Alfred Apsler
Die deutsche Schmach
In kurzer Zeit ist bereits eine ansehnliche Literatur dokumentarischen und betrachdenden Inhalts über die Elementarkatastrophe des braunen "Erwachens" entstanden. In die Reihe aufwühlender Chroniken des nationalistischen Ungeists fügt sich auch die Broschüre "Volk in Ketten" von Max Klinger (Graphia, Karlsbad) ein; unzweifelhat stellt sie einen quellenmäßig wichtigen Beitrag der einst zu schreibenden Weltgeschichte des Jahres 1933 dar. Klar und scharf ist der unheimlich rasche Entwicklungsgang des "totalen Staates" in seiner letzten Phase nachgezeichnet; Großes, Ungeheures zwängt eine Laune des historischen Schicksals in eine atemraubend kurze Zeitspanne. Nun, da man bemüht ist, diese Vorgänge, deren Echo leidenschaftlich an Gefühl und Nerven rütteln, mit der Nüchternheit des Chronisten zu betrachten, vermag man erst den ganzen Jammer dieser in wenigen Monaten lawinenartig hereingebrochenen Vernichtungswelle zu fassen. Ein Jahr nur ist seit den Präludien dieses tragischen Schauspiels vergangen, aber die Zeit, von schrecklichen Ereignissen über und über voll, dünkt uns heute viel länger. Wer erinnert sich heute noch an Schleichers Glück und Ende, an Hugenbergs unrühmlichen Abgang, an die letzten großen Kundgebungen des Proletariats vor der beginnenden Entrechtung! Vereinzelt, zuerst noch illegal und von den Ordnungsgewalten verfolgt, begann der blutige, heimtückisch feige Terror einzusetzen, bis endlich Görings Faust die letzten Schranken des Rechtsstaates zerschlug und das Verbrechen zur nationalen Tat erhob. Nicht minder aufreizend als die Berichte vom Wüten sadistischer Büttel ist die Kunde von der Folterung tausender Deutscher. Noch lebt in manchem Angsttraum die dumpfe Atmosphäre der Judenboykttage fort, und lange, lange wird die Nation an den moralischen und kulturellen Schäden der Gleichschaltung von Hochschulen, Presse, Theater, Film, Rundfunk und Schule zu tragen haben. Das Kindespiel wird militarisiert, die Erziehungsstätte wird zum Exerzierplatz, über die ganze Welt tönt beunruhigend das Waffenrasseln der braunen Soldateska, halt der Klang des Stechschrittes, der neuen, blutig eingebleuten Gangart eines Kulturvolkes.
Bekanntes und Neues ist hier in einer guten Übersicht und historischer Folgerichtigkeit zusammengestellt; erfreulicheweise vermeidet die von der sozialdemokratischen Partei Deutschlands in der Emigration herausgegebenen Schrift jede Polemik gegen andre porletarische Gruppen, registriert aber sachlich die vielfach kritisierten Vorgänge in den Gewerkschaften und im Parteivorstand der reichsdeutschen Sozialdemokratie. Mit Erfolg wird versucht, die durch Ausnahmezustand und künstliche Vernebelungsversuche getrübte Wahrheit über das Dritte Reich aufzuhellen.
Arbeiter-Zeitung, 3.2.1934, 6
Anmerkung
Max Klinger war das Pseudonym des deutschen Sozialdemokraten Curt Geyer (kurze Biographie auf der Seite der Bundesstifung Aufarbeitung)