Theodor Kramer Gesellschaft

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Daniel Müller
Brasilien-Chronik 1930-1985

Erschienen in "Exil in Brasilien". In: Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und Widerstands. 30. Jg. Nr.3-4 Dezember 2013, 39-41


1930    Beginn des Militäraufstands, der sogenannten Revolution von 1930, am 3. Oktober. Der Präsident der Republik Washington Lúis wird gestürzt und eine provisorische Regierungsjunta eingesetzt. Am 3. November wird Getúlio Vargas durch indirektes Votum zum Führer der Provisorischen Regierung erklärt. Vargas entstammte einer Großgrundbesitzerfamilie aus Rio Grande do Sul, war von 1926–28 Finanzminister im Kabinett Washington Lúis und danach Gouverneur seines Heimatstaates. Der 3. November markiert das Ende der "Alten" Republik (1889–1930), die vorwiegend geprägt war durch die Interessensallianz der Oligarchien der Bundesstaaten São Paulo (Kaffeeproduktion) und Minas Gerais (Viehzucht, vorwiegend Milch). Diese Politik wurde bekannt unter dem Namen café com leite ("Kaffee mit Milch"). Die Provisorische Regierung in der Person Vargas setzt in der Folge die Verfassung außer Kraft und löst den Kongress, die Parlamente der Bundesstaaten und Vertretungen der Kommunen auf, ersetzt die gewählten Gouverneure durch von ihm eingesetzte Beauftragte (interventores). Erste Maßnahmen zur Stärkung des Zentralstaats mit gleichzeitiger rechtlicher und politischer Schwächung der Bundesstaaten und Bildung staatlicher Institutionen zur Lenkung der Produktion werden eingeleitet. Die Gewerkschaften werden vereinheitlicht und dem Arbeitsministerium unterstellt, die Industrialisierung in den folgenden Jahren stark forciert. Vargas übernimmt die Kontrolle über Legislative und Exekutive.
Verschärfung der EinwanderInnengesetzgebung, die Zahl der MigrantInnen, die nach Brasilien einwandern dürfen, wird beschränkt. Davor bestanden praktisch keinerlei Einschränkungen der Immigration nach Brasilien. Im Gegenteil, zwischen 1887 und 1930 wanderten etwa 3,8 Millionen Menschen, vorwiegend aus Italien, Portugal, Spanien und Japan nach Brasilien ein. Die Nachfrage nach Arbeitskräften für die Kaffeeproduktion dieser Zeit war enorm. Kaffee war während der Ersten Republik mit durchschnittlich 60 % der Gesamtsumme Exportware Nummer eins. Noch 1920 waren fast 70 % der arbeitenden Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig.

1931    Die Christusstatue am Corcovado wird, Sinnbild für die enge Zusammenarbeit zwischen katholischer Kirche und Vargas-Staat, in Anwesenheit Vargas' und aller Minister feierlich eingeweiht.

1932    Militärischer Aufstand der Tenentes (Leutnants) im Bundesstaat São Paulo. Ziel dieser sogenannten konstitutionellen Revolution ist die Schwächung der Zentralgewalt, Forderungen sind die sofortige Abhaltung von Wahlen und die Wiedereinführung der Verfassung. Der Aufstand wird im Oktober von Regierungstruppen niedergeschlagen – die Macht der "Tenentes" (sie waren es gewesen, die die militärischen Revolten der zwanziger Jahre organisiert und gegen die Herrschaft der Oligarchien gekämpft hatten) schwindet.

1933    Im Januar findet die erste antifaschistische Protestkundgebung Brasiliens in Porto Alegre statt. Im Mai beschließt die Provisorische Regierung die direkte Wahl einer Konstituierenden Nationalversammlung, nicht zuletzt als Reaktion auf den Aufstand in São Paulo im Jahr zuvor.

