Die unterschlagenen Geheimnisse der Milchfrau in Ottakring
Alle paar Jahre wieder geistert sie durch Österreichs Feuilletons: die im sibirischen Perm aufgewachsene Galina Djuragina, verheiratete von Hoyer, die den Bolschewiken nach Österreich entflohene aufrechte Zeitzeugin, die sich heroisch als "Milchfrau in Ottakring" durchschlug, mit ihren russischen "Tagebuch"- Romanen in den 1930er- Jahren reüssierte, ehe sie schließlich von den Nazis nach 1938 unterdrückt und verfolgt wurde – die Rede ist von der unter ihrem Pseudonym bekannten Alja Rachmanowa.
Die literarhistorische Marginalie wird zum aktuellen politischen Ärgernis, wenn der ORF just in einem dokumentarischen Filmbericht (im März) zum Erinnerungsjahr 1938 die Rachmanowa als geradezu paradigmatische Märtyrerin des NS-Regimes stilisiert und in diesem Sinne deren Biographin Ilse Stahr breiten Raum gibt.[1]
Stahr verspricht, das "Geheimnis der Milchfrau in Ottakring" zu enthüllen, doch für die Hagiographin Stahr ist Rachmanowa eigentlich kein Geheimnis, denn für sie ist klar: Romane in Tagebuchform sind identisch mit den Tagebüchern, und Tagebücher sind unverfälschte Zeitzeugnisse.
Unverfälscht sind demnach auch Rachmanowas sonstige Aussagen zur eigenen Biographie – wie die folgende: Nach ihrer Flucht aus Salzburg, wo sie 1927-1945 gelebt hat, in die Schweiz, verfasste Rachmanowa am 11. Mai 1945 auf Bitte des Verlegers Max Rascher eine Stellungnahme zu ihrer politischen Einstellung: "Ich will Ihnen gleich die wichtigsten Tatsachen zur Entkräftung der Vorwürfe anführen, die einzelne Personen gegen mich erheben." Als Fakten führt sie an: Nichtaufnahme in die Reichsschrifttumskammer, Boykott der Vortragsreisen, Film- und Bücherverbot, Verhör bei der Gestapo und Nichtbeachtung bei kulturellen Veranstaltungen. Weiters hat sie hervorgehoben, dass kein Mitglied der Familie Hoyer jemals bei der NSDAP gewesen sei. Sie habe weder auf die Drohungen noch auf die Anwerbungen der Nationalsozialisten ideologisch entsprechend reagiert. Zusammenfassend stellte sie fest: "Der Nationalsozialismus hat mich als Schriftstellerin umgebracht und wenn er gesiegt hätte, hätte es für mich auch niemals mehr eine Auferstehung gegeben. Ist es da nicht geradezu absurd, mich der Anhängerschaft des Nationalsozialismus zu beschuldigen?"[2]
Unbekümmert um quellenkritische oder sonstige Skrupel macht sich Stahr diese "Lesart" zu Eigen – übrigens prominent unterstützt vom alldieweil gar gründlichen Literaturdetektiv Dietmar Grieser, der sich nach einer Recherche in Form der Lektüre des "vergriffenen" Romans für eine "Wiedergutmachung" an der "zweimal von Amts wegen aus dem Verkehr Gezogenen" stark macht.[3]
Ihren Aufstieg zur Autorin mit 100.000er-Auflagen in den Jahren von 1933 bis 1938 verdankt Rachmanowa vor allem ihrem Publikum in Nazi-Deutschland, das durch die Leipziger Dependance des Pustet-Verlags unbehelligt bedient werden konnte. Mehr noch: "1936/1937 reiste Alja Rachmanowa im Zuge ihrer Lesungen nach Münster, Freiburg, Offenburg, Köln, Wuppertal, Bielefeld, Düsseldorf, Halle, Göttingen, Frankfurt, Heidelberg und München. Überall wurde sie umjubelt und gefeiert, bis es 1938 zum Bruch in ihrem Leben kam."[4]
Ein besonderer "Verehrer" war Propagandaminister Joseph Goebbels, der in einer Tagebuchnotiz vom 6. Juni 1936 Rachmanowas Roman "Die Fabrik des neuen Menschen" (1935) als mustergültige "Darstellung der Hölle Sowjetrusslands" qualifizierte.[5] Dieser Roman wurde im März 1936 von der mit der faschistoiden Action Francaise eng verbundenen Academie d'education et d'entre-aide sociales als bester antibolschewistischer Roman des Jahres mit 50.000 Francs prämiert.[6]
Dies alles ist für Stahr nicht weiter hinterfragenswert. Stattdessen bietet sie dem Leser einige irreführende Spuren und konnotative Täuschungsmanöver zur "Antifaschistin" Rachmanowa an: Beiläufiges wird aus Thomas Bernhards "Die Ursache" zitiert, doch seine durch den Kontext sich aufdrängende Analyse des (Salzburger) "katholischen Nationalsozialismus" bleibt ausgeblendet.[7] Stefan Zweigs "berühmter Brief an Romain Rolland vom 2. Mai 1938" wird erwähnt, nicht aber sein Inhalt. "Salzburg, die Stadt, die am stärksten nazistisch war ... die Stadt, die gestern als erste in Österreich unsere Bücher verbrannt hat"; wäre er nicht weggegangen, wäre er "heute in einem Konzentrationslager oder schon ermordet."
