Alexander Emanuely
Lese Hamlet, spiele Bridge!
Der Wiener Anwalt Otto Harpner im britischen Exil – zwischen Internierung und politischem Engagement
Es sind zwei Tage vergangen, seitdem die Wehrmacht die Niederlande überfallen hat. Am Sonntag den 12. Mai 1940 beginnen die britischen Behörden mit der Internierung der enemy aliens. So wie rund 2.800 andere in Großbritannien lebende Männer aus Deutschland und Österreich, wird an diesem Tag auch der aus Wien geflohene Anwalt Otto Harpner (1900 - 1959) von Beamten in Zivil abgeholt und interniert. Drei Tage später, die Niederlande haben inzwischen kapitulieren müssen, Rotterdam liegt in Trümmern, werden rund 2.000 weitere männliche enemy aliens festgenommen. Ende Mai – parallel zur Rettungsaktion in Dunkerque – werden rund 3.000 Frauen interniert. Mitte Juni, kurz nachdem Paris verloren geht, folgen viele tausende weitere Festsetzungen, auch von tschechoslowakischen und italienischen BürgerInnen.
Über 100 Aliens tribunals, ein Jurist, ein Schriftführer und ein Polizeioffizier, bzw. ein MI5-Beamter, denen jeweils ein Richter vorsaß, vorsaß1, hatten seit Kriegsbeginn die nun ca. 73.000 enemy aliens im United Kingdom, von denen 55.400 Flüchtlinge waren in drei in die Kategorien A, B und C eingeteilt. In der A Class oder Kategorie A waren jene 600 Männer und Frauen zusammengefasst, die ein Sicherheitsrisiko darstellten. 160 von ihnen waren Flüchtlinge. Der Kategorie B wurden 6.800 Menschen zugerechnet. Bei ihnen bestanden Unklarheiten, auch wenn 4.100 von ihnen Flüchtlinge waren. In der Kategorie C fanden sich all jene wieder – es waren rund 64.200 Menschen, davon über 50.000 Flüchtlinge – die als Flüchtlinge oder als NazigegnerInnen anerkannt waren.2 Am 12. Mai waren zwar alle 600 Personen der Kategorie A festgenommen worden. Die gleich Otto Harpner 2.200 anderen an diesem Tag Festgenommenen gehörten jedoch zur Kategorie B. Bei ihnen galt, dass sie einfach zu nahe an der südöstlichen Küste gelebt hatten, wo am ehesten eine Invasion drohte.
Der Kategorie B zugeordnet zu werden, war oft Ergebnis eines kaum nachvollziehbaren Entscheidungsprozesses der tribunals. Dies hing wohl damit zusammen, dass die britischen Behörden trotz Mitwirkung von Flüchtlingsorganisationen in der gefährlich angespannten Situation leicht überfordert waren, binnen weniger Monate die Biographien von über 70.000 Menschen zu überprüfen. Bei Otto Harpner, welcher Flüchtling und eindeutig ein Nazigegner war, dürfte es vermutlich eine Rolle gespielt haben, dass er im August 1938 nicht als Flüchtling, sondern gemeinsam mit seiner Mutter Tery nach Großbritannien gekommen war, um seinen eben dort verstorbenen Bruder Franz zu begraben. Otto Harpners Ehefrau Lisa und seine beiden Kinder Stefan und Lotte waren erst im Jänner 1939, dafür aber eindeutig als Flüchtlinge nachgekommen. Die Familie lebte in Cambridge, und es bestand der Plan, zu Verwandten in die USA zu emigrieren. Doch dann kamen der Krieg und der 12. Mai dazwischen.
Bevor Otto Harpner jedoch – wie die meisten Internierten – auf die Isle of Man gebracht werden sollte, war er bis zum 24. Mai in einem Zwischenlager untergebracht worden. Dieses befand sich in der Kaserne des Suffolk Regiments, dem Gibraltar House in Bury St. Edmunds, 26 Meilen von Cambridge entfernt. Die Kaserne war mehr oder minder leer, da das Suffolk Regiment zu dieser Zeit in Burma gegen die Japaner im Einsatz war. Danach war er mit allen anderen in das Lager von Huyton gebracht worden, um am 14. Juni auf die Isle of Man verschifft zu werden. Am 21. Oktober 1940 wurde Otto Harpner aus der Internierung entlassen.
