Theodor Kramer Gesellschaft

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Die Kinder des Musa Dagh
Schreiben über Aghet und Armenien
Kuratiert von Julia Danielczyk und Peter Roessler

Eine Vorbemerkung

„Die Kinder des Musa Dagh“ – so werden die armenischen Bewohner:innen der Ortschaften rund um den Berg Musa Dagh in Franz Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh genannt. Das Werk schildert den Genozid an den Armenier:innen, aber vor allem den Widerstand dagegen. Im Zentrum steht der Rückzug einer Gruppe von Armenier:innen auf den Musa Dagh und deren befestigter Kampf gegen die Vernichtung. Der „Musa Dagh“, „Mosesberg“, armenisch: „Musa Ler“ ist zum Symbol des Widerstands geworden. Im ersten Teil dieses Schwerpunkts geht es um das vornehmlich literarische Schreiben über das Schicksal des armenischen Volkes und den Widerstand. Autor:innen der deutschen und österreichischen Literatur, die darüber schrieben, waren meist selbst Verfolgte, wurden vom NS-Regime mit der Vernichtung bedroht, mussten ins Exil fliehen, leisteten Widerstand. Ein wenig richtet sich der Blick auch über diese Literatur hinaus: Wie etwa das Armenische und das Jüdische in der Sowjetunion unterdrückt wurden, und wie ein ukrainisch-jüdischer Autor dagegen anschrieb, gehört ebenfalls zur Thematik.
„Aghet“ – „die Katastrophe“ ist das armenische Wort, mit dem die gezielt geplante und ab April 1915 durchgeführte Auslöschung der im Osmanischen Reich lebenden Armenier:innen bezeichnet wird. Der Genozid an den Armenier:innen zählt zu den schrecklichsten Verbrechen der jüngeren Menschheitsgeschichte. Die Kenntnisnahme der entsetzlichen Einzelheiten sollte mit der Erkenntnis seiner übergreifenden Bedeutung verbunden sein. Dieser frühe Völkermord des 20. Jahrhunderts hat seine singuläre Geschichte und zugleich sind zahlreiche Aspekte späterer Völkermorde in ihm enthalten. Vieles lässt sich in wichtigen Publikationen nachlesen. Von der Tendenz her kann aber, was den öffentlichen Rahmen betrifft, noch immer von einem vielfach ignorierten Völkermord gesprochen werden.
Aghet, Völkermord, Genozid – diese Worte sind mit der Geschichte des armenischen Volkes auf immer verbunden. Das Verbrechen erfolgte durch die jungtürkische Regierung und die ihr unterstellten Organe, wie Behörden, Polizei, Armee – und bedeutete Massaker, Liquidierungen, Deportationen, Todesmärsche, Todeslager, Exil und Diaspora. Die Folgen sind bis heute wirksam, sind Gedächtnis und Gegenwart. Nicht nur geduldet, sondern sogar unterstützt wurde der Genozid auch durch das während des Ersten Weltkriegs mit dem Osmanischen Reich als Teil der Mittelmächte verbündete Deutsche Reich, seiner Regierung, seiner Armeeführung und seiner Diplomaten. Zur Ermöglichung der systematischen Ermordung der Armenier:innen gehört auch das Schweigen und Gutheißen durch Vertreter der gleichfalls zu den Mittelmächten gehörenden Österreich-Ungarischen Monarchie.