An anderer Stelle suggeriert Stahr, die Rachmanowa sei auf einer Liste "unerwünschten Schrifttums" gemeinsam mit Autorinnen wie Marieluise Fleißer, Mascha Kaleko oder Erika Mann gestanden.[8] Besonders dreist ist Stahrs explizite Gleichsetzung der Rachmanowa mit der Sozialistin Lili Körber: "Eine ähnliche Absicht verfolgte auch die in Moskau geborene Wienerin Lili Körber, die mit ihrem Roman Eine Frau erlebt den roten Alltag. Ein Tagebuchroman aus den Putilowwerken (1932) ebenfalls Aufklärung leisten wollte ... Lili Körber erlebte ein ähnliches Schicksal wie Alja Rachmanowa: In Russland mit ihrer Familie 1915 zur Ausreise gezwungen, erlangte sie in Österreich für kurze Zeit Berühmtheit, wurde ebenso wie Alja Rachmanowa von den Nationalsozialisten verfolgt und vertrieben, wodurch ihre schriftstellerische Karriere abrupt endete."[9] Nun, Körbers (skeptische) Leningrad–Reportage war nicht feindselig gegenüber der Sowjetunion und ihren Mühen "um den richtigen Gang des Lebens"; nach 1934 schrieb sie einen (rasch verbotenen) Roman "Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland" und eine Hitler-Satire, im März 1938 ging sie ins Exil, ihr Text "Eine Österreicherin erlebt den Anschluß" erschien schon bald in einer Schweizer Zeitung als Fortsetzungsroman. Was also tat Rachmanowa "ebenfalls, ebenso"?[10]
"Drei Leiterwagen voll Bücher haben wir herbeigeschafft."
Vor kurzem hat der Basler Slawist Heinrich Riggenbach, der den Nachlass Rachmanowas in der Kantonsbibliothek Thurgau seit Jahren erforscht, deren literarisch unbearbeitete (vier) Salzburger Tagebücher aus den Kriegsjahren 1942 bis 1945 übersetzt und in einer ausführlich und vorzüglich kommentierten Edition veröffentlicht.[11] "Es besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied zwischen den hier übersetzten und den von Alja Rachmanowa selbst veröffentlichten Tagebüchern: Die als Trilogie bekannten Werke sind keine authentischen Tagebücher, wie die meisten Leserinnen und Leser zu ihrer Zeit meinten und zum Teil heute noch meinen."[12]
Die Haltung der Familie von Hoyer dem Nationalsozialismus gegenüber wird darin besonders augenscheinlich. Auch über die Ausweisung der Familie aus der Sowjetunion im Jahr 1926 und die Flucht des Ehepaars in die Schweiz im April 1945 enthält Riggenbachs Kommentar viel Erhellendes – und Nachdenkliches, da die bis 1937 geschriebenen Tagebücher fast vollständig in dem sonst sehr umfangreichen Nachlass fehlen. Weshalb sie "nicht mehr vorhanden sind, ist eine noch ungeklärte Frage."[13]
Der 16-jährige Sohn Alexander/"Jurka" war nach dem "Anschluss" Österreichs im März 1938 von Anfang an in der Hitlerjugend aktiv. Unter anderem war er auch bei der Bücherverbrennung auf dem Salzburger Residenzplatz am 30. April beteiligt. Alja Rachmanowa notierte zu diesem Ereignis in ihrem Kalender seine Worte: "Drei Leiterwagen voll Bücher haben wir herbeigeschafft."[14] "Dank den Kalendernotizen von Alja Rachmanowa zeigt sich, dass die Zugehörigkeit zur Hitler-Jugend intensiv und die Anteilnahme der Eltern groß war."[15]