Rund ein Monat lang – ab dem Tag seiner Internierung – führte Harpner ein Tagebuch, welches in dieser Ausgabe der ZW erstmals veröffentlicht wird. Otto Harpners Sohn Stefan hat der Theodor Kramer Gesellschaft die Unterlagen zur Verfügung gestellt. Wie komplex die Lage rund um die Internierungen war, lässt sich anhand der Gespräche mit Stefan Harpner zeigen, der erzählt, dass sein Vater von der Internierung sogar eher angetan war, ermöglichte ihm diese doch nicht nur alte Freunde wiederzusehen, sondern auch neue zu finden. So zum Beispiel auf der Isle of Man Stefan Harpners späteren Schwiegervater Alfred A. Kalmus (1889 - 1972), Gründer und Leiter der Universal Edition – London. Jedenfalls ermöglichte erst die Freundschaft der Väter die Liebesgeschichte der Kinder, also von Stefan Harpner und Susanne Kalmus
Otto Harpners Internierungs-Tagebuch zeichnet den Alltag der Internierung nach, neue Bekanntschaften, Unterbringung, Tagesablauf, Krankheiten, Freuden und Frustrationen. Er, der viel Umgang mit "Cambridge-Leuten" hat, erzählt von dem, was man die Internierungslager-Universität nennen könnte, dem "kolossal wissenschaftlichen Betrieb", wie es im Tagebuch heißt. Jedenfalls nützt der ehemalige Anwalt aus Wien die Möglichkeiten der "Lageruniversität" und besucht etliche Vorträge namhafter und berühmter Mitgefangener oder freundet sich mit diesen an.
Da kommt Max Perutz (1914 - 2002) vor, der 1962 zusammen mit John Cowdery Kendrew den Nobelpreis für Chemie erhalten wird. Max Perutz wird bald nicht nur das Lager verlassen, sondern auch innerhalb von drei Tagen die britische Staatsbürgerschaft erhalten, um ungestört an dem militärischen Projekt arbeiten zu können, Eisberge in Flugplätze zu verwandeln. Im Lager organisiert er auf jeden Fall für das Abendessen Extraportionen Würste. Von Frederick Roland Eirich (geb. 1905), einem weiteren Chemiker, borgt sich Otto Harpner Sigmund Freuds "Psychopathologie des Alltagslebens" aus. Parallel dazu liest er passenderweise Shakespeare. Otto Harpner trifft den Musikwissenschafter Otto Erich Deutsch (1883 - 1967), von dem das Werkverzeichnis Franz Schuberts stammt, und Kurt Lipstein (1909 - 2007), den späteren Koautor der Encyclopedia of Comparative Law, der eben zu diesem Thema im Lager Vorträge hält. Weiters kommt Otto Harpner mit Otto Benesch (1896 - 1964) zusammen, einem der wichtigsten Vertreter der Wiener Schule der Kunstgeschichte, der Vorträge über französische Malerei hält, und mit dem Astronomen Günter Archenhold (1904 - 1999), der über Sonnenfinsternis referiert. Günter Archenhold ist übrigens der Sohn von Friedrich Simon Archenold, dem langjährigen Direktor der Treptow Sternwarte, wo Albert Einstein 1915 zum ersten Mal einen Vortrag über die Relativitätstheorie gehalten hat.
Dann sind da Georg Mosse (1918 - 1999), später bekannt geworden durch sein Buch "Nationalismus und Sexualität", und Julius Braunthal (1891 - 1972), der bis 1934 Chefredakteur des sozialdemokratischen Kleinen Blattes in Wien gewesen ist und nach dem Krieg einer der wichtigen Historiker der Arbeiterbewegung und 1951 erster Sekretär der neugegründeten Sozialistischen Internationale werden soll. Die beiden Letztgenannten kamen von der London School of Economics, wo auch Norbert Elias (1897 - 1990) vor seiner Internierung Senior Research Assistant war. Bei ihm besucht Otto Harpner Vorträge über "Sociologie und Psycholanalyse". Dass einige Bekanntschaften nach der Internierungszeit erhalten blieben, zeigt die Mitgliederliste der Study Group of Austrian Lawyers in Great Britain, in der der Berliner Anwalt Monath, mit dem Otto Harpner einen Englischkurs besucht, angeführt wird. Unter jenen Mitinternierten des ersten Tages, die Otto Harpner kennenlernt, ist auch der deutsche Pastor Franz Hildebrandt (1909 - 1985), seit 1937 im Exil und einer der vehementen Nazigegner unter den evangelischen Theologen.