Wenn 2025 ein Heft der Zwischenwelt mit Beiträgen erscheint, in denen es um das Schreiben über den Genozid an den Armenier:innen geht, so ist ein äußerer Anlass dafür, dass sich der Völkermord, dessen Gedenktag der 24. April ist, zum hundertzehnten Mal gejährt hat. Doch handelt es sich um Zusammenhänge, die ihre Aktualität nicht aus Jahresdaten gewinnen. Die Autor:innen, um die es hier geht, sind vorwiegend jüdisch oder jüdischer Herkunft, in ihrem Schreiben konnten beide Verfolgungen verbunden werden. In seinem Vortrag „Erziehung nach Auschwitz“, den Theodor W. Adorno 1966 im Hessischen Rundfunk hielt, hatte dieser – übrigens mit Verweis auf Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh – in besonderer Weise bereits auf den Völkermord an den Armenier:innen hingewiesen, auch auf das Wissen des deutschen Militärs und der deutschen „Regierungsstellen“ davon. Nach Zusammenhängen zwischen dem Genozid an den Armenier:innen und der Shoah sowie dem Exil der Jüdinnen und Juden zu suchen, bringt gerade dann Erkenntnisse, wenn Parallelen und Verbindungen gesehen, nicht aber eine Gleichsetzung vorgenommen wird.
Einen besonderen Stellenwert erhält in diesem Schwerpunkt Franz Werfel mit seinem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh als überragendes literarisches und historisches Zeugnis. Wiederabgedruckt findet sich hier der Vortrag von Peter Stephan Jungk über den Roman, den dieser 2011 im Lepsiushaus in Potsdam gehalten hat. Er sprach damit an jener Institution, die den Namen des protestantischen Theologen und Orientalisten Johannes Lepsius trägt, der sich für die Rettung der Armenier:innen eingesetzt und mit seinen Schriften die Welt über den Genozid aufzuklären und wachzurütteln versucht hat. Peter Stephan Jungk ist Autor der bedeutenden Biografie über Franz Werfel (1987), in der sich die Entstehung des Musa Dagh-Romans ebenso wie Werfels Exil dargestellt finden. In seinem hier abgedruckten Vortrag hat Peter Stephan Jungk festgestellt, Werfel habe mit seinem Roman über den ersten systematischen Völkermord „nicht nur den ungeheuerlichen Vernichtungsfeldzug des nationalsozialistischen Systems gegen die jüdische Bevölkerung ganz Europas vorausgefühlt, sondern zugleich jene Völkermord-Wiederholungen metaphorisch überhöht, die unseren Planeten nach 1945 erschüttern sollten.“
Der zentralen Frage geht ebenso der Beitrag „Franz Werfel. Dichter der Verfolgten und verfolgter Dichter“ von Julia Danielczyk nach. In ihm werden neben dem Musa Dagh-Roman auch Werke des Autors beleuchtet, die sich auf die Verfolgung der Jüdinnen und Juden beziehen, insbesondere das Stück Jacobowsky und der Oberst. Die „Rezeption von Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh in Armenien“ behandeln Barbara Denscher und Aram Mirzoyan. Ihr Beitrag umfasst die Geschichte der enormen Bedeutung des Romans für die Armenier:innen in ihren verschiedenen Facetten, ebenso wie das Verbot des Buches in der Sowjetrepublik Armenien bis 1964. Zur literarischen Auseinandersetzung mit den Verbrechen an den Armenier:innen und dem armenischen Widerstand gehört, dass der aus Deutschland vertriebene Dramatiker Ferdinand Bruckner im Exil in New York sein auf Werfels Werk basierendes Stück Die Kinder des Musa Dagh schrieb. Das unbekannte Schauspiel wird mit dem Abdruck einer Szene vorgestellt und in einem Beitrag „Drama und Widerstand“ (Peter Roessler) analysiert.
Ein Porträt des Widerstandskämpfers Missak Manouchian, genannt le Poète, der Dichter, bietet Helene Maimann. Missak Manouchian, Anführer der aus zahlreichen Staaten kommenden „Ausländer“ des bewaffneten Widerstandes in Frankreich, hatte seine Familie im Völkermord an den Armenier:innen 1915 verloren. 1943 wurden er und zahlreiche Mitglieder seiner Gruppe von den Nationalsozialisten verhaftet und ermordet. Über die Reise des ukrainisch-jüdischen Schriftstellers Wassili Grossman 1961 nach Armenien schreibt Anselm Meyer. Die Publikation von Wassili Grossmans Reisebericht wurde in der Sowjetunion unterdrückt. Mit seiner Studie gibt Anselm Meyer Einblick in die „unterirdische“ Verbindung vom Holocaust und dem Genozid an den Armenier:innen sowie in die kulturelle Auslöschung des Jüdischen in der Sowjetunion.