Sohn Alexander engagierte sich in der HJ bis zur Verausgabung und wurde am 6. Juli 1938 zum Kameradschaftsführer gewählt. In den Folgejahren gehörte er als Mitglied der Kameradschaft Lützow dem NS-Studentenbund an. Arnulf von Hoyer war schon ab März 1938 Mitglied des NS-Kraftfahrkorps, einer der sieben Gliederungen der NSDAP. Zudem gehörte er dem NS-Lehrerbund an und wurde nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion als Auskunfts- und Kontaktmann der Salzburger Außenstelle der (gleichgeschalteten) Reichsfachschaft für das Dolmetscherwesen (RfD) kundgemacht. Alja Rachmanowa selber trat 1938 der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) bei. "Somit gehörten alle Mitglieder der Familie von Hoyer einer Organisation der NSDAP an, Arnulf von Hoyer sogar deren zwei."[16]
Am 30. Mai 1938 notierte Alja Rachmanowa in ihrem Taschenkalender: "Wir haben die Villa am Giselakai gekauft." Gemäß den Notizen in diesem Kalender tauchte die Idee, dort auch zu wohnen, erst im Verlauf des Jahres auf. "Dies lässt auf einen Gelegenheitskauf als Geldanlage schließen." Zeichen des Wohlstands waren auch Reisen mit dem eigenen Auto (ab 1938 ein Ford V8), u.a. nach Schweden.[17]
Das Deutsche Bücherverzeichnis[18] registriert für die Jahre ab 1938 als Neuerscheinungen der "verbotenen" Autorin:
- Jurka. Tagebuch einer Mutter (nach August 1938) es erreicht rasch eine 4. Auflage (26.- 30. Tsd.);
- Wera Fedorowna. Roman einer russischen Schauspielerin – erscheint 1940, eine 6. Auflage folgt bereits 1941.
Weiter sind noch als lieferbar verzeichnet[19]:
- Tragödie einer Liebe. Roman der Ehe Leo Tolstojs (10. Auflage, 46.-50. Tsd., 1939);
- Die Fabrik des neuen Menschen (16. Aufl.,78.-83. Tsd., 1939);
- Geheimnisse um Tataren und Götzen, Erinnerungen aus dem Ural (6. Auflage, 1939);
- Ehen im roten Sturm. Tagebuch einer russischen Frau (30.Auflage, 1939);
drei Bände der "russischen Tagebücher" zum ermäßigten Preis in einer Geschenkkassette.
Niemals ist auf einer amtlichen, aber geheim gehaltenen "Liste des unerwünschten und schädlichen Schrifttums" noch in der dem Buchhandel zugänglichen "Liste der für Jugendliche und Büchereien ungeeigneten Druckschriften" ein Werk Rachmanowas aufgeführt.[20]
Allerdings gab es offenkundig auch informell durchgesetzte Weisungen ab 1939 durch die Schrifttumsabteilung (VIII) des Goebbels-Ministeriums. Opfer einer solchen Weisung wurde Rachmanowa, deren ältere Bücher ab 1938/39 im Buchhandel nicht mehr zugänglich waren. Zwei Gründe scheinen hierfür ausschlaggebend gewesen zu sein: Zum einem ihr vertrauter Umgang mit dem katholischen Salzburger Klerus und die Affinität ihres neuen Verlags, des Otto Müller-Verlags, zu verbotenen kirchennahen Organisationen, die der NS-Starkritiker Will Vesper im Einklang mit dem Amt Rosenberg als Verbreiter von "Gift gegen den Nationalsozialismus" attackierte.[21]
Zum zweiten wurde sie (zeitweilig) auch ein Kollateral-Opfer der großen Politik – nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt im August 1939: Im Gegensatz zur Presse, die aus den russischen "Untermenschen" nun "Waffenbrüder" zu machen hatte, "wurde dem dauerhaften Buchmedium Stillschweigen auferlegt. In der Geheimen Ministerkonferenz vom 20. Dezember 1939 wurde verordnet, es solle 'vorläufig keine Rußlandliteratur veröffentlicht werden, lediglich dann, wenn eine politische Notwendigkeit vorliegt'. Am 29. Dezember 1939 notierte Goebbels in seinem Tagebuch, er habe auf der Pressekonferenz 'unsere Haltung Rußland gegenüber dargelegt. Wir müssen uns da sehr in der Reserve halten. Keine Broschüren und Bücher mehr über Rußland, weder positiv noch negativ.'"[22]