Neben dem Lehrbetrieb gibt es auch Kabarettabende, an solchen liest Otto Harpner sein Programm "Das Veilchen" (nach Goethe) Parodien auf Stifter, Lenau, Busch, Koerner, Heine, Morgenstern, expressionistische Lyrik etc. Das vorgebliche Heine-Gedicht endet bezeichnenderweise mit "Cher ami, was geht hier vor?"
Wie Stefan Harpner uns die Tagebuchaufzeichnungen zur Verfügung stellte, betonte er, dass es für ihn jedoch wesentlich wichtiger sei, seinen Vater nicht nur als internierten enemy alien vorzustellen, sondern auch den hervorragenden Juristen und Intellektuellen, der er war. Otto Harpner war Sohn des berühmten Wiener Anwalts Gustav Harpner (1864 - 1924), welcher 1919 auch Anwalt der Republik wurde und in dieser Funktion mit der Umsetzung des "Habsburgergesetzes" betraut war. Über Gustav Harpner, der auch eine Novelle zum Habsburgergesetz ausgearbeitet hat und in Folge Präsident des Kriegsentschädigungsfonds wurde, hat Ilse Reiter ein fast 600-seitiges, vor kurzem erschienenes Buch geschrieben.3
Über Gustav und Otto Harpner erfährt man auch einiges in der "Einleitung" zu der zwischen 1942 und 1943 von Otto Harpner verfassten "socialpolitischen Anschauungen in Buchform".4 Auf knapp 500 Manuskriptseiten handelt Otto Harpner hier Themen wie die "Rechtswelt", die "Socialentwicklungen" und die Entstehung von Dogmen ab, um die Möglichkeiten eines "internationalen und interdemokratischen Rechts" zu erörtern. In der Einleitung spricht er jedoch vor allem vom Leben und von der humanistischen Haltung zweier Wiener Anwälte:
Mit diesem Buch wird der Versuch der Analyse von Problemen unternommen, um deren Lösungen die Welt in einem der gewaltigsten Kriege aller Zeiten ringt. Abermillionen Menschen fechten in allen fünf Erdteilen einen Kampf, von dessen Ausgang eine neue Zukunft erhofft wird. Abermillionen Hirne zermarterten sich, eine neue, bessere Weltordnung zu ersinnen. Zehntausende Bücher, Artikel und Reden erscheinen in aller Länder Sprachen. Bedarf es da nicht einer Rechtfertigung für einen neuen Versuch, Dingen abermals an den Leib zu rücken, die sich schon vorher so viele mit mehr oder – meist weniger – Glück gewagt? Als Hauptrechtfertigung diene die offenbare sociale Krise, ja Not unserer Zeit, die es vielleicht gerade zur Pflicht macht, einer vermeintlichen inneren Berufung Folge zu leisten. Eine Pflicht, die noch durch den Umstand verstärkt erscheint, dass ein Großteil der Menschheit vom Schicksal mundtot gemacht ist; wobei selbst in jenen Ländern, in denen noch Gedanken- und Redefreiheit herrscht, die besten Köpfe und schärfsten Federn einstweilen von den drängenden Aufgaben des Krieges abgelenkt sind.
Ich glaube es bei dieser allgemeinen Rechtfertigung nicht bewenden lassen, sondern eine persönliche, in Gestalt einer autobiographischen Vorstellung des Autors anschließen zu sollen. Nicht aus unbescheidener Selbstüberhebung! Sondern aus der doppelten Erwägung, dass mir die Konstellation von Herkunft, Vorbildung, Erfahrung und Erleben eines Autors einen unentbehrlichen Schlüssel sowohl für die Beurteilung seiner Berufung, als auch für die Wertung seines Vorbringens zu liefern scheint. Diesen Schlüssel voraus mitzuliefern, liegt mir umso mehr am Herzen, als ich den innigen Wunsch habe, eine möglichst wenig subjective und leidenschaftliche Leistung zu bieten, mich aber mit den Gegenständen meiner Untersuchung in höchster Leidenschaft verknüpft weiß. Daher scheint es mir geboten, den Leser schon in der Einleitung über die persönlichen Voraussetzungen zu unterrichten, unter denen dieses Buch entstanden ist.
