Adele Jellinek
Der Fremde
Es war Besuchsstunde.
Ins Zimmer trat ein Fremder Mann.
Er trat an das Bett, wo die Kerze schwelte.
Das Mädchen sah ihn scheu und fragend an.
Wer bist du? Wo kommst du her?
"Ich komme über Land und Meer."
Wo willst du hin?
"Ich komme zu dir."
Zu mir?
"Ja, zu dir."
Ich habe dich nicht gerufen.
"Hast du nicht alle Menschen gezählt,
Die an dir vorübergehen?
Es gibrt so viele Menschen in der Welt,
Doch bei dir blieb keiner stehen.
Zu allen traten sie aus dem Leben her,
Mit Blumen und freundlichen Gaben,
Nur deine Seite blieb immer leer."
Das Mädchen hob die Augen sehnsüchtig und schwer.
Ich hab' sie alle gezählt.
Die an mir vorübergehen.
Es gibt so viele Menschen in der Welt
Wie der Sand am Meer!
Doch bei mir blieb keiner stehen.
"Ich komme aus dem Leben her."
Kommst du zu mir?
"Ja, zu dir."
Und hast du mich manchmal gesehen
Meine Hände heimlich breiten?
"Ich sah es über alle Weiten
Wie einen hellen Schimmer gehn."
Und hast du mich rufen gehört?
"Ja, über Raum und Zeit."
Und schiltst du mich nicht betört?
"Nein, denn ich ehre das Leid."
Wer bist du, wo kommst du her!
"Ich bin dein Bruder!
Dein Bruder Tropfen aus dem großen Meer."
O nein, du bist das Meer!
"Aus weiter Ferne komm' ich gegangen.
Ich suche dich. Ich komme zu dir."
Mein fremder Bruder - o wirklich -, zu mir!
Über des Mädchens fahle Wangen
Ging's leise wie ein Schimmer rot.
"Ja!" sagte der Tod.
Arbeiter-Zeitung, 1.11.1925, 17