Ihr Antrag auf Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer (vom September 1938) wurde zunächst im Juli 1942 "mangels der erforderlichen Zuverlässigkeit" abgelehnt: "Der Ablehnungsgrund ist in Ihrer weltanschaulichen Haltung zu suchen, u.a. wird Ihnen eine judenfreundliche Einstellung zum Vorwurf gemacht."[23] Im Tagebuch kommentiert sie: "Ich liebe Deutschland von ganzer Seele und wünsche ihm den Sieg und Wohlergehen, ich selber kämpfte elf Jahre lang gegen den Kommunismus und folglich auch gegen das Judentum."[24]
Als schlimmste Schikanen in dieser Periode führt Rachmanowa in ihrer Selbstdarstellung gegenüber Rascher 1945 ein "Verhör bei der Gestapo und Nichtbeachtung bei kulturellen Veranstaltungen" an. Das "Gestapo-Verhör" war eine Vorladung am 16.10. 1942 in das Gaupersonalamt, wo sie rassistische Vorhaltungen zu hören bekam. Der Beamte erklärte ihr, "ich sei eine 'Mongolin', 'artfremd' und deshalb könne ich in Deutschland nicht schreiben. Das ganze Leben war und bin ich Russin - und jetzt nimmt man mir auch das weg."[25]
Besonders demütigend empfindet sie die Nicht-Einladung zu den Kulturtagen der Hitler-Jugend in Salzburg: "... kein einziges Mal und nirgends war ich Ehrengast. Offensichtlich habe ich es nicht verdient, obwohl ich mein Leben ... im Kampf gegen den Bolschewismus aufs Spiel setzte", trägt sie am 17. Mai 1942 im Tagebuch ein. Und im Gedenkbuch-Roman von 1947 "Einer von Vielen" über die Kriegsjahre in Salzburg beklagt sie: "Aus ganz Deutschland sind Dichter, Schriftsteller, Maler, Bildhauer und Musiker zusammengekommen, von den Bewohnern der Stadt selbst wurde alles, was in irgendeiner Beziehung zur Kunst, Literatur und Musik steht, wie die Zeitung sagt, eingeladen, nur wir nicht."[26] Riggenbach merkt zu Recht an, dass sich Rachmanowa nicht zuletzt deshalb als Opfer sieht, "weil sie nicht dazu gehört, weil ihr im Nationalsozialismus eine aktive Rolle verwehrt wird."[27]
Die Beschwerden der Rachmanowa haben schließlich Erfolg. In einem Schreiben namens des Präsidenten der RSK vom 3.12.1942 wird ihr die Aufnahme mitgeteilt. Im Tagebuch notiert sie: "Einer der glücklichsten Tage meines Lebens."[28]
Im Berlin Document Centre ist der abschließende Aktenvermerk: "RKK-KP-4010-04/42-64" vom 21.11.42 nachzulesen: "Die Aufnahme der unter dem Decknamen Alja Rachmanowa im In- und Ausland bekannten Schriftstellerin Galina von Hoyer in die Gruppe der Schriftsteller der RSK. ist mit unserer Entscheidung vom 3.6.42 auf Grund der Gutachten der NSDAP, Gauleitung Salzburg, vom 20.12.38 und des Chefs der Sicherheitspolizei und der SD vom Januar 1942 abgelehnt worden. Ihr wurde hauptsächlich engste Verbindung mit dem kath. Klerus vorgeworfen. Für Frau von Hoyer haben sich das Reichspropagandaamt Salzburg und die Gauleiter und Reichsstatthalter in Salzburg und Kärnten eingesetzt. Sie selbst hat am 5.7.42 und am 28.7.42 Beschwerde eingelegt.