Ich bin zur Jahrhundertwende in Wien geboren. Den ersten Weltkrieg und die unmittelbare Nachkriegsperiode vermag ich – im Gegensatz zu älteren Jahrgängen – ohne andere Vorurteile zu analysieren, als aus Herkunft und Erziehung stammen mögen. Hingegen glaube ich vor jüngeren Forschern den Vorsprung zu haben, dass mir Eigenerinnerung das Quellenstudium erleichtert. Mit der eigentlichen Zwischenkriegszeit verbinden mich spezifische Erlebnisse und Erfahrungen, die ich beim besten Willen nicht auszuschalten vermöchte.
Mit Ausnahme der letzen Jahre blieb ich meiner Heimatstadt Wien bis auf viele Reisen treu. Meine Jugend erlebte ich also im Mittelpunkt eines sterbenden Reiches, das ich, ohne meiner Untersuchung vorzugreifen, als den bedeutsamen Versuch bezeichnen darf, die national heterogenen Elemente des Donaubeckens social und wirtschaftlich zu vereinen. In der Zwischenkriegszeit war ich Bürger eines Socialgebildes, das wie kein zweites die Kriegsfolgen zu fühlen bekam, und auch als Erstes in den Strudel jener Ereignisse gezogen wurde, die einstweilen Europa verschlungen [sic!], den Erdball bedrohen.
Ich bin der Abstammung nach jüdischer Herkunft. Mit dieser Mitteilung soll keineswegs die Rassenunterscheidung des Nationalsozialismus acceptiert, wohl aber anerkannt werden, dass Herkunft von jüdischen Vorfahren eine spezifische Komponente darstelle, wenn auch keineswegs jenes prädominierende Element gemäß antisemitischer Anschauung. Eine Komponente also, die mir der Erwähnung auch dann bedürftig schiene, wenn sie mein Schicksal weniger entscheiden bestimmt hätte, als dies tatsächlich der Fall.
Ich bin nicht in jüdischem, sondern christlichem Glauben aufgewachsen. Meine Schulerziehung vollzog sich in einer der berühmtesten Erziehungsstätten des kaiserlichen Österreich, einer Klosterschule, in der dennoch alles andere, denn ein dumpfer Geist wehte. Besondere Kulturen bringen auch besondere Schulen hervor und vermitteln ihren Zöglingen auch besondere Denkfärbungen. Das "Schottengymnasium" war eine solche Traditionsschule, die sich dem Stile nach etwa mit Eaton oder Harrow vergleichen lässt. Die Schule konnte auf eine vielhundertjährige Geschichte zurückblicken, die mit ihren Wurzeln fast bis in die Gründungszeit des Habsburgerreiches zurückführte; und – nebenbei bemerkt – mit dem einstweiligen Ende Österreichs auch ihr vorläufiges Ende gefunden hat. Wenn ich versuchen soll, den Geist zu kennzeichnen, der also auf mich einwirkte, so möchte ich diese Schlagworte wählen: liberaler Konservativismus, Humanismus, Traditionalismus und nicht zuletzt christliche Dogmatik.
Mein Vater war einer der führenden Juristen seiner Zeit und seines, ursprünglich mächtigen Vaterlandes Österreich, der seit meiner Geburt nicht nur in der juristischen, sondern auch der politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Welt Österreichs eine führende Rolle einnahm. Politisch verknüpften ihn enge Bande mit dem Aufstiege der Arbeiterbewegung in Österreich, mit deren geistigen Führern ihn eine enge politische und persönliche Freundschaft verband; die hervorragendsten dieser Freunde waren: Victor Adler, Haupt der socialistischen Opposition im letzten kaiserlichen Parlament und erster Außenminister der jungen Nachfolgerepublik; Karl Renner erster Premier Neuösterreichs, Unterhändler und Unterzeichner des Vertrages von St. Germain; und Karl Seitz, Bürgermeister von Wien bis zum Dollfussputsch.