1934    In Rio de Janeiro wird eine Protestveranstaltung gegen die Judenverfolgung in Deutschland verboten. Es kommt zu antisemitischen Übergriffen durch die Polizei auf der Straße und in Cafés. Wenig später wird der berüchtige Nazisympathisant und Antisemit Filinto Müller zum Chef der Politischen Polizei von Rio de Janeiro bestellt. Er ist 1936 mitverantwortlich für die Deportationen der deutsch-jüdischen Kommunistinnen Olga Benário Prestes und Elise Ewert nach Deutschland. Bénario Prestes wird 1942 in Bernburg im Rahmen der "Aktion T4" ermordet. Ewert, an Tuberkulose erkrankt, stirbt 1939 nach grausamen Misshandlungen im KZ Ravensbrück.
Im Juli verkündet die neu gewählte Konstituierende Nationalversammlung die neue Verfassung und wählt Vargas zum Präsidenten der Republik. Wichtiges Merkmal ist die erstmalige Verankerung der "nationalen Sicherheit" in der Verfassung. Das Frauenwahlrecht wird verfassungsmäßig ebenso festgeschrieben wie das Postulat einer "ethnischen Integration" als Ziel der Einwanderungspolitik.

1935    Kommunistischer Militäraufstand, der nach wenigen Stunden scheitert. Der PCB (Partido Comunista do Brasil), führend in der antifaschistischen Allianz ANL, die den Aufstand vorbereitete, wurde 1922 vorwiegend von bis dahin anarcho-syndikalistischen Arbeitern gegründet und blieb bis zu seiner Neuorientierung unter dem Einfluss der Komintern 1934 und durch den Beitritt des "Tenente" Lúis Carlos Prestes, der schon 1924 eine militärische Revolte versucht hatte, eine kleine Bewegung, die darüberhinaus die meiste Zeit in der Illegalität agierte. Das vorrevolutionäre Klima, das PCB-Mitglieder und Komintern diagnostizierten, war offensichtlich nicht mehr als eine Wunschvorstellung, die folgenden Repressionsmaßnahmen der Regierung allerdings waren fatal: Der Ausnahmezustand wird zur Regel.

1936    Errichtung des Tribunal de Segurança Nacional (Gericht zur Nationalen Sicherheit) mit dem Ziel der Verurteilung der am Aufstand von 1935 beteiligten KommunistInnen. Dieses Ausnahmegericht wird in der Folge zu einer ständigen Einrichtung.

1937    Vargas autorisiert ein geheimes Rundschreiben, das die Visumvergabe an Jüdinnen und Juden, die nach Brasilien einwandern wollen, verbietet. Dieses Rundschreiben wird ein Jahr später modifiziert, temporäre Aufenthaltsbewilligungen werden wieder erteilt, der Status (jüdischer) Flüchtlinge bleibt zumeist prekär, die Einreise schwierig.
Am 10. November wird durch einen Staatsstreich des Regimes Vargas die Verfassung außer Kraft gesetzt und unter Berufung auf die nationale Sicherheit der Estado Novo ("Neuer Staat") ausgerufen. Die Nationalversammlung wird aufgelöst, Brasilien zur offenen Diktatur; alle Parteien werden verboten. Als Vorwand für den Staatsstreich dient der sogenannte "Cohen-Plan", eine Erfindung des Integralisten Olímpio Mourão Filho, der, durch den jüdischen Namen des angeblichen Verfassers, Cohen, den antisemtischen Topos einer jüdisch-kommunistischen Weltverschwörung bedienend, einen angeblich bevorstehenden Revolutionsversuch der Kommunisten in Brasilien fingiert und an die Öffentlichkeit bringt.

1938    Dekret zum Verbot der politischen Betätigung von Ausländern, Gründung von Außenstellen ausländischer Parteien und Verbreitung von deren Ideen in Brasilien. Dieses Gesetz erschwert bis verunmöglicht jegliche breiter organisierte politische Tätigkeit der in Brasilien lebenden ExilantInnen.
Im Mai scheitert ein Putschversuch der AIB (Ação Integralista Brasileira). Die faschistische AIB wurde 1932 als Zusammenschluss kleiner faschistischer Gruppierungen gegründet und unterstützte zunächst die Regierung Vargas.
Im August wird ein Gesetzesdekret beschlossen, das Lohnarbeit für Immigranten nur mehr aufgrund einer permantenten Aufenthaltsbewilligung, der "carteira Modelo 19", ermöglicht. Bei Nichteinhaltung drohen ein Jahr Haft oder die Ausweisung. Der Leiter des Conselho de Imigração e Colonização (CIC), Teil des Außenministeriums, schreibt dem "semitischen Problem" in seiner ersten offiziellen Stellungnahme entscheidende Bedeutung für die Einwanderungspolitik zu.

