Karl-Markus Gauß
Hommage zum 100. Geburtstag von Milo Dor und Reinhard Federmann.
Nebst Berichtigung einiger Klischees die österreichische Literatur nach 1945 betreffend.
Milo Dor hat einmal mit Witz und Wut beklagt, der einzige österreichische Schriftsteller zu sein, nach dessen Vornamen zwar in Kreuzworträtseln gefragt werde, dessen Romane aber dennoch nach jeder Neuauflage wieder vergessen würden. Daran hat sich bis heute nichts geändert, der „Patriot der Wiener Josefstadt“, der am 7. März vor hundert Jahren in Budapest geboren wurde und in Belgrad aufwuchs, ist immer noch ein bekannter Name und ein Romancier, dessen Werk es erst zu entdecken gilt. Der Zufall will es, dass sein Freund und Weggefährte Reinhard Federmann nur kurz vor ihm zur Welt kam, am 12. Februar 1923, und daher im Winter 2023 des 100. Geburtstages zweier Autoren zu gedenken ist, die in den fünfziger Jahren, um zu Geld zu kommen, übrigens eine Reihe von schnell hingeschriebenen Kriminalromanen gemeinsam verfertigt haben.
Vor allem aber teilen sie das Schicksal, dass sie mit ihren besten Werken eine kritisch-realistische Literatur verfassten, die es den offiziösen Legenden der österreichischen Literatur zufolge gar nicht gegeben hat: Dors Roman „Tote auf Urlaub“ von 1952 und Reinhard Federmanns „Himmelreich der Lügner“ von 1959 setzen sich auf künstlerisch ambitionierte und politisch kompromisslose Weise mit der jüngsten Vergangenheit, mit Austrofaschismus und Nationalsozialismus, mit Folter, Vertreibung, Holocaust auseinander. Und sie attackieren das große Vergessen, das in den Jahren des Wiederaufbaus zur gemeinsamen Staatsdoktrin der politischen Gegner von gestern wurde und das Schweigen über so viele Verbrechen, über Verstrickung und Verleugnung einschloss.
Zäh hält sich jedoch das Klischee, dass es erst die Wiener Gruppe war, die literarisch mit der autoritären Vergangenheit brach und der nationalen Verdrängung ihre radikale Kritik entgegensetzte. Ich möchte der Wiener Gruppe – und etlichen Autoren, die in ihrem weiteren Umfeld begannen – keineswegs die literarische Bedeutung absprechen; ich muss mich hüten, sie schlichtweg mit ihren Hagiographen von heute zu identifizieren, die die Vielfalt der österreichischen Literatur jener Jahre schlichtweg nicht zur Kenntnis nehmen wollen und sich mit den Legenden zufrieden geben, die einzelne Repräsentanten der Wiener Gruppe von sich in die Welt gesetzt haben. Diese Sicht auf die österreichische Literatur ist das Ergebnis einer Verdrängung. Sie negiert Autoren und Autorinnen wie Otto Basil, Walter Buchebner, Gerhard Fritsch, Michael Guttenbrunner, Marlen Haushofer, Friedl Hofbauer, Franz Kain, Hertha Kräftner, Georg Kreisler, Hans Lebert, Mira Lobe, Friederike Manner, Alexander Sacher-Masoch, George Saiko, Karl Wawra, Susanne Wantoch, Herbert Zand und zahlreiche andere; gar nicht zu reden von den ins Exil gejagten und nie heimgekehrten, nie zur Rückkehr aufgeforderten Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die sich, wohin immer sie sich gerettet hatten, in ihrer Literatur mit Österreich, seinen demokratischen Traditionen und der faschistischen wie der nationalsozialistischen Ära beschäftigten, von A wie H.G.Adler, Jean Améry, Alfredo Bauer bis zu Z wie Hermynia Zur Mühlen.
Wer auf diese Verdrängung hinweist oder das groteske Zerrbild der österreichischen Literatur kritisiert, der macht die peinlichsten Erfahrungen. So dürftig kann dieser Kanon gar nicht sein, dass er nicht gleichermaßen wütend wie ahnungslos verteidigt werde. Darin waltet eine Seligkeit des methodischen Vergessens, die die Seligen in routinierter Entrüstung der österreichischen Gesellschaft gerne selbst vorzuhalten pflegen. (Das hat, nebenbei angemerkt, seine Entsprechung in der Bildenden Kunst, in der heute ein spezifisch österreichischer Mythos der Moderne gepflegt wird, als hätte es nach dem Krieg außer der von Monsignore Mauer geförderten abstrakten Malerei nur die in einem ewigen Biedermeier verhaftete Kunst von Pinselwichten gegeben; bis dann endlich der überfällige, befreiende Durchstoß erfolgt wäre, in Gestalt der Wiener Aktionisten, die in Wahrheit doch weniger die autoritären Traditionen attackierten, als diesen in ihrem sprachlosen Aufstand einige neue Elemente hinzufügten. Übrigens: Wie viel freier, freigeistiger als die brachialen Männer gingen es in ihrem artistischen Spiel die lange Zeit kaum beachteten Frauen an, von Birgit Jürgenssen bis zu Kiki Kogelnik!
