Alfred Weintraub
Der Sozialist Oskar Wilde
Zum dreißigsten Todestag des Dichters am 30. November
Seltsam, daß der irische Dichter Oslar Wilde, Sprößling einer patrizischen Familie und Liebling - so schien es, anfangs wenigstens - der hochmütigen und blasierten britischen Aristokraten, auch andres schrieb, als die viel zu bekannten oberflächlichen Bourgeoiskomödien, schwulstigen Liebestragödien und höchst dekadenten Gedichte. Nämlich auch zartsinnige soziale Märchen, einen aufwühlenden Roman und vor allem eine meisterliche Studie: "Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus." Abgesehen von den furchtbaren und großartigen Anklagewerken, die er im Gefängnis empfing und die das unbegreifliche Schicksal für ihn verfaßte. Vielleicht wird von den Schöpfungen dieses Leidmenschen, dem beiderlei Übermaß zuteil geworden, neben dem erschütternden Bekenntnis "De profundis" und der "Ballade vom Zuchthaus zu Reading" wenig mehr als diese weitschauende, klar begreifende Abhandlung über die Kulturbedeutung des Sozialismus zu den Beständen der Weltliteratur gehören, die unbarmherzig nur das Wesentliche und Entscheidene aufnimmt.
Von den Eltern hatte der Scharfsichtige und Aufhorchende soziales Empfinden und Verständnis geerbt. Der Vater war Wundarzt und Altertumsforscher, hatte den ersten Verdienst zur Gründung eines Hospitals für Augenheilkunde verwendet, behandelte zeitlebens die Ärmsten umsonst. Die Mutter, Dichterin, kämpfte mit flammenden Worten für die Befreiung Irlands, auf dem das korrupte England lastete. Als Oxforder Studetn begeisterte sich der junge Wilde an den Vorträgen des Sozialphilosophen und Menschenfreunde Ruskin, späterhin hat besonders stark der russische Sozialist Krapotkin auf ihn eingewirkt.
Aber lange Zeit hatte sich der Dichter von den Idealen seiner Jünglingsjahre abgewendet. es war erst in den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, damals, als der goldenen Jugend Altenglands unermeßliche Reichtümer zuströmten, aus den Kolonien nicht minder als aus den Schornsteinwäldern und Arbeitshöllen Manchesters und Schottlands, daß in einer Vierteljahresschrift jene kritische Studie erschien, unterzeichnet von demselben, der bisher als Verfasser zündender Witze und zynischer Aphorismen von adeligen männlichen und weiblichen Müßiggängern umschwärmt war. "Der Hauptvorzug", beginnt sie, wie selbstverständlich, "den die Herrschaft der sozialistischen Gesellschaftsordnung mit sich brächte, wäre ohne Zweifel, daß der Sozialismus uns von der gemeinen Nötigung, für andere zu leben, befreien würde, die bei der gegenwärtigen Einrichtung der Gesellschaft auf fast allen lastet." Er weiß, daß nur höchst wenige Auserkorene ihr Selbst zur Vollendung führen dürften, daß die meisten, selbst wenn auf ihnen die Sorge ums tägliche Brot minder lastet, einfach genötigt sind, ihr Leben an einem "ungefundenen, übertriebenen Altruismus" zu verderben. Das heißt, die irgendwie Besseren sind verzweifelt ob des Elends dieser Welt, wollen es lindern - und verlängern die Übel, indem sie heilen wollen.
"Sie werden das Problem niemals auf diese Art lösen." Das wahre Ziel ist, die Gesellschaft auf einer Grundlage neu aufzurichten, die die Armut ausschließt. Es sei also sowohl unsittlich als auch unehrlich Privateigentum zur Milderung der furchtbaren Übelstände zu verwenden, zu denen die Einrichtung des Privateigentums geführt hat. Wohltäter seien größere Schädlinge als die härtesten Sklavenhalter. Er schildert kurz die unmenschlichen Zustände. Erst unter er "Herrschaft des Sozialismus wird dies alles natürlich anders sein. Jedes Mitglied der Gesellschaft wird an ihrer allgemeinen Wohlfahrt, an ihrem allgemeinen Glück teilnehmen."
Der Sozialismus wird die Menschheit auch innerlich frei machen, weil er zum Individualismus hinüberleitet, ja ihn erst ermöglicht. Es ist daselbe, was einmal Engels meinte, als er sagte, die Herrschaft des Sozialismus ermögliche den Menschen den Sprung aus dem Reich der Notwendigkeiten in das Reich der Freiheit. Nur dann, wenn das Privateigentum in allgemeinen Reichtum umgewandelt wird, an Stelle der Konkurrenz die Kooperation tritt, wird der Mensch sein Leben selbst gestalten können. Wilde singt nicht mehr wie nach Carlyle von den Heiligkeit aller Arbeit, sondern spricht aufrichtig aus, daß es nur die "Arbeit von Lasttieren" sei, die den Enterbten aufgebürdet wird für den Vorteil einer kleinen Auslese, Arbeit "die ihnen gar nicht zusagt und zu der sie nur durch die unabweisbare, unvernünftige, erniedrigende Tyrannei der Not gezwungen werden". Ja der Gesellschafter der Aristokratie verherrlicht den Klassenkampf: "Die Besten unter den Armen sind nie dankbar. Sie sind undankbar, unzufrieden, unbotmäßig, Rebellen. Durch den Ungehorsam ist man zum Fortschritt gelangt, durch den Ungehorsam und die Empörung." Was mögen sich Wildes Klassengenossen dabei gedacht haben, wenn sie solches lasen, sie, die ihr Wohlleben nur der immer zweifelhafter werdenden Unterwürfigkeit des englischen Proletariats verdanken? "Man wird nun verstehen", bemerken mit Recht die Übersetzer Gustav Landauer und Hedwig Lachmann, "warum die englische Gesellschaft diesen genialen Mann, der einst ihr verhätschelter Liebling war, solange seine schönheitsdurftige seele mit ihnen zu spielen schien, später so tödlich haßte und so insam ins Elden stieß. Die Rache der Skalven ist schrecklich, die Ranküne der Herren ist unsäglich!"