1941    Mai: Ankunft der Gruppe Görgen, unter ihnen Ulrich und Dana Becher, Johannes Hoffer und Walter Kreiser. Die Flucht führte unter der Leitung Hermann Görgens von Genf über Frankreich, Spanien und Portugal nach Brasilien.
Im August tritt ein Gesetz in Kraft, das nicht-portugiesischsprachige Zeitungen verbietet – ein weiteres Hindernis nicht nur für Exilpublikationen, sondern auch für die jiddischsprachige Presse Brasiliens, die von nun an auf Portugiesisch publiziert.

1942    Panamerikanische Konferenz in Rio, Brasilien bricht die diplomatischen Beziehungen zu Nazideutschland und seinen Verbündeten ab. Am 22. August folgt die Kriegserklärung Brasiliens an Deutschland und Italien.

1943    Jüdische Flüchtlinge errichten in Rio de Janeiro ein Stefan-Zweig-Denkmal.
Willy Keller gründet die "Notgemeinschaft deutscher Antifaschisten" und die "Notbücherei deutscher Antifaschisten", wo das einzige deutschsprachige, während des Exils in Brasilien veröffentlichte, belletristische Werk, Ulrich Bechers Moritat "Das Märchen vom Räuber, der Schutzmann wurde", im selben Jahr erscheint.
Gründung des Comitê de Proteção dos Interesses Austríacos no Brasil, das von der brasilianischen Regierung als österreichische Interessensvertretung anerkannt wird und nicht unter das Gesetz zum Verbot politischer Auslandsvereinigungen fällt.

1944    Entsendung eines Expeditionskorps von über 20.000 Mann nach Europa. In der Schlacht von Monte Castello kämpfen brasilianische Infanteriereinheiten an der Seite der 10th Mountain Division, in der der österreichische Skipionier und Nazigegner Hannes Schneider, seit 1939 in den USA im Exil, als Skilehrer tätig war.

1945 Beschluss zur Abhaltung der Wahl des Präsidenten und einer Konstituierenden Nationalversammlung. Entstehung der Parteien PSD (Sozialdemokratische Partei), der sich aus dem Staatsapparat mit Unterstützung der Beamten (einer von ihnen Filinto Müller) und Vargas selbst sowie der von ihm eingesetzten Gouverneure der Bundesstaaten formiert, PTB (Brasilianische Arbeiterpartei), ebenfalls mit Vargas' Unterstützung, ausgehend von den dem Arbeitsministerium unterstellten Gewerkschaften, und UDN (Nationaldemokratische Union), als konservative Opposition zu Vargas und seinem Estado Novo.
Am 29. Okober wird Vargas von der Armee gestürzt. Der Sozialdemokrat Dutra gewinnt wenige Wochen später die Wahl und wird Präsident. Vargas hatte zuvor öffentlich seine Untersützung für Dutra erklärt.

1946    Inkrafttreten der neuen Verfassung. Brasilien wird definiert als föderative Republik mit einem präsidialen Regierungssystem. Beginn der Zweiten Rebublik.
Entstehung des "Freien Europäischen Künstlertheaters" in Rio de Janeiro, des ersten deutschsprachigen Exiltheaters Brasiliens. Als erstes Stück wird Anton Wildgans' "Armut" aufgeführt. 1949 kommt es bei dem von Willy Keller inszenierten Sartre-Stück "Hinter verschlossenen Türen" ("Huis clos") zu einem handfesten Skandal, als ein Teil des Publikums zu randalieren beginnt.

1947    Die Kommunistische Partei Brasiliens (PCB) wird, zwei Jahre nach ihrer Legalisierung im Zuge der Wahlen, wieder verboten. 1948 werden auch die Mandate ihrer Abgeordneten aufgehoben.