Im Einvernehmen mit der Parteikanzlei werden die Bedenken gegen die Aufnahme der Frau von Hoyer nunmehr zurückgestellt."[29]
Der Kampf der Rachmanowa um Anerkennung war sehr beharrlich. 1938 hatte sie Widmungs-Exemplare ihres "Jurka" Emmy Göring, Jugendführer Baldur von Schirach, Hitler selbst und anderen Parteistellen zukommen lassen.[30] Von 1939 an suchte sie die Verbindung mit führenden NS-Schriftstellern wie H.H. Ewers, Hans Grimm, Erwin Guido Kolbenheyer: Ihre Bemühungen machen jedenfalls "deutlich, dass sich Alja Rachmanowa in dieser Zeit an nationalsozialistischen Autoren orientierte."[31]
Und die "innere Emigrantin" hat familiären Zugang zu den Mächtigsten; am 7. Dezember 1940 kann Rachmanowa in ihrem Kalender notieren: "Wir waren um vier Uhr beim Gauleiter (Rainer) zu einer Jause eingeladen. Fünf prächtige, sehr gut erzogene Kinder ... Der Gauleiter ... ist ein sehr intelligenter, lebendiger Mensch mit einem starken Willen."[32]
Wichtiger war wohl ein anderer Kontakt, der zu dem für die Auslandspropaganda zuständigen Minister von Ribbentrop. Am 2. Mai 1942 kann sie in ihr Tagebuch schreiben: "Heute kam ganz unerwartet Fräulein [Bettina] von Ribbentrop zu mir ... Sie kam hierher nach Salzburg mit ihrer Mutter, um ihren Vater zu sehen, der beim Treffen des Führers mit Mussolini anwesend war."[33]
Vor allem hat sie aktive Propaganda-Beiträge geliefert: Rachmanowa hat für die "Informationsstelle I" des Auswärtigen Amtes zwei (vermutlich wohldotierte) "Berichte" geschrieben, die als Broschüre gedruckt und auch in Übersetzungen in den besetzten Ländern verbreitet wurden: Der Zerfall der Familie im Sowjetstaat und Das tägliche Leben des russischen Menschen. Paradies oder Hölle.[34]
Während nach der Aufnahme Rachmanowas in die RSK die Verlage Pustet und Müller sich vergeblich um eine Papierzuteilung bemühten, wurden deren propagandatauglichen Romane "Studenten, Liebe, Tscheka und Tod", "Ehen im roten Sturm" und Auszüge aus "Die Fabrik des neuen Menschen" als russischsprachige Raub-Übersetzungen ohne Rückfrage bei der Autorin ab (mindestens) 1943 in den Reichskommissariaten Ukraine und "Ostland" in großer Zahl in Umlauf gebracht.
"Hilf, Herr, Hitler in seinem Kampf!"
"Hilf, Herr, Hitler in seinem Kampf!" – Dutzende solcher Gebete und Anrufungen Gottes für Führer und Endsieg (wie hier am 10.8.1944) finden sich in den Tagebüchern dieser Jahre. Etwa Silvester 1943: "Hilf Deutschland. Hier gibt es viele mutige, im Geist starke Menschen. Sie sollen leben. Sie sind das Beste, was die Menschheit besitzt. Hilf ihnen." Oder am 11.6.1944: "Herr, gib mir Kraft zu arbeiten und meinen bescheidenen Beitrag an die Heldentat Deutschlands zu leisten, das ganz Europa vor Zerstörung und Untergang bewahrt ... Und allen, allen will ich den sonnigen Glauben an den Sieg vermitteln. Nein, nicht Verzagtheit, sondern die Kraft des Willens und die Kraft zum Sieg - das ist es, was jeder bei mir findet."
Am 24.1.1945 muss sie registrieren: "Die Bolschewiken kommen immer näher und näher. ... Und jetzt, nur noch einige Hundert Kilometer entfernt, windet sich züngelnd die Schlange, die uns vernichten will." Doch noch am 12.2.1945 notiert sie: "Ich glaube an ein Wunder. Es soll ein Wunder geschehen." Und am 18.3. 1945: "Jeden Tag bete ich für Deutschland! Herr, komm ihm zu Hilfe! Alle sind gegen Deutschland! Alle greifen es an."
Nicht eine Distanzierung vom Nationalsozialismus ist da zu finden, selbst Andeutungen oder Spuren von Skepsis oder Reserviertheit sucht man vergebens in ihren Aufzeichnungen.[35]
In der letzten April-Dekade 1945 fliehen die Hoyers aus Salzburg in die Schweiz. Als Motiv wird die panische Angst Rachmanowas vor der näher rückenden sowjetischen Armee im Tagebuch eindeutig benannt. Eine völlig andere Version der Flucht mit unbekannter Herkunft findet sich auf dem Umschlag der Biografie von Ilse Stahr: "Das NS-Regime zwingt das vom Schicksal geprüfte Ehepaar Hoyer zur plötzlichen Ausreise in die Schweiz." Riggenbach dazu: "Der behauptete Sachverhalt entbehrt jeder Grundlage. Würde er zutreffen, hätte Alja Rachmanowa mit gutem Recht in aller Öffentlichkeit darüber berichtet ... Wären die Hoyers nicht geflüchtet, hätten sie sich der Frage nach ihrem Verhalten während des Dritten Reichs in Salzburg stellen müssen."[36]
Das Ehepaar von Hoyer ist nie mehr nach Salzburg zurückgekehrt, auch nachdem die Gefahr des direkten Kontakts mit russischen Soldaten gebannt war. "Bis jetzt gibt es keine schlüssige Erklärung, weshalb von Hoyers nicht zurückgekehrt sind. Es ließen sich viele gute Argumente anführen..., z.B. die zurückgelassene Villa an der Salzach... Das Thema der Rückkehr ist deshalb von einer gewissen Brisanz, weil Alja Rachmanowa und ihr Mann für den Rest ihres Lebens nie mehr in Salzburg gewesen sind, auch nicht zur Bestattung der sterblichen Überreste ihres Sohnes 1947."[37] (Zumindest Arnulf von Hoyer hätte sich da einem Entnazifizierungs-Verfahren stellen müssen.)
