DIE UNENTBEHRLICHE EUGENIE SCHWARZWALD
Eine Einleitung
Robert Streibel, Alexander Emanuely
Vor genau 20 Jahren hat Renate Göllner mit „Kein Puppenheim – Eugenie Schwarzwald und die Emanzipation“[1] als erste den Versuch unternommen eine Biografie über „Fraudoktor“ zu schreiben, in der ausführlich deren Leben und Wirken dargestellt wird. Im Mai 2000, „Mit der Ziehharmonika“ war gerade in „Zwischenwelt“ umbenannt worden, besprach Herta Blaukopf „Kein Puppenheim“. Der erste Satz der Rezension hat heute an Gültigkeit kaum verloren:
Lange Jahre hindurch war der Name Schwarzwald bloß eine beiläufige Erinnerung gewesen, eine Art von Gerücht.[2]
Dabei hat es etliche Versuche gegeben, die Pionierin der Frauenbildung und einer kindergerechten Pädagogik, die soziale Kämpferin, die Menschenvernetzerin zu bewerben, zu loben, an sie zu erinnern. Meist gingen die Unterfangen von ihren FreundInnen oder SchülerInnen aus, darunter z.B. der New Yorker Management-Guru Peter F. Drucker, der in den späten 1980er-Jahren über seine Volksschulzeit in der Schwarzwaldschule schrieb: "[...] it was [...] superior to anything the Gymnasium tried to teach me."[3]
Liest man die Erinnerungen ehemaliger SchülerInnen, dann gilt für viele, was Gertrud Fleischmann 1984 über ihre Schulzeit sagte:
Ich bin jetzt 85 Jahre alt und rückschauend auf mein Leben finde ich wirklich und ohne zu übertreiben, daß meine Schulzeit (7 Jahre) bei Schwarzwald die schönste und beste Zeit meines Lebens war.[4]
Doch wie sah die Schwarzwald-Pädagogik, der die Kinder so viel abgewinnen konnten, aus? Eugenie Schwarzwald hat nie ihre Theorien niedergeschrieben, weshalb man diese nur verstreut in den Berichten ihrer KollegInnen und SchülerInnen wiederfindet.
Erst 2019 liegt die Arbeit einer weltberühmten Schriftstellerin, Pädagogin und engen Freundin Eugenie Schwarzwalds auf Deutsch vor, welche einen kompakten Überblick darüber verschafft, was man unter Schwarzwald-Pädagogik verstehen kann: das 1914 auf Dänisch erschienene Buch von Karin Michaëlis „Fröhliche Schule“. Unter den FreundInnen und SchülerInnen waren neben Karin Michaëlis etliche weitere SchriftstellerInnen: Jakob Wassermann, Alice Herdan-Zuckmayer, Vicky Baum, Hilde Spiel, Dorothy Thompson, Hans Deichmann, George Besson. Sie alle und einige mehr haben der „Fraudoktor“ literarische, essayistische, journalistische Denkmäler gesetzt. Auch die nicht mit ihr befreundeten Bewunderer, wie Hugo Bettauer oder Paul Stefan, selbst kritische Beobachter und Spötter, wie Karl Kraus, Elias Canetti, Robert
Musil, haben Eugenie Schwarzwald ganze Szenen oder Kapitel gewidmet, Paul Stefan 1922 sogar ein ganzes Buch.[5] Er war übrigens einer der maßgeblichen Akteure des „Akademischen Verbandes für Literatur und Musik in Wien“, der sich vor dem Ersten Weltkrieg u.a. für die Verbreitung der Werke der beiden Mitstreiter Eugenie Schwarzwalds, Arnold Schönberg und Adolf Loos, eingesetzt hat. Der Verband war 1912 auch Mitorganisator einer Futuristen-Ausstellung in Wien, welche in Räumlichkeiten der Schwarzwaldschule zu sehen war.[6]
Für die aktuelle ZW wurden teils bisher unpublizierte, von Hans Deichmann in den 1980er-Jahren gesammelte Beiträge von FreundInnen Eugenie Schwarzwalds zusammengestellt. Weiters war es uns wichtig, auf zwei Mitstreiter Eugenie Schwarzwalds hinzuweisen, die bisher eher im „Schatten“ standen: auf ihren Ehemann Hermann („Hemme“) Schwarzwald und auf Marcel Ray. Mit Olga Misař wird von einer Frauenrechtlerin und Autorin erzählt, die ihre Töchter der Schwarzwaldschule anvertraut hat und trotz ihrer bemerkenswerten Initiativen ähnlich wie Eugenie Schwarzwald und viele andere von den Nazis Verfolgten vollkommen
vergessen wurde.