1951    Vargas gewinnt die Präsidentschaftswahlen und kehrt als Präsident der Republik auf die politische Bühne zurück.

1953    Generalstreik in São Paulo. 300.000 ArbeiterInnen demonstrieren für eine Lohnerhöhung um 60 % und gegen die repressive Streikgesetzgebung. In Rio de Janeiro, Santos und Belém streiken 100.000 Matrosen u.a. für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen.

1954    Getúlio Vargas begeht am 24. August Selbstmord, nachdem klar wird, dass die Armee ihn absetzen würde. Am Vortag hatten 27 Generäle einen Aufruf an die Nation mit der Forderung des Rücktritts des Präsidenten gerichtet. Vizepräsident Café Filho übernimmt die Amtsgeschäfte.

1955    Juscelino Kubitschek, als Kandidat einer Allianz aus PSD und PTB, gewinnt die Präsidentschaftswahlen mit knapper Mehrheit und wird Präsident Brasiliens. Kubitschek stammt aus dem Bundesstaat Minas Gerais, wo er 1950 zum Gouverneur gewählt wurde. Sein Vater war Handelsreisender, seine Mutter Lehrerin. Ihre Vorfahren dürften tschechische Roma gewesen sein. Er forcierte den Ausbau von Infrastruktur und Automobilindustrie. Sein größtes und bekanntestes Projekt ist die Veranlassung zum Bau der neuen Hauptstadt Brasília, geplant und entwickelt von Lúcio Costa, Oscar Niemeyer und Roberto Burle Marx.

1957    Willy Keller gründet das Deutsch-Brasilianische Kulturinsitut (das spätere Goethe-Institut) in Rio de Janeiro.

1960    Die neue Hauptstadt Brasília, ein Produkt der brasilianischen Moderne, wird am 21. April feierlich eingeweiht.

1964     Staatsstreich des Militärs. Präsident João Goulart wird abgesetzt. Beginn der Militärdiktatur. Ein Zwei-Parteien-System wird installiert: die Regierungspartei ARENA (Aliança Renovadora Nacional), vorwiegend gebildet aus Abgeordneten der früheren UDN und dem rechten Flügel des PSD, in Opposition zum MDB (Movimento Democrático Brasileiro), dessen Mitglieder zuvor zu einem geringen Teil dem PSD und großteils dem PTB angehörten. Abgeordnete der ARENA sind unter anderem der Faschist und Antisemit Plínio Salgado, Gründer der Integralistischen Aktion, schon unter Kubitschek Vorsitzender des Nationalen Instituts für Immigration und Kolonisierung, und Filinto Müller.

1967    Der Österreicher Franz Stangl, hoher Verwaltungsbeamter der NS-Tötungsanstalten Hartheim und Bernburg, Lagerkommandant der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka wird verhaftet. Als Simon Wiesenthal ihn in São Paulo ausfindig macht, arbeitet er ebendort in einer Volkswagenfabrik. Er wird in Westdeutschland für den Massenmord an 900.000 Menschen zu lebenslanger Haft verurteilt.

1969    Die Musiker und Aktivisten Caetano Veloso und Gilberto Gil werden verhaftet. Nach neun Monaten werden sie entlassen und gehen ins Exil nach London.

1978    Der österreichische Naziverbrecher und Massenmörder Gustav Wagner, stellvertretender Kommandant des Vernichtungslagers Sobibor, wird von Simon Wiesenthal aufgespürt. Er war Anfang der 50er-Jahre über eine "Rattenlinie" nach Brasilien gekommen, wo ihm eine permantente Aufenthaltsbewilligung und kurze Zeit später die brasilianische Staatsbürgerschaft zuerkannt wurden. Er wird zwar verhaftet, die Auslieferungsgesuche Israels, Polens, Österreichs und Westdeutschlands werden aber von der Staatsanwaltschaft und vom obersten Gerichtshof abgewiesen. Er stirbt mit einem Messer in der Brust 1980 in São Paulo.

1985    Ende der brasilianischen Militärdiktatur.

 

Grundlagen der österreichischen Exilliteratur. Begleitende Studien zu einem „Handbuch der Österreichischen Exilliteratur in zwei Bänden“

Ein Projekt des Vereins zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur und der Theodor Kramer Gesellschaft

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