Theodor Kramer Gesellschaft

Menü

Thekla Merwin

Bankrott der Kultur

Zu den Illusionen, die der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts auf der Walstatt seiner Irrtümer begraben hat, gehört der Glaube der Vorkriegszeit an die Macht der Kultur. Niemals hätte der in der Zivilisation dieses Jahrhunderts großgewordene Europäer es für möglich gehalten, daß ein Volk wie die Deutschen, nicht einmal mehr die leere Form programmatischer Forderungen wahrend, zu dem Niveau eines Wildenstammes herabsinken könnte, der die besiegten Gegner mit asiatischer Grausamkeit vertilgt: Niemals es für möglich gehalten, daß mitten im Herzen Europas entmenschte Horden ihre sadistischen Triebe ungehindert austoben dürfen, daß der Blutrausch im Lande eines Kant und eines Goethe seine Orgien feiert, und daß die Phantasien krankhaft veranlagter Führer, die reif für die Zwangsjacke sind, als „nationale Erhebung“ zu einer Wirklichkeit werden konnten, die alle Bilder der danteschen Hölle verblassen läßt: Daß ein Land mit 66 Millionen schreibenden und lesenden Menschen sich widerstandslos in einen Blocksberg verwandeln läßt, wo Satan seinen Sabbath feiert: Daß der Einzelmensch nur noch zu einem Mannequin der Uniform herabgedrückt wurde und der gemarterte Individualgeist sein Hakenkreuz stöhnend auf das Golgatha der Menschheit schleppt: Daß der Schrecken des roten Gespenstes, vor dem die Völker Europas in Angst gejagt wurden, abgelöst wurde von einem Gegner, dem braunen, der in seiner Furchtbarkeit alles übertrifft, was abzuwenden er sich vermaß: Daß die Vergewaltigung der Freiheit auf öffentlichem Markte zu einer täglichen Volksbelustigung geworden ist, die der Mob mit seinem Siegesgeheul begleitet: Daß Deutschland das geworden ist, was es heute ist: Ein Volk von Henkern und Delinquenten.

Wo ist sie, die „Stimme der Welt“, dieser Welt, die aufgebaut wurde in tausenden Jahren gegenseitiger Arbeit, die einen Sokrates, Plato, Spinoza hervorgebracht hat, wo die Autorität der Mächte, die einen Völkerbund schuf, wo der siegreiche Geist des menschlichen Genius, der uns das völkerverbindende Mittel das Radio in die Hände gelegt hat? Wo ist sie, die Organisation der Kirche, einst weltumspannend, jetzt, wo es gilt, den christlichen Geist vor Verfolgung zu retten? Und wo sind sie, die Staaten der Welt, in den Kategorien eines abgewirtschafteten Kapitalismus denkend, wo die Macht ihrer Börse, ihrer Zölle, ihrer Handelsverträge und ihrer Boykotte, ihrer toten Armeen von Ziffern und Statistiken? Sie sind beschäftigt, den erschöpften Adern ihrer Geldwirtschaft durch großangelegte Währungsmanöver neues Blut zuzuführen, während ein imposantes Werk der Kultur von barbarischen Horden zerstampft wird. Von keiner Seite der Welt, wenn nicht der innere Prozeß in Deutschland eine entscheidende Wendung nimmt, scheint es Hilfe zu geben für die Unglücklichen, die in ihrer eigenen Heimat abgewürgt werden, und der moralische Weltuntergang scheint beschlossene Sache. Hie und da ertönt ein Aufschrei der Empörung – aber er verhallt ungehört in dieser Welt eigensüchtiger Interessen. Mit dem noch blutigen Dolch in der Hand durften die, die heute Deutschland regieren, sich an die Beratungstische der Nationen setzen und in der urbanen Form internationaler Höflichkeit werden die Verantwortlichen dieses gewaltigen Dramas von den Kulturstaaten empfangen.