Etliche Beiträge erzählen vom humanitären Werk Eugenie Schwarzwalds, das sie im Oktober 1938, schon auf der Flucht und in Armut lebend, in einem Brief an den Freund und britischen Diplomaten Pat Coates folgendermaßen zusammenfasste:
[...] heute darf ich es sagen, es gibt in Wien mindestens 200.000 und in Berlin etwa 50.000 Menschen, die nicht mehr am Leben wären, wenn ich ihnen nicht geholfen hätte [...][7]
Mit ihren während des Ersten Weltkriegs begonnenen Hilfswerken hat sie jedoch nicht nur sehr vielen Menschen das Leben gerettet, sondern auch eine ganze Generation von SozialhelferInnen von Stockholm, Wien bis New York und vor allem von jungen Menschen, die sie in diese Arbeit eingebunden hat, inspiriert und geprägt.
Eugenie Schwarzwald verstarb 1940 im Exil in Zürich. Für die MdZ mit dem Schwerpunkt „Exil in der Schweiz“ hat Siglinde Bolbecher 1997 späte Briefe Eugenie Schwarzwalds, Karin Michaëlis‘ und Dorothy Thompsons zusammengestellt.[8]
Auch wenn es in der vorliegenden Ausgabe keinen Beitrag über die Bezüge zwischen dem Schwarzwald-Kreis und Theodor Kramer und der TKG gibt, sei erwähnt, dass Edith Kramer 1929 ersten Zeichenunterricht als Schülerin der Schwarzwaldschule bekam; schon ihre Mutter Pepa (Josefine) Neumann, Ehefrau von Theodor Kramers Bruder Richard, war Schwarzwaldschülerin, so wie auch Pepas Schwester, das langjährige Mitglied der TKG, Elisabeth Neumann-Viertel. Hilde Spiel, Gründungsmitglied
der TKG, war ebenso Schwarzwaldschülerin wie die Schwiegermutter des Theodor Kramer-Preisträgers Michael Guttenbrunner Alice Herdan-Zuckmayer, die über ihren Zeichenlehrer Oskar Kokoschka schrieb: „Seine Geschichten, seine Phantasien waren, wie er sie erzählte, für uns Kinder vollkommen begreiflich ...[9]
Daran, welche Bedeutung Eugenie Schwarzwald hat, will die ZW erinnern, von ihrer Welt erzählen, denn, so Robert Scheu 1947 in der „Arbeiter-Zeitung“:
Wer die Geschichte Österreichs vor dem Zusammenbruch und dem Naziregime darstellt, wird das Ehepaar Hermann und Genia nicht übergehen dürfen.[10]
Doch übergangen wurden sie seit 1945 oft...
Anmerkungen
- ^Renate Göllner: Kein Puppenheim: Genia Schwarzwald und die Emanzipation (Europäische Hochschulschriften, Band 853). Frankfurt/M., Wien 1999, 87.
- ^Herta Blaukopf: Genia Schwarzwald und die Emanzipation. In: ZW Nr. 1/2000, 60.
- ^Peter F. Drucker: Adventures of a bystander. New York 1989, 73.
- ^Gertrud Fleischmann an Hans Deichmann, 30.4.1984 Zit.In: Leben mit provisorischer Genehmigung: Leben, Werk und Exil von Dr. Eugenie Schwarzwald. Eine Chronik von Hans Deichmann. Berlin 1988, 255.
- ^Paul Stefan: Frau Doktor. Ein Bildnis aus dem unbekannten Wien. München 1922.
- ^Vgl. Alexander Emanuely: Avantgarde in Wien? Oder AvantgardistInnen ohne Avantgarde? Dissertation. Wien 2019, 61f
- ^Eugenie Schwarzwald: Brief vom 17. Oktober 1938 aus Zürich an Pat Coates.Zit. In: Leben mit provisorischer Genehmigung: Leben, wie Anm. 4, 255
- ^Genia Schwarzwald in Zürich. In: MdZ Nr 1/1997, 15f.
- ^Alice Herdan-Zuckmayer: Genies sind im Lehrplan nicht vorgesehen. Frankfurt/M. 1979, 47.
- ^Robert Scheu: Hermann und Genia. In: Arbeiter-Zeitung vom 8. Oktober 1947, 2.