In diesem Schwerpunkt wird von einer nie endenden Nachwirkung des Genozids ausgegangen. Er vergeht nicht einfach mit der Zeit, sondern bleibt in ihr präsent. Diese armenischen Erfahrungen müssen uns alle treffen. Dennoch endet der Schwerpunkt nicht mit dem Genozid an den Armenier:innen im Osmanischen Reich. Ging es zuvor schon um die Erinnerung an den Völkermord in  Armenien, so führt uns Herbert Maurer nun nochmals in das Land Armenien, vor allem in dessen jüngere Zeit und ins Heute. Der Schriftsteller, Übersetzer und Kenner der armenischen Kultur Herbert Maurer gibt anschauliche Bilder zur literarischen wie gesellschaftlichen Situation in Armenien und bietet mehrere Portraits zeitgenössischer armenischer Schriftsteller:innen sowie seine Übersetzungen ihrer Literatur. Herbert Maurer geht aber ebenso in die Geschichte zurück, erzählt vom „Urvater der armenischen Poesie“ im 10. Jahrhundert, Gregor von Nareg, und von Werk und Sprache des Dichters und Übersetzers Jerishe Tscharents, der auch über den Völkermord an den Armenier:innen schrieb und 1937 im Gefängnis des NKWD umkam. Zur Sprache bringt Herbert Maurer auch die jüngste Katastrophe, die Vertreibung der Armenier:innen aus dem Gebiet Bergkarabach und den Zusammenbruch der armenischen Republik Azach 2023, verursacht durch die militärischen Angriffe Aserbaidschans.
Eine umfangreiche Chronologie von Alexander Emanuely, die eigens aus Anlass dieses Schwerpunkts erstellt wurde, findet sich auf der Website der Theodor Kramer Gesellschaft. Die Chronologie korrespondiert mit den Themen dieses Heftes, denn neben der Darstellung von Vorgeschichte und Verlauf des Genozids sind Veröffentlichungen von Intellektuellen dazu angeführt und zugänglich gemacht, die später Gegner des NS-Regimes waren und von diesem verfolgt wurden. Zu ihnen gehören etwa der Publizist und Buchhändler Heinrich Vierbücher, Autor des Buches über den Völkermord Armenien 1915, sowie der Schriftsteller Armin T. Wegner, der den Genozid als Autor und Fotograf dokumentierte. Aufgezeigt werden in der Chronologie auch Wege und Irrwege der österreichischen Politik bis zur späten Anerkennung des Genozids 2015 und danach. Lange Jahre hindurch waren dabei Ausweichbewegungen aller Art vorherrschend. Am Ende gibt es eine Liste wichtiger Publikationen, die bei der Erstellung der Chronologie Verwendung fanden.
Mit den hier veröffentlichten Beiträgen kann nicht Anspruch auf eine umfassende Darstellung des Themas erhoben werden. Da wären noch zahlreiche Dimensionen zu behandeln. Franz Werfels Wort von den „Kindern des Musa Dagh“ aber könnte sehr wohl eine umfassende Bedeutung erhalten. Vielleicht eröffnen dann gerade die aufgeworfenen Fragen Wege zu Erkenntnissen. Diese könnten sowohl für die Geschichte des Genozids an den Armenier:innen von 1915/16 und ihren Widerstand als auch für die Geschichte des Exils und des Widerstands ab 1933/38 ihre Bedeutung haben. Und so sind die „Kinder des Musa Dagh“ und das Schreiben über sie von höchster Gegenwärtigkeit bestimmt.
Peter Roessler