Milo Dor war als Mitglied einer Widerstandsgruppe in Belgrad von der Gestapo verhaftet, gefoltert und zur Zwangsarbeit nach Wien verfrachtet worden. Er blieb in der Stadt, in die er nicht aus freien Stücken gekommen war und zu der er doch eine Liebe entwickelte, von der er einmal sagte, sie sei „wie eine Krankheit“. Sein erster, bereits auf Deutsch verfasster Roman, „Tote auf Urlaub“, müsste, wenn es mit dem literarischen Kanon seine Ordnung hätte, als der große Roman des Widerstands gelten. Aber selbst die Neuauflage im Otto Müller-Verlag hat ihm 1992 nicht jene Leserschaft und Würdigung eingetragen, die ihm gebührten. Dass dieser in die Folterstätten des Nationalsozialismus hinabtauchende Roman in den Jahren des Wiederaufbaus nicht entsprechend gewürdigt wurde, mag nachträglich nicht verwundern. Sogar der Zuspruch im Kalten Krieg, der bekanntlich nicht nur zwischen zwei politischen Systemen, sondern innerhalb der beiden Systeme vehement auch gegen die jeweiligen Oppositionellen geführt wurde, hat diesem Werk damals wohl eher geschadet als genützt. Man bedenke, dass Hans Weigel den Verfasser von „Tote auf Urlaub“ mit den Worten vorstellte, es handle sich bei ihm um einen „reuigen Sünder“; 1952 meinte Weigel damit nicht etwa einen zur Besinnung gekommenen Mitläufer, Mittäter des Nationalsozialismus, sondern einen Menschen, der im Kampf gegen den Nationalsozialismus sein Leben riskiert, sich aber in der politischen Illegalität peinlicherweise mit den Kommunisten verbündet hatte.
Dass „Tote auf Urlaub“ auch von der nachfolgenden Generation nicht als Schlüsselwerk entdeckt wurde, zeugt hingegen schlichtweg davon, dass sie, die mit der Kritik ihrer im Niederreißen und Wiederaufbauen so tüchtigen Väter antrat, deren Talent zur Vergesslichkeit geerbt hatte. So weit ich es übersehe, war es von den um 1968 angetretenen Autoren einzig Michael Scharang, der diesen antifaschistischen Roman und übrigens mehrfach auch dessen Verfasser gewürdigt hat.
Doch welchen Typus von Schriftsteller verkörperte der vorgeblich konservative Dor, als er in einem ihm fremden Land, in einer ihm fremden Sprache zu schreiben begann – und sich dem literarischen Stillhalteabkommen jener Jahre sogleich widersetzte? Für den jungen Dor gilt, was auch der alte von sich behaupten konnte: Niemals in seinem Leben hatte er sich in eine Anstellung begeben, in einem geregelten Arbeitsverhältnis befunden, auch in den Jahren des Erfolgs lebte er daher in ungesicherten Verhältnissen. Um 1950 war seine materielle Lage so schlecht, dass er seine Übersiedlung nach Deutschland plante, wo er auf Verlage, Rundfunkstationen, Zeitungen, Buchhandlungen setzte, die der kritischen Literatur, die er schrieb, womöglich größere Aufmerksamkeit entgegenbringen würden. Aus der dauerhaften Übersiedlung wurde nichts, denn Dor war, wie er Jahrzehnte später einräumte, jener Stadt, in die er einst als Zwangsarbeiter gekommen war, verfallen: „Ich kehre aus allen Richtungen immer wieder nach Wien zurück.“ Darum hat er zu Zeiten, in denen von einer sozialen Absicherung der Schriftsteller noch keine Rede sein konnte, unerhört viel publiziert, Romane, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Drehbücher, Sachbücher, Übersetzungen, Anthologien, Zeitungskommentare, Glossen und Feuilletons, Vor- und Nachworte, und so wie bei seinem Freund Federmann, der zahllose Auftragsarbeiten annahm, um über die Runden zu kommen, war auch bei ihm manche schnell verderbliche Alltagsware dabei.