Und, so fährt Wilde fort, weil Elend und Armut auf das Wesen des Menschen eine so lähmende Wirkung ausüben, daß "keine Klasse der Gesellschaft sich je wirklich ihres Leidens bewußt wird" - sind Agitatoren notwendig, Eindringlinge die "in irgendeine völlig unzufriedene Gesellschaftsschicht einbrechen und die Saat der Unzufriedenheit unter sie säen".
Aus dem Tollhaus des neunzehnten Jahrhunderts, aus der gewollten Beschränkung seiner Kaste ersehnt er die Möglichkeit freier Lebensgestaltung. Gegenwärtig ist es kaum einzelnen gestattet, ihr Individuum ausleben zu lassen, ist fast jeder ein Sklave der Maschine. "Gegenwärtig konkurriert die Maschine mit dem Menschen. Unter richtigen Verhältnissen wird sie dem Menschen dienen."
Soweit ist Wildes Gedankenreihe folgerichtig. Aber dann erweist es sich, daß bei ihm der egozentrische Künstler über den menscheitsumarmenden Politiker siegt. "Die neue Ordnung", so hofft er ziemlich unklar, "wird an Stelle des Zwanges die Freiheit setzen... für den Künslter gibt es nur eine passende Regierungsform, nämlich gar keine Regierung, nur in freiwilliger Vereinigung ist der Mensch schön".
Es ist der Traum von schönheit, Kraft, Gesundheit und Freiheit des menschlichen Seins, die er ersehnt, so daß man ihm, dem Schönheitsdurstigen, auch den ausspruch verzeihen kann, auf den er einmal sehr stolz war: "Wären die Armen nur nicht so häßlich, dann wäre das Problem der Armut leicht gelöst." Aber mit jener schrift hat er, der Umschmeichelte und Umworbene, tapfer dem Scheinreich der Schönheit entsagt, hier gleicht er dem jungen König (in seinem wundervollen gleichnamigen Märchen), der im entscheidenen Augenblick Purpur und Krongeschmeide von sich tut, weil er im Traum gesehen, daß sie aus blutigem Menschenweh gewoben seien.
Eduard Spranger teilt den Dichter der Kategorie "Ästhetischer Sozialisten" zu. Aber Wildes Schönheitsdrang ist nicht saftlos und weich gewesen, er stimmt solch überwältigenden Gesang an, ein Hoheslied des Sozialismus, daß diese bezaubernden Sätze bekannt sein müßten jedem Sozialisten, als Argument wieder das Lügengewebe einer zerfallenden Welt, die jedem, der ihre sanktionierten Satzungen anzutasten wagt, höchstens die Wahl freiläßt zwischen Nervenheilanstalt, Zuchthaus oder vorzeitigem Tode: "Wenn einmal der Sozialismus das Problem der Armut und die Wissenschaft das Problem der Krankheit gelöst hat, dann werden dem Reich der Sentimentalen engere Grenzen gezogen sein, und das Mitgefühl der Menschen wird ein umfassendes, ein gefundenes, natürliches sein. Der Mensch wird an der Betrachtung des freudigen Daseins der andern selbst Freude finden... Die moderne Welt... schlägt vor, die Armut und das daraus erwachsende Leiden zu vernichten. Sie will des Leidens und der daraus fließenden Qualen Herr werden. Sie hat sich dem Sozialismus und der Wissenschaft als ihren Methoden anvertraut. Ihr Ziel ist ein Individualismus, der sich durch Freude ausdrückt... Das Leiden ist nicht die letzte Stufe der Vollendung. Es ist nur ein vorläufiger Zutand und ein Protest. Es steht im Zusammenhang mit schlechten, ungefundenen, ungerechten Verhältnissen... Wonach der Mensch gestrebt ht, das ist in der Tat weder leid noch Freude, sonden einfach das Leben... Der neue Individualismus, in dessen Diensten der Sozialismus, ob er nun will oder nicht, arbeitet, wird vollkommene Harmonie sein... Er wird etwas Vollendetes sein, und durch ihn wird jeder Mensch zu seiner Vollendung gelangen. Der neue Individualismus ist das neue Griechentum."
Arbeiter-Zeitung, 30.11.1930, s.6
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Oscar Wilde: Der Sozialismus und die Seele des Menschen (deutsche Fassung von 1904) Wikisource