Alfred Apsler
Gibt es Gesetze des Kulturgeschehens?
Seit die Menschen wissenschaftlich zu denken vermögen, bemühen sie sich, aus der unendlichen Symphonie von Werden und Vergehen, der Kultur einen die Einzelvorgänge beherrschenden Rythmus herauszuhören. Man forsch unablässig nach einem Sinn in der verwirrend bunten Abfolge des kulturhistorischen Geschehens, weil es unserer von logischem und absichtsvollem Denken erfüllter Mentalität widerstrebt, ein richtungsloses auftauchen und Verschwinden von Kulturen anzunehmen. Das ist der psychologische Hintergrund der Ablehnung, die Spenglers Theorie vom restlosen Absterben einer jeden kulturellen Einheit vielfach gefunden hat, obwohl manche Tatsachen für ihn zu sprechen scheinen. Darum auch hört man so gern auf die tröstliche Lehre des Dichterhistorikers H.G. Wells von den geradlinigen Aufwärtsentwicklungen der Gesamtkultur.
Dieser beruhigenden Meinung tritt nun der Budapester Kulturhistoriker Paul Ligetti, der kürzlich in der Urania seine Gedanken entwickelt hat, entgegen; doch leugnet auch er nicht, das kontinuierliche Ineinandergreifen zeitlich sich ablösender Kulturformen. Sein Blick entdeckt am Gang der Geschichte ein unaufhörliches Auf und Nieder, eine über alle Bereiche des Seins sich erstreckende ewig weiter schwingende Wellenbewegung. Die beiden sich in jedem Menschen bekämpfenden Strebungen nach Beschränkung und nach Freiheit ergeben in ihren vielfältigen Mischverhältnissen Wellenberg und Wellental, aufsteigende und absteigende Phase. Den Anstieg beherrst ein Überwiegen streng ordnender Kräfte, deren sichtbarer Ausdruck eine blühende Architektur sei. Der Höhepunkt faßt die feindlichen Tendenzen harmonisch zusammen; Sinnbild des Ausgeleiches sei die Plastik. Dem Überhandnehmen des individualisierenden, zersetzenden Geistes auf der Abstiegseite endlich entspreche ein Vorherrschen der Malerei, und in den Niederungen des Kulturtodes erlöscht jede bildende Kunst.
Ligetti erprobt nun sein Schema an der Wahrheit des historischen Materials, und in der Tat besticht die kühne, großzügige Zeichnung, die er mit wenigen weit geschwungenen Strichen zu entwerfen vermag, den Hörer zuerst völlig. Die altägyptische Kultur ist ihm eine mächtige Anstiegsphase, eine architektonische Epoche, die in den Pyramiden und Sphinxen gigantische Spuren hinterlassen hat; die Antike leuchtet als goldenes Zeitalter der Skulptur, und der zerklüfteten abendländischen Welt ist die Malerei ein treuer Begleiter durch die Jahrhunderte. Innerhalb dieser großen Bewegung lassen sich kleinere Wellenspiele verfolgen; umgekehrt aber ist auch der ungeheure Zeitraum, der sich von den Tagen der Pharaonen bis zur Gegenwart spannt, nur der Ast einer noch größeren Kurve, der mit dem Schlagwort "Bauernkultur" versehen werden kann; vorangegangen sind Jahrtausende des Jäger- und Hirtenlebens, der Tiefstand von heute scheint einen dritten Abschnitt der Maschinenkultur einzuleiten.
In geistreicher Weise wird dieses netz fortgesponnen; immer enger und immer weiter verflechten sich die Maschen und der Vortragende umhüllt sie mit einem anziehenden Parfüm von historischen Beweisen, die seine große Kenntnis bezeugen. Das Werk ist jedenfalls als gedankliche Leistung höchst beachtenswert; es vermittelt auch in manchen historischen Bereichen deutlichere Vorstellungen. Doch nur zu bald entdeckt man in der Einseitigkeit des Standpunktes einen schwerwiegenden Konstruktionsfehler. Verläßt man die schmale weltanschauliche Basis, die der Vortragende bezogen hat, so fällt der imponierende Bau wie ein Kartenhaus zusammen. Ligetti ist vor allem Kunsthistoriker; mit dem Rüstzeug seiner Spezialwissenschaft bearbeitet er das gesamthistorische Rohmaterial, das durch diese einseitige arbeitstechnik allein nicht zu händigen ist. Wohl ist die Kunst immer Symbol und Symptom des Kulturgeschehens, aber ihre Eigengesetzlichkeit kann nicht zum ewigen Gesetz gemacht werden. Jedem, der für seine Betrachtung eine andere warte bezieht, wozu man die Berechtigung füglich nicht absprechen kann, muß der Satz "Die Malerei ist die Verkörperung der abendländischen Kultur", als höchst willkürliche Formel erscheinen. Was haben die Klosterdichtung, die Reformation, die Türckenkriege, Kant und die Physiokraten mit der Malerei zu tun? Und bot nicht das Griechenland der harmonischen Plastiken politisch das Bild denkbar trauriger Zerrissenheit? Wählen wir doch einmal einen Standpunkt, der uns näher liegt, etwa den ökonomischen, und das Bild würde sich fast in sein Gegenteil verkehren. Danach wäre die Welt von einem urfernen Höhepunkt der klassenlosen Gesellschaft in die Niederung des Klassenkampfes abgeglitten, die sie heute noch nicht völlig durchschritten hat, und er die Zukunft wird die Zeit eines Anstieges zur Überwindung des Klassengegensätze sein.
Arbeiter-Zeitung, 3.1.1934, 5
Anmerkungen
Das in der Urania vorgestellte Buch von Paul Ligeti war Der Weg aus dem Chaos. Eine Deutung des Weltgeschehens aus dem Rhythmus der Kunstentwicklung, erschienen 1931 in München.
Mehr zu Pal Ligeti: Rajesh Heynickx: Obscure(d) Modernism. The Aesthetics of the Architect Pal Ligeti, in: Modernist Cultures, Jg. 3, Nr. 2 (Mai 2008), Edinburgh University Press, S. 139–153.