„Tote auf Urlaub“ hat er später freilich mit zwei bedeutenden Romanen zu einer Trilogie erweitert, der er den Obertitel „Die Raikow-Saga“ gab. Im zuerst erschienenen Mittelteil „Tote auf Urlaub“ geht es um den Belgrader Gymnasiasten Mladen Raikow, der in die Fänge der Gestapo gerät und in der Haft von seinen kommunistischen Genossen verraten wird. In den anderen Bänden erzählt Dor die Vorgeschichte und die weitere Entwicklung des Geschehens, wobei er jeden der drei Teile stilistisch und formal auf ganz andere Weise gestaltet hat.
„Tote auf Urlaub“ verstößt in der protokollartigen Anhäufung von Szenen des Gräuels nicht nur gegen erzählerische Konventionen, sondern auch gegen echte Schmerzgrenzen der Leserschaft. Demgegenüber entfaltet „Nichts als Erinnerung“ (1959) die Vorgeschichte in einem breiten Gemälde, das drei Generationen der pannonischen Familie Raikow nebeneinander stellt und in ihren Porträts die Signaturen einer Epoche im Umbruch aufdeckt. Eingebettet in jene „Landschaft feuriger Melancholie“, die Dor als die seine erkennt, bringt der Roman es zuwege, die alte Welt sowohl in ihrer Schönheit und Würde, als auch in der Unausweichlichkeit ihres Untergangs zu zeigen.
Das abschließende Stück der Trilogie, „Die weiße Stadt“ (1969), führt in die Ära des beginnenden Wohlstands herauf. Der Faschismus ist besiegt, doch besiegt sind auch jene, die mit ihren Idealen und ihrem Leben für den Kampf gegen ihn einstanden. Alles andere als ein Sieger ist Mladen, der Folter und Zwangsarbeit überlebte und nun heimatlos durch die Prosperität des Nachkriegs irrt. Das Geschehen ist aufgesplittert, die Chronologie aufgehoben, die Perspektive wechselt unruhig, einzelne Partien verselbständigen sich, und Dor entwirft verschiedene, allesamt wieder verworfene Möglichkeiten, wie es mit Mladen weitergehen könnte: Was bleibt dem Belgrader Jüngling von einst, der Dichter werden wollte und als Widerstandskämpfer in der Zelle landete, was bleibt dem jetzt Vierzigjährigen zu tun, der kein Toter auf Urlaub mehr ist, sondern ein Überlebender auf Abruf?
Reinhard Federmann hat fünf Romane veröffentlicht, „Das Himmelreich der Lügner“ ist nun mit einem exzellenten Nachwort von Günther Stocker neu aufgelegt worden. Der Roman spielt in den Jahren von 1933 bis 1956. 1933 geht die Regierung Dollfuss planmäßig daran, die Demokratie in Österreich zu beseitigen, die organisierte Arbeiterbewegung zu zerschlagen und einen Faschismus spezifisch österreichischer Prägung zu errichten. 1956 wiederum wird in Ungarn der Aufstand gegen das kommunistische, Moskau ergebene Regime blutig niedergeschlagen. Federmanns Roman prangert nicht allein den „deutschen“ Nationalsozialismus an, was in der österreichischen Literatur öfter geschah, sondern auch den „österreichischen“ Faschismus des Ständestaates, der nur selten thematisiert wurde. „Das Himmelreich der Lügner“ ist ein Versuch über Politik und Macht, über die Verbrechen des Faschismus, die blutig zerstörte Hoffnung des Kommunismus, über den Kalten Krieg und die Besatzungszeit, und dabei überschneidet der Autor souverän das persönliche Schicksal seiner Protagonisten mit den historischen Ereignissen.
Bruno Schindler, der desillusionierte Ich-Erzähler, ist immer wieder besiegt worden – jetzt, Ende der fünfziger Jahre, will er rückblickend Rechenschaft ablegen. Er vergegenwärtigt sich, wie die Erste Republik zerstört wurde, er erinnert sich an seinen später ermordeten jüdischen Freund, der von illegalen Nationalsozialisten zusammengeschlagen wurde und bereits 1933 vor dem österreichischen Gericht keine Chance hatte, Gerechtigkeit zu erlangen. Im Februar 1934 wollte Schindler die Demokratie verteidigen, mit der Pistole in der Hand irrte er durch Wien und musste erkennen, dass der Aufstand von den sozialdemokratischen Führern viel zu lange hinausgezögert wurde und jetzt keinen Erfolg mehr haben wird. Es gelingt ihm, in die Tschechoslowakei zu flüchten, und von dort macht er sich auf in die Sowjetunion. Er wird Kommunist, an die Front geschickt, kehrt 1945 mit der Roten Armee in seine Heimatstadt zurück. Und fühlt sich nicht als Sieger. Denn er findet ein Land vor, in dem keiner schuld sein und jeder seine Ruhe haben will. Der Bevölkerung als „Russenknecht“ verhasst, den Genossen als unzuverlässiger Individualist verdächtig, beobachtet er genau, wie sich in seiner Heimat die Täter von gestern als Opfer aufzuspielen beginnen und im Reich Stalins der Terror herrscht.