Wie oben erwähnt, veröffentlichte Alja Rachmanowa 1946/47 das autobiografische zweibändige Werk Einer von Vielen, das als "Lebensbeschreibung und Gedenkbuch in einem" angekündigt wurde. Wie in ihren früheren "Tagebuch"-Romanen werden die Leser durch das von Hand geschriebene Vorwort der Autorin auf einen dokumentarischen Charakter des Werks eingestimmt. Das Buch ist neben der Biografie des 1945 gefallenen Sohnes die Geschichte der Familie von Hoyer in ihren Salzburger Jahren. Vor allem große Teile von Band 2 decken sich thematisch und zeitlich mit den von Riggenbach übersetzten Originaltagebüchern der Jahre 1942-1945.
"Trotz des eindeutigen Zusammenhangs der Tagebuch- und der Werkversion ergeben sich bei näherem Hinsehen beträchtliche Unterschiede. Alja Rachmanowa verschweigt in Einer von Vielen alles, was sie unternommen hat, um im Deutschen Reich Anerkennung zu finden, ihre Kontakte, ihre hartnäckigen Bemühungen um Aufnahme in die RSK, mit denen sie doch noch erfolgreich war. Die im Tagebuch manifeste Sympathie für Deutschland, die Durchhalteparolen und Stoßgebete für den Sieg der Wehrmacht, in einem Fall speziell für den Sieg Hitlers, sind ausgespart."[38]
Ein besonders eklatantes Beispiel der von Riggenbach analysierten Geschichtsfälschungen und Reinwaschungen: In Einer von Vielen weiß man schon früh, dass der Krieg nicht zu gewinnen ist. In Gesprächen in der Familie von Hoyer und im Bekanntenkreis äußert sich im Buch eine kritische Einstellung zum Nationalsozialismus, am deutlichsten bei Sohn Alexander. Im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 bekundet er sogar Sympathie für die Attentäter (Bd. 2, S. 277).[39]
Laut Tagebuch vom 11.5.1944 hielt Alexander jedoch seinem Freund Erwin Reiffenstein "einen Vortrag über die Notwendigkeit des Krieges bis zum Ende, bis zum Sieg, darüber, dass Deutschland im Recht ist, über die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Bolschewismus und über die Bedeutung des Nationalsozialismus bei diesem Sieg.
(Dessen Mutter) Anni sagte zu mir: 'Ich liebe meinen Sohn sehr, aber ich stehe auf der Seite deines Sohnes und beneide dich. Er weiß, wozu er lebt, und er hat Boden unter den Füßen, er weiß, wofür Deutschland kämpft'." Im Gedenkbuch wird dieses Gespräch von Rachmanowa seitenverkehrt "erinnert".
Der in seinen Urteilen sehr bedächtige Heinrich Riggenbach sieht übrigens gute Gründe für die These, im "Verhältnis zwischen den authentischen Tagebüchern 1942-1945 und Einer von Vielen kann man ohne Bedenken ein Muster sehen, nach dem Alja Rachmanowas autobiografische Werke entstanden sind ... Und erst recht gilt es für die Verwendung der Tagebuchtrilogie als historische Quelle ... Diese Feststellung kann nicht genug betont werden."[40]
Zahlreich und gewichtig sind jedenfalls die "Geheimnisse", die die "naive" Rachmanowa-Missionarin Ilse Stahr in ihrer Biografie 2012 unterschlagen hat und 2018, einige Jahre nach Veröffentlichung von Riggenbachs Übersetzung der Tagebücher, weiterhin unterschlägt. Deren Nazi-Opfer-Legende war wohl auch die Grundlage für die Anbringung von Gedenktafeln in Salzburg (Erzherzog-Eugen-Straße 32) und Wien (17., Hildebrandgasse 16) und wurde bislang auch nicht in den "seriösen" Internet-Nachschlagewerken wikipedia und salzburgwiki korrigiert.[41] Und der ORF lässt die Opfer-Story im März 2018 (wohl in harmonischem Einklang mit der bläulich-blauen Wende) der Nation als dokumentarische Wahrheit verkünden.
