der Arbeit-Symphoniekonzerte, sich einer Pflicht zu unterziehen, die durch das Ergebnis bestätigt wird. "Sie haben mein Selbstvertrauen gestärkt," heißt es im Dankbrief des Komponisten. Auch das ist schönster Lohn für diese Konzerte.
Arbeiter-Zeitung, 25.1.1924, 9f
Weiterführende Links
Programm des Konzerts im Großen Saal des Wiener Musikvereins vom 20.1.1924
Karl Horwitzs (1884-1925) Vom Tode. Konzerthaus Berlin, 22.4.2011 (Youtube)