Trotz seiner engen Freundschaft mit den socialistischen Führern und seiner Parteianwaltschaft war mein Vater ein derart selbständiger Geist, dass er sich nie der socialistischen Bewegung restlos verschrieb, so ausgesprochene Sympathie ihn mit ihr verband. Er blieb in erster Linie der prominente politische Anwalt, dessen Namen mit den meisten großen politischen Prozessen seiner Zeit verbunden blieb, in denen die legalen Kämpfe gegen Reaktion und Absolutismus des alten Österreich geführt wurden. Als typische Beispiele mögen hier Erwähnung finden: die Verteidigung des nachmaligen Präsidenten der Czechoslowakei Th. G. Masaryk gegen eine Anklage, die ihm seine Kritik an einem Fehlurteil in einem so genannten Ritualmordprozesse zugetragen hatte. (Ähnlich wie Zola in der Dreyfusaffaire wurde Masaryk zwar verurteilt, sein Eintreten führte aber letzten Endes zur Revision eines Fehlurteiles, das sonst leicht ein Justizmord gewesen wäre.) Die Verteidigung eines südslavischen Abgeordneten im kaiserlichen Parlament: Die Bestrebungen der gewählten Vertreter der südslavischen Bevölkerungsteile um nationale Autonomie hatten ihnen den Vorwurf des Hochverrates eingetragen. Die Verteidigung Friedrich Adlers, der im dritten Kriegsjahr den österreichischen Ministerpräsidenten erschossen hatte. Adler verantwortete seine Tat damit, dass Österreich gegen den Willen seiner Völker durch einen Verfassungsbruch in den Krieg getrieben worden war. Adler wurde zum Tode verurteilt, vom letzten Kaiser begnadigt und nach Kriegsende in Freiheit gesetzt.
Persönlichkeit und Stellung meines Vaters brachten mich von früher Jugend mit bedeutenden Persönlichkeiten der Kriegs- und Nachkriegsepoche, Staatsmännern, Gelehrten und Künstlern in Verbindung. Dieser Verkehr bleibt sicherlich für meine spätere Entwicklung von Einfluss, am bleibendsten wohl der Verkehr mit meinem Vater selbst, einem in jeder Beziehung souveränen Geist, dessen Färbung sich weder politisch, noch philosophisch in eine allgemeine Categorie einordnen lässt. Was mir von ihm dominierend in Erinnerung geblieben ist, war die Beherrschtheit seines Denkens und Handelns von Rechtsvorstellungen. Wobei er als nimmermüder Verfechter socialen und kulturellen Fortschrittes Hingabe ans Recht mit stets wachem Verständnis für die Lebendigkeit und Beweglichkeit des Rechtes zu verbinden verstand. So lernte ich, Recht nicht im Sinne starrer Verteidigung, sondern beweglicher Fortbildung ansehen.
Die Gründung der kleinen Republik Österreich aus den Trümmern des zerfallenen Habsburgerreiches brachte für einige Zeit die geistigen und politischen Kreise an die Macht, deren Förderung mein Vater ein Leben lang gedient hatte. Sie schob auch meinen Vater an die Spitze staatlicher und juristischer Institutionen. Das Schicksal hat ihm erspart, den einstweiligen Zusammenbruch einer Welt zu erleben, deren Aufbau er sein Leben gewidmet hatte.
In die skizzierte Zeit fielen meine Hochschuljahre. Zwei geistige Eindrücke der Wiener Universität scheinen mir der Erwähnung zu bedürfen: In Dingen der Nationalökonomie die sogenannte "österreichische Schule" oder auch "Grenznutzenlehre", eine Spätblüte liberalistischer Wirtschaftstheorie. Wenn ich mich auch seither von den Lehren des Liberalismus wesentlich abgekehrt habe, verdanke ich ihrer Schulung doch eine ziemlich gleichmäßige Bildung in nationalökonomischer Theorie.
In Dingen der Rechtsphilosophie gewann der damalige Inhaber des Lehrstuhls für Staatsrecht und Sociologie, Hans Kelsen (später Professor an der Genfer Völkerbunduniversität, derzeit Lehrer an der Universität Californien [Berkeley, Anm.]), einen bleibenden Einfluss. Kelsen, der ein Freund meines Vaters war, hat damals die Grundsteine einer Lehre gelegt, die er später – wie ich meine: großartig – ausgebaut hat. Eine Lehre, als deren geistiges Kind ich auch dieses Buch bezeichnen möchte, soweit Kelsen selbst es nicht verleugnen oder gar verstoßen sollte.