Franz Stadler, Dr.phil., Studium in Salzburg (Deutsche Philologie und Geschichte), lebt als Kulturpublizist in Wien, Herausgeber der Monographie: Robert Neumann. Mit eigener Feder. Aufsätze. Briefe. Nachlassmaterialien. StudienVerlag, Innsbruck-Wien-Bozen 2013.
Zitierweise: Franz Stadler: Die unterschlagenen Geheimnisse der Milchfrau in Ottakring. In: Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und Widerstands. 35.Jg, Nr.3, November 2018, 8-12. Auf: http://theodorkramer.at/zwischenwelt/ausgaben/nachtgedanken/stadler-milchfrau/ (17.1.2020)
Anmerkungen
- ^Ilse Stahr: Das Geheimnis der Milchfrau in Ottakring. Alja Rachmanowa. Ein Leben. Amalthea, Wien 2012.
- ^Vgl. ebenda, 134-136
- ^Vgl. Dietmar Grieser, Vorwort zu: Rachmanowa, Milchfrau in Ottakring, Amalthea, Wien 1997, und: Alle meine Frauen. Eine Porträtgalerie. Residenz, Salzburg 2006. Grieser ist allerdings die "Entdeckung" gelungen, dass Rachmanowa in Salzburg als "Dozentin für Kinderpsychologie" tätig war.
- ^Stahr, Milchfrau. 115
- ^Ine Van Linthout: Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik, Berlin 2012, 138-141, Anmerkung 223
- ^Stahr datiert falsch (1935), unterschlägt den spezifischen Zuschnitt dieser "Academie" und nützt die Gelegenheit, um Cesare Lombrosos Lehre vom "geborenen Verbrecher" zu verteidigen, vgl. Stahr, Milchfrau, 109-110
- ^Vgl. Stahr, Milchfrau, 85
- ^Vgl. Ebenda, 129
- ^Ebenda, 100
- ^Siehe dazu: Eva Löchli: Leben und Schreiben zwischen den Welten. Sozialistisches und antifaschistisches Engagement im Werk der Exilschriftstellerin Lili Körber. Masterarbeit, Salzburg 2014.
- ^Alja Rachmanowa: Auch im Schnee und Nebel ist Salzburg schön. Tagebücher 1942-1945. Übersetzt und herausgegeben von Heinrich Riggenbach. Salzburg-Wien: Otto Müller Verlag 2015. – Bereits 1998 hat Riggenbach vorgelegt: Inventar des Nachlasses von Alja Rachmanowa (Galina von Hoyer): Werke, Briefe, Tagebücher. Frauenfeld, Thurgauische Kantonsbibliothek; darin enthalten auch: Bestand "Rach D-3-e Dokumente Reichsschrifttumskammer"
- ^Nachwort Riggenbach, in: Rachmanowa, Tagebücher, 272
- ^Vgl. ebenda, 271-273; dennoch beträgt die Zahl der im Nachlass verbliebenen Tagebücher rund 200
- ^Ebenda, 284
- ^Ebenda, 284
- ^Vgl. ebenda, 284-286. Arnulf von Hoyer war bereits vor 1933 Mitglied der NSDAP in Österreich, trat nach deren Verbot 1933 aus und wurde sodann in seiner NS-Kaderakte als unzuverlässiger Anpasser an das jeweilige Regime eingeschätzt: vgl. ebenda, 289
- ^Vgl. ebenda, 282
- ^Vgl. Das Deutsche Bücherverzeichnis, Bd. 21 (1936-1940) und Bd.23 (1941-1950)
- ^Vgl. Verzeichnis Lieferbarer Bücher, o.J. (nach 1945), 65 – 67; und Murray Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918-1938, Köln-Wien-Graz 1985, Bd. II, 279-284. – Exemplare der meisten Auflagen ab 1938 sind übrigens auch in der Österreichischen Nationalbibliothek greifbar
- ^Nachwort Riggenbach in: Rachmanowa, Tagebücher 291
- ^Vgl. Hall, Verlagsgeschichte, Bd. II, 280. – Otto Müller hatte "seine" Entdeckung Rachmanowa von Pustet mitgenommen. Müller war von Dezember 1939 bis Juli 1940 wegen Versandes von Schriften des verbotenen "Seraphinischen Liebeswerks" in Gestapohaft und musste anschließend auf jegliche "weitere verlegerische Tätigkeit" verzichten. – Siehe dazu auch: Karl Müller: Der Kampf des Verlegers Otto Müller gegen seine berufliche Vernichtung durch die Nationalsozialisten 1940/1941. In: MdZ 12 (1995), Nr.2, 37-41
- ^Vgl. Van Linthout, Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik, Berlin 2012, 138-141. – Auch für die Presse waren nun die vordem erwünschten Zielgruppen-Zuschnitte des antibolschewistischen Themas wie etwa die "Gottlosenpropaganda" nicht mehr brauchbar.