Bei aller Konzession an den Opportunismus, ohne den nun einmal nicht regiert werden kann, vermag es das Gemüt eines ethisch fühlenden Menschen doch nicht zu erfassen, daß solche Schuld einfach ignoriert wird, daß ein Guerillakrieg gegen ein wehrloses, schwaches Nachbarland unter dem diplomatischen Schweigen der Völker geführt werden kann, daß die Kultur, der wir den Glauben einer Religion dargebracht haben, ihre Schändung schweigend hinnimmt. Auf sie haben wir tief in unserem Innern vertraut, wenn wir in ahnungsvollem Grauen die Schatten der apokalyptischen Reiter sahen, die jetzt über die einst so blühenden Felder Deutschlands dahinjagen, und unser letzter Trost war es zu denken: Die zivilisierte Welt kann das Schlimmste nicht dulden. Sie duldet es. In dieser an Schlagworten so reichen Zeit hat sie sich ein Schlagwort zurechtgelegt, mit dem sie ruhigen Auges den Nachbarn im eigenen Hause verbrennen sieht: Das Wort von den „inneren Angelegenheiten“ eines Landes, in die sich zu mischen ihr verboten ist. Mögen Recht- und Gesetzlosigkeit triumphieren, mag die Gewalttat ihre Scheußlichkeiten vollbringen, dieser billige, bequeme Grundsatz ist zu einem Primat des Gesetzes erhoben worden, gegen den alles geflossene Blut, alle geschlagenen Wunden, alle vernichteten Existenzen, alle geschändeten Rechte nicht aufkommen. Wenn es der deutschen Regierung, die wie in einem Blutrausch wandelt, einfallen sollte, die „Marxistenfrage“ durch Abschlachten einiger Hunderttausend Arbeiter und Juden zu lösen, würde in dieser Welt des Opportunismus außer einigen Verzweiflungsschreien des noch nicht erschlagenen Fortschrittsgeistes nicht mehr geschehen, als heute geschehen ist, nicht ein Bankdirektor würde auf seine deutschen Spekulationsgewinne verzichten und keine Grenze auf ihren Zollgewinn aus Deutschland.

Dem ethischen Optimismus ist die schwerste Wunde geschlagen worden. Als der Krieg ausbrach, hat er seine erste Niederlage in diesem Jahrhundert erlebt: Ein Krieg in unserem Zeitalter, so folgerte er, ist eine Episode. Sie hat vier Jahre gedauert, sie dauert noch. Der Sammlung der Irrtümer, die sich in der Entwicklung des fühlenden und denkenden Menschen anhäuft, müssen wir längst jenes falsche Ideal beifügen, das in uns den Glauben an die Macht der Kultur geboren hat. Die Kultur – sie ist nur ein oberflächlicher Firnis, den die schaffende Menschheit über die Triebe, die Leidenschaften, die Instinkte des Urmenschen legt. Nur wo materielle Güter bedroht sind, regt sich der Egoismus der Welt zur Verteidigung. Für höhere Zwecke als für Industrie und Handel wird kein Schwert gezogen und das Blut tausender Unschuldiger wiegt nicht die Handbreit Erde auf, vor dem sie mit Kanonen ihre Wacht halten. Und noch immer wissen sie es nicht, die das Leben ihrer Treuen auf den Schlachtfeldern geopfert haben und noch immer findet die neue Lockung nach dem Kampfe „um die heiligsten Güter“ willige Ohren.

In diesem Chaos ringend, das die blutige Phrase aufs neue entfesselt hat, würde die weltanschauliche Gesinnung des Einzelnen mit dem Bankrott der Kultur unweigerlich Schiffbruch erleiden, wüßte er nicht sein Streben und die Zukunft der Menschheit an ein höheres Ziel zu knüpfen, als die Gesamtbilanz unseres gesellschaftlichen Lebens es aufzuweisen hat: Das ist die über allen Formen der menschlichen Entwicklung stehende Idee der Gerechtigkeit, der der Sozialismus dient, die Idee der Freiheit und Gleichheit, die der Seele des gesunden Menschen als ein von der Natur mitgegebenes Bewußtseinsgut eingeboren ist, für die wir leben und sterben wollen als für die reine Religion des Geistes, die unverrückbar, ein Axiom des menschlichen Willens, über alle Schwächen und Krämpfe der Zeit hinweg ihren Weg der Vollendung geht.

Neuer Vorwärts. Nr. 6, 23. Juli 1933. – Erneut abgedruckt in Herbert Exenberger (Hg.): Als stünd‘ die Welt in Flammen. Eine Anthologie ermordeter sozialistischer SchriftstellerInnen. Wien 2000, 217-220. (Der „Neue Vorwärts“ erschien unter der Leitung von Curt Geyer als Zentralorgan der Exil-SPD ab dem 18. Juni 1933 bis 1938 in Prag, dann bis 1940 in Paris.)