An meine Lehrjahre schlossen sich 15 Jahre intensiver Praxis in der mir nach dem frühen Ableben meines Vaters angefallenen Anwaltskanzlei an. Für nicht mit österreichischem Rechtswesen vertraute Leser darf hinzugefügt werden: österreichische Anwaltschaft war sowohl territorial, als auch sachlich viel unbegrenzter als der Anwaltsberuf in anderen Ländern. Mit englischen Verhältnissen verglichen, umfasste sie den Wirkungskreis etwa des Barristers, Solicitors, und des Chartered Accountants. Mein persönlicher Wirkungskreis – von der politischen Verteidigung bis zur Wirtschaftsberatung reichend – brachte mich mit führenden Männern sowohl des politischen als auch des Wirtschaftslebens in Berührung. Und zwar nicht nur in meinem, klein gewordenen, österreichischen Heimatlande; sondern auch in den meisten anderen Ländern des Kontinents vor allem den sogenannten Nachfolgestaaten. Meine in diesem Buch vertretenen Ansichten sind daher von freund- und feindschaftlichen Auseinandersetzungen mit Personen beeinflusst, die als Protagonisten auf der Bühne der Geschichte der Zwischenkriegszeit in mehr oder minder prominenter Rolle mitgespielt haben.
Viele Jahre vor meiner Emigration hatte ich schon mit dem Wunsche gekämpft, meine im Folgenden vertretenen socialphilosophischen Anschauungen in Buchform niederzulegen; ein Wunsch kaum beherrschbar geworden, seit mich die Überzeugung durchdrang, dass die Welt unaufhaltsam der Katastrophe eines zweiten Weltkrieges zutrieb, ohne es zu bemerken. Es dient vielleicht zur Charakterisierung einer Frühreife meiner politischen Ahnung, wenn ich einige Sätze aus einem Brief an meine Frau zitiere, den ich so weit zurück als Mai 1925, also vor 18 Jahren aus Berlin schrieb. Dabei ist es mir in Wahrheit weniger darum zu tun, meine politische Frühreife zu belegen, als das kurze Gedächtnis meiner Mitmenschen für politische Eindrücke zu illustrieren. Anwaltliche Verhandlung hatten mich damals, also ca. 14 Jahre vor Kriegsausbruch gerade an jenem Tage nach Berlin geführt, an welchem Hindenburg sein Amt als eben gewählter deutscher Präsident antrat; und dies waren meine Eindrücke: "...Berlin? Ist hässlich und beschäftigt sich nur mit Hindenburg. Gestern wurde Einzug gefeiert. Lauter Hakenkreuzler. Das Straßenbild sah aus wie zu Kriegsbeginn. Uniformierte, statt mit Gewehren mit Stöcken bewaffnet, durchzogen die Straßen, Fahnen mit Hakenkreuzen schwenkend, Lieder singend und das Volk jubelte, dass einem die Gänsehaut über die Hakennase lief. Heute – Beeidugung im Reichstage, Amtsübernahme – sah es aus wie zu Kaisers Geburtstag. Lauter glänzende (wahrscheinlich Kriegs) Uniformen, Militärs mit Ordensbrüsten, Bewachung der Straßen, Fahnen. DAS IST KEIN FRIEDENSVOLK! DAS MUSS FRÜHER ODER SPÄTER WIEDER DER STECHSCHRITT REGIEREN, SCHREIEN UND MORDEN! Jetzt habe ich sie einmal in ihrem Berlin gesehen! Und ich verstehe die Weltgeschichte noch um ein Haar besser ..."
Dreizehn Jahre später, im März 1938 zog Hitler in Wien ein. Zu Folge [sic!] Stellung und Einstellung war ich unter jenen, die schon im März in Haft genommen wurden; doch gelang es Freunden, mich nach wenigen Tagen zu befreien. Der Befreiung folgte bald die Flucht in das englische Asyl.