Er bricht neuerlich auf, geht als Journalist in die Welt und kehrt erst 1956 zurück. Was hat Schindler in dieser Stadt zu suchen, in dem ein Genosse von früher, der zu den Nazi übergelaufen war, nun als Geschäftsmann das große Geld macht? In der weinselig die Kontrahenten von gestern beim Heurigen auf die gute neue Zeit anstoßen? Ihre Aussöhnung wäre ja nichts Schlechtes, sie ist sogar eine nationale Notwendigkeit, ohne die es mit der Demokratie im Lande nichts werden kann. Aber was sie einander abringen, ist ein opportunistischer Scheinfrieden, eine echte Aussöhnung hätte es nur geben können, wenn die Konflikte von einst angesprochen, über den Bürgerkrieg nicht das große Schweigen verhängt und das, was geschehen ist, nicht vertuscht worden wäre. Während ringsum alle ihre Vorbereitungen für den Weihnachtsabend 1959 treffen, erkennt Schindler, dass er in seiner Heimat ein Fremder ist.
Noch vor „Himmelreich der Lügner“ erschien von Federmann, einem rastlos, wie gehetzt arbeitenden Autor, 1950 ein Roman, den es dem einsinnigen Bild von der österreichischen Literatur zufolge ebenfalls gar nicht geben dürfte. Denn es handelt sich bei „Chronik einer Nacht“ um ein hervorragendes Beispiel jener „Literatur des Kahlschlags“, die gemeinhin als deutscher Sonderfall gilt, dem sich in Österreich nichts Vergleichbares zur Seite stellen lässt. Tatsächlich leistet Federmann in diesem Genre ausgesprochen Originelles. Er führt einen Emigranten in das zerstörte Wien von 1948 zurück und zeigt beklemmend, wie es die materielle Bedrängnis den Wienern erleichtert, sich gedächtnislos als die wahren Opfer des Krieges und der Nationalsozialisten, die allesamt „Preußen“ waren, zu empfinden. Auch in den zehn Erzählungen, die er zu dem Band „Die Stimme“ vereinte, bilden Krieg und Nachkrieg den Rahmen, in dem sich diese Geschichten von Schiebern und Schleichhändlern, Kriegsversehrten und Soldatenwitwen entfalten. Hintergrund ist eine Gesellschaft, die ein moralisches Anrecht auf das Vergessen zu haben meint: „Es geht uns jetzt besser, wir wollen nicht mehr dran denken, wir benehmen uns auch wieder ganz tadellos, und wir wollen lieber hören, wie es sein wird, wenn es uns noch viel besser geht.“
Reinhard Federmann bevorzugt leise Töne, kleine Wörter, einen unauffälligen Satzbau. Er ist ein Erzähler, der sich geradezu bemüht, wenig Aufhebens um seinen Stil zu machen, fast scheint es, der Autor wolle hinter seinen Figuren verschwinden. In diesem Verschwinden war Federmann ein wahrer Meister, das hat es womöglich erleichtert, dass er nach seinem Tod selbst so rasch aus dem Gedächtnis der Literatur verschwunden ist. Fast alle seiner Kurzgeschichten gehen schlecht aus. Der Himmel, der sich über sein Wien der kleinen Leute und der großen Fantasten wölbt, heißt Scheitern.
Milo Dor und Reinhard Federmann verband die Sympathie für die Verlierer, die Scheiternden. Diese allein bezeugen, dass die Geschichte einen anderen Verlauf hätte nehmen können, nehmen könnte. Nicht zu Unrecht haben sich Dor und Federmann selbst als Verlierer und Gescheiterte gefühlt. Immer wieder begegne ich Experten der österreichischen Literatur, die kein Buch von ihm gelesen haben, sich aber sicher sind, dass Milo Dor ein allzu konventioneller Erzähler gewesen wäre. Immer wieder bekommen wir zu hören, dass es in Österreich keine radikale Kritik wie in der deutschen Literatur jener Jahre gegeben habe, dabei beweisen Reinhard Federmanns Romane „Chronik einer Nacht“ und „Himmelreich der Lügner“ das Gegenteil. Die Aufsichtsbeamten des literarischen Betriebs haben jahrelang eine Literatur totgeschwiegen, deren Fehlen sie notorisch bedauern.
Eine Kurzfassung dieses Textes erschien im Standard, 25.2.2023