- ^Rachmanowa, Tagbücher, 32.
- ^Ebenda, 33. – Der Text von Rachmanowas Beschwerde gegen den Entscheid ist nicht bekannt, jedoch findet sich im Nachlass eine Fassung mit dem Vermerk "nicht abgeschickt". Darin heißt es: "Da er aber nun einmal erhoben worden ist, erkläre ich hiermit auch noch ausdrücklich, dass ich seit jeher außerordentlich judenfeindlich eingestellt bin." (Ebenda. 304, Fußnote 58)
- ^Rachmanowa, Tagebücher, 41.
- ^Ebenda, 22, und Rachmanowa: Einer von Vielen. Das Leben Jurkas, Rascher, Zürich 1947/1948, Bd.2, 128.
- ^Nachwort Riggenbach, in: Rachmanowa, Tagebücher, 295.
- ^Ebenda, 50.
- ^Für die Überlassung dieser Akten-Kopie danke ich Karl Müller. – Die erwähnten Gauleiter sind Friedrich Rainer und Gustav Adolf Scheel. – Das Dossier mit der Korrespondenz über Rachmanowa wurde im Sommer 1943 von der Parteikanzlei Hitlers zur Einsichtnahme verlangt. Vermutlich ist es dann nicht mehr zurückgegeben worden und mit den Akten der Parteikanzlei verloren gegangen. Das Interesse der Parteikanzlei an Rachmanowa rührte daher, dass ihre Bücher und Schriften in der nationalsozialistischen Propaganda gegenüber dem Bolschewismus eingesetzt wurden. (Vgl. Nachwort Riggenbach in: Rachmanowa, Tagebücher, Anmerkungen 320 ff.).
- ^Vgl. Nachwort Riggenbach in: Rachmanowa, Tagebücher, 286.
- ^Vgl. ebenda, 288/289.
- ^Vgl. ebenda, 287. – Der Gauleiter sendet einen freundlichen Dankesbrief für ein Gastgeschenk.
- ^Rachmanowa, Tagebücher, 20. - Das Treffen Hitler-Mussolini fand am 29. April 1942 auf dem Berghof (nahe Salzburg) statt.
- ^Vgl. Stahr, Milchfrau, 139, und Nachwort Riggenbach, 290 und 318. - Die aus dem Tagebuch bekannte Salzburger Freundin Anni Reiffenstein richtete am 22. Juli 1942 als stramme Parteigenossin ohne Wissen von Alja Rachmanowa ein neunseitiges Schreiben an Goebbels, in dem sie auf den Widerspruch von Buchverbot und Rachmanowas Propaganda-Aktivität hinweist (vgl. ebenda).
- ^Vgl. Stahr, Milchfrau, 137-139, sowie Rachmanowa, Tagebücher, 71, und Riggenbach, Nachwort, ebenda, 290/291. - Enttäuschte Klagen über unbotmäßige "Lakaienseelen" und über die Mühsal der Hausarbeit ohne Bedienerin fehlen hingegen nicht. Ohne Kommentar listet sie Beschwerden auf, die über als Haushaltshilfen eingesetzte Ostarbeiterinnen an sie herangetragen werden (vgl. Tagebücher, 9.1. 1944).
- ^Nachwort Riggenbach, in: Rachmanowa, Tagebücher, 298.
- ^Ebenda, 299.
- ^Ebenda, 294.
- ^Vgl. ebenda, 294.
- ^Ebenda, 296.
- ^salzburgwiki, für das der Verlag der Salzburger Nachrichten verantwortlich zeichnet, macht Rachmanowa zu "einer der bekanntesten Schriftstellerinnen der Nachkriegszeit".