Im ersten Emigrations- und letzten "Friedens"-jahre war ich noch zu sehr von der Aufgabe erfüllt, Freunden und mir selbst aus dem Zusammenbruch einer verlorenen in eine neue Welt zu verhelfen, als dass ich mich an die Ausführung meines Vorsatzes machen konnte, dieses Buch zu schreiben. Die Liquidation meiner alten Existenz führte mich bis knapp vor Kriegsausbruch noch mehrmals auf den Kontinent zurück. In ein ahnungsloses oder – verdrängendes Paris; nach Brüssel, wo sich die Erinnerungen an die Jahre der Erniedrigungen des Ersten Weltkrieges mit der Furcht vor der ärgeren Wiederkehr ähnlichen Erlebens mischten. Zu schweizer Freunden, die aufrecht und mit der Urteilssicherheit von Angehörigen der wahrscheinlich politisch reifsten Nation keine Gefahr der Welt und ihrer eigenen Lage verkannten. Und schließlich nach Prag, das ich knapp vor dem Klimax der tschechischen Tragödie dank Glück und Zufall am Tage vor Hitlers Überfall mit dem letzten Flugzeuge verlassen konnte. Alles Erlebnisse, die für mein heutiges Denken von tiefem Einflusse geblieben sind. Vor allem der Umstand, dass mich mit der europäischen Tragödie eine intime Kenntnis vieler Schauplätze, sowie viele freundliche und feindliche persönliche Beziehungen verknüpfen. Womit ich ausdrücklich zugestehen will, dass mein Urteil, trotz meiner redlichen Bemühung zum Gegenteile nicht nur rationell, sondern auch emotionell bedingt ist. Bedingt durch Erinnerungen an Erlebnisse, Städte und Menschen. Wie etwa an jene, für die Welt nicht minder, als für mich schicksalsschwere Nacht, in welcher zuerst Schuschnigg von Österreich Abschied nahm, und dann jene wilden Horden in meine Vaterstadt einbrachen, die ich schon 13 Jahre früher bei ihrer Vorbereitung durchschaut hatte. Oder die Erinnerung an jenen Nachmittag kurz nachher, an welchem ich von der Gestapo aus meinem Büro in ein Gefängnis verschleppt wurde. Dann an den Abschied von Stadt und Land meiner Heimat, an die letzte Fahrt durch die, trotz Allem von der Sonne beschienenen Berge, mir trotz Allem lieb und lieb geblieben. Und später noch ein zweiter Abschied: mein letzter Tag in einem von Schnee und Sonne verklärten Prag, für mich in einen letzten Abend bei Smetana's leuchtender Nationaloper mündend! Und im Dunste des nächsten Morgens auf die 1000 Giebel der Stadt, der verkauften Braut von morgen!
Mit Kriegsausbruch zog ich mich in die Stille von Cambridge zurück, in die Atmosphäre einer Stätte, die ihren körperlichen und geistigen Charme zu schenken hat, wie nur die erlesensten Plätze des einstweilen versunkenen Kontinents. Hier war mir vergönnt, was ich vorher erlebt und gedacht, zu verarbeiten. Zu verarbeiten auch anhand des Denkens und Erlebens anderer, deren Früchte mir die reichen Bibliotheken darboten. Und zu versuchen zu verarbeiten, was der donnernde Gang der Geschichte an Dramen hinzufügt. Schließlich auch den gewaltigen Eindruck englischen Wesens, Wirkens und Denkens, besonders in der juristisch-socialen Sphäre so sehr verschieden von Allem, was vorher auf dem Kontinent auf mich eingewirkt.
Das Ergebnis ist in diesem Buche niedergelegt. Darin trete ich dafür ein, dass die Welt nur genesen kann, wenn sich die Demokratie dazu aufrafft, ihre ehemalige, ganz eigentümliche Methode socialer Organisation dogmatisch zu fixieren; dabei aber gleichzeitig ihr politisches Glaubensgebäude an Haupt und Glieder reformierend.
Während und nach dem Weltkrieg setzte sich Otto Harpner für die Idee eines "internationalen und interdemokratischen Rechts" und für ein befreites, demokratisches Österreich ein. Otto Harpner arbeitete aktiv bei der Austrian Democratic Union, der Study Group of Austrian Lawyers in Great Britain, der österreichischen Sektion der New Commonwealth Society of Justice and Peace, der Anglo-Austrian Society und der Anglo-Austrian Music Society mit. Er schrieb Artikel, hielt Vorträge über Österreich am United Nation Center der London University und verfasste 1943 für die New Commonwealth Society das unter Juristen für Aufregung sorgende Draft Statute for the Establishment of a Legal Machinery to Effect Peaceful Chances of International Situation. Die Rolle der New Commenwealth Society, gegründet 1932 von Lord Davies, um "he promotion of international law and order" zu fördern, als Vorläuferorganisation eines neuen Völkerbundes, der UNO eben, und die Rolle von ExilantInnen wie Otto Harpner als ihre Ideengeber und Mitarbeiter wären sicher noch wichtige, der Untersuchung harrende Gegenstände der Exilforschung.
Stefan Harpner hat der Theodor Kramer Gesellschaft neben den Internierungstagebüchern seines Vaters auch dessen gesamten Nachlass (eineinhalb Laufmeter Material) zur Verfügung gestellt. Er enthält Korrespondenzen mit Hans Kelsen, Oscar Pollak, Emil Müller-Sturmheim, Julius Meinl, Franz Rudolf Bienenfeld, Wilhelm Ellenbogen, Friedrich Otto Hertz, Eva Kolmer, mit Familienmitgliedern und vielen anderen, sowie etliche Manuskripte für Zeitungsartikel und Vorträge. Beim Lesen erfährt man, dass Otto Harpner nicht nur geschrieben und sich politisch engagiert, sondern auch einen wesentlich profaneren Beitrag zur Befreiung Europas geleistet hat: Indem er nämlich den Dienst des Zug-Buchhalter am Rangierbahnhof in Cambridge/Histon ausübte. Stefan Harpner erinnert sich, dass es deswegen zu Weihnachten immer Marmelade der nahen Chivers Fabrik gegeben habe. Auch das Verladen der mächtigen Percheron-Pferde habe ihn als Kind tief beeindruckt.
Nach 1945 wird Otto Harpner nicht nach Österreich zurückkehren, dafür engagiert er sich in der Anglo-Austrian Society5, welche in den folgenden Jahrzehnten den Austausch tausender SchülerInnen zwischen den beiden Ländern ermöglichen wird. 1947 wird Otto Harpner Generalsekretär dieser 1946 gegründeten Society und bleibt bis zu seinem Tod in dieser Funktion. Dies geschah, nachdem er sich erfolglos bemüht hatte eine seinem politischen Engagement entsprechende Stellung von der neuen österreichischen Regierung zu bekommen. Doch nicht einmal sein "alter" Freund Karl Renner konnte oder wollte ihm dabei helfen.
In Österreich konnten Otto Harpner und sein Wirken nicht vergessen werden, da sie nie bekannt wurden. In den meisten Büchern über das Exil in Großbritannien erscheint sein Name, wenn überhaupt, nur am Rande. Dafür gibt es in Großbritannien den Otto Harpner Fund, in memoriam von der Anglo-Austrian Society gestiftet. Dieser ist zur Finanzierung von Stipendien für Sprachkurse und für Forschungsprojekte geschaffen worden, "to encouraging cultural exchange between the UK and Austria".
Anmerkungen
1 F.H. Hinsley and C.A. G. Simkins: British Intelligence in the Second World War. Security and Counter-Intelligence. London 1990, 32.
2 vgl. Siglinde Bolbecher: Exilbedingungen und Exilkultur in Großbritannien. In: Exil in Großbritannien. Wien 1995 (Zwischenwelt 4; François Lafitte: The Internment of Aliens. London 1988; Helene Maimann: Politik im Wartesaal. Österreichische Exilpolitik in Großbritannien 1938 bis 1945. Wien u.a. 1975.
3 Ilse Reiter: Gustav Harpner (1864 - 1924). Vom Anarchistenanwalt zum Anwalt der Republik. Wien u.a. 2008.
4 Otto T. Harpner: Typoskript ohne Titel. 2 Bde., Cambridge 1942/1943. (DÖW/Exil 07286).
5 siehe Frederick Scheu: The Early Days of the Anglo-Austrian Society. www.angloaustrian.org.uk/documents/The_Early_Days.doc (9.12.2011).