Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und Exil 2018
Der 18. Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und Exil wird an Lore Segal verliehen
Lore Segal. Foto: Ellen Dubin Photography
Preisbegründung
Die Verleihung des Theodor Kramer Preises für Schreiben im Widerstand und im Exil an Lore Segal würdigt Leben und Werk einer Schriftstellerin, die bereits als 1938 aus Wien vertriebenes Kind das Bedürfnis und die Notwendigkeit verspürte, anderen Menschen das Ausmaß von Antisemitismus, Ausgrenzung und Verfolgung unter dem nationalsozialistischen Regime, sowie ihre Erfahrungen von Flucht und Exil verständlich zu machen. Ihre 1964 unter dem Titel Other People's Houses als Roman veröffentlichte Serie von Kurzgeschichten zeugt so durch die von Segal auf einzigartige Weise rekreierte Kinderperspektive vom unbändigen Erzählwillen eines klugen und den sie bestimmenden Umständen trotzenden Mädchens, das seine Eindrücke und Gedanken offen und schonungslos zur Sprache bringt. Diese Kurzgeschichtenserie, die erst im Jahr 2000 dank der Bemühungen der Österreichischen Exilbibliothek im Wiener Picus Verlag als Wo andere Leute wohnen veröffentlicht und anschließend mit dem Kinderbuchpreis der Republik Österreich ausgezeichnet wurde, zeugt damit aber auch vom Versuch eines vertriebenen Menschen, sein Leben so weit wie möglich selbst in die Hand zu nehmen. Lore Segals trockener, zum Teil (selbst)ironische Erzählstil bringt die widersprüchlichen Gefühle und Gedanken eines Kindes zum Ausdruck, das mit einem Kindertransport nach England flüchten konnte, sich aber nicht in die Rolle des "dankbaren Flüchtlingskinds" einfügen möchte. Auch in ihren späteren Erzählungen bleiben die Erfahrung von Exil und Fremdheit und das Ringen um und mit Identität bestimmend für ihre Figuren. Lore Segals Sprechton bewegt sich gekonnt im schwer zu fassenden Zwischenbereich von Komik und Tragik, in dem viele der großartigen SchriftstellerInnen des Exils zu verorten sind und der eine enorme Wirkung auf uns auszuüben vermag.
Biographie von Lore Segal (New York)
Lore Segal, am 9. März 1928 als Tochter der Pianistin Franzi (Stern) Groszmann und des Buchhalters Ignatz Groszmann in Wien geboren, ist eine US-amerikanische Schriftstellerin, Übersetzerin und Professorin. Ihr literarisches Werk umfasst Romane, Kurzgeschichten und Kinderbücher, Übersetzungen, sowie zahlreiche in amerikanischen Zeitschriften veröffentlichte Essays und Rezensionen. Im Dezember 1938 konnte sie mit der Identifikationsnummer 152 mit einem der ersten sogenannten Kindertransporte vor dem Nazi-Regime nach Großbritannien flüchten. Die nächsten zehn Jahre lebte sie bei insgesamt fünf Pflegefamilien, da ihre Eltern, die im März 1939 als Hausangestellte nach England ausreisen durften, sie nicht zu sich nehmen konnten. Bereits kurz nach ihrer Ankunft begann sie ihre Erfahrungen, damals noch auf Deutsch, aufzuschreiben. Für Lore Segal selbst war dies der Grundstein ihres schriftstellerischen Werdegangs.
Nach Beendigung ihres Studiums der englischen Literatur an der University of London, das ihr nach Kriegsende durch ein Stipendium ermöglicht wurde, übersiedelte Lore Segal 1948 zu ihrer Mutter, ihren Großeltern und ihrem Onkel in die Dominikanische Republik. Ihr Vater war bereits 1945 wenige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges an den Folgen mehrerer Schlaganfälle verstorben. Nach dem Tod des Großvaters zog die verbliebene Familie 1951 nach New York.
In New York konnte Lore Segal in verschiedenen Zeitschriften Kurzgeschichten veröffentlichen. 1961 wurde sie vom Magazin The New Yorker mit einer Kurzgeschichtenserie über die Kindheitserfahrungen ihres Exils beauftragt, die 1964 unter dem Titel Other People's Houses (deutsch: Wo andere Leute wohnen) als Buch erschien und 1965 mit dem Guggenheim-Preis ausgezeichnet wurde. Neben ihrer literarischen Tätigkeit arbeitete sie zunächst unter anderem als Verkäuferin und Rezeptionistin, ab 1968 lehrte sie an der Columbia University kreatives Schreiben. Nach dem frühen Tod ihres Ehemanns David Segal 1970 setzte sie diese Tätigkeit als alleinerziehende Mutter zweier Kinder am Bennington College und am Sarah Lawrence College fort. Es folgten weitere Anstellungen, etwa an der University of Illinois in Chicago und an der Ohio State University, wo sie 1996 emeritierte. Nach der Veröffentlichung ihrer Novelle Lucinella im Jahr 1976 erschien 1985 ihr zweiter autobiografisch geprägter Roman Her First American (deutsche Übersetzung: Ihr erster Amerikaner, Fischer Taschenbuchverlag 1996), dessen hohe literarische Qualität in vielen Rezensionen hervorgehoben wurde; so etwa von der Kritikerin Carolyn Kitzer in der New York Times: "Lore Segal may have come closer than anyone to writing the great American novel." Lore Segal zeichnete sich auch als Kinderbuchautorin und Übersetzerin, etwa von Märchen der Gebrüder Grimm, aus. 2007 veröffentlichte sie den Kurzgeschichtenband Shakespeare's Kitchen und wurde für den Pulitzer Preis nominiert. Dieser Band ist die erweiterte Version einer Kurzgeschichtensammlung aus dem Jahr 2004, die unter dem Titel Die dünne Schicht Geborgenheit im Wiener Picus Verlag herausgegeben wurde. Ihr jüngster Roman, Half the Kingdom, erschien im Jahr 2013.
Lore Segal und ihre Mutter Franzi Groszmann wirkten in zwei Dokumentarfilmen über die Kindertransporte mit: My Knees Were Jumping. Remembering the Kindertransport (1999) von Melissa Hacker und Into the Arms of Strangers. Stories of the Kindertransport (2000) von Mark Jonathan Harris, die für einen Oscar nominiert bzw. mit einem Oscar ausgezeichnet wurden.
Auf Deutsch erschienen:
• Ihr erster Amerikaner. Aus dem Amerikanischen von Inge Leipold. Frankfurt/M.: Fischer 1996. 304 S.
• Wo andere Leute wohnen. Aus dem Amerikanischen von Sabina Illmer. Wien: Picus 2000. 368 S.
• Die dünne Schicht Geborgenheit. Aus dem Amerikanischen von Ursula C. Sturm. Wien: Picus 2004. 168 S.
Programm der Veranstaltungen
Donnerstag, 27. September, 19h30
Psychosoziales Zentrum ESRA, Tempelgasse 5, 1020 Wien
Begrüßung: Peter Schwarz (ESRA), Konstantin Kaiser (TKG)
Laudatio und Gespräch mit Lore Segal: Dr. Ursula Seeber
Lore Segal liest Gedichte von Theodor Kramer und Paul Stern
Andrea Eckert liest aus dem Werk Lore Segals.
Musikalische Begleitung: Sigi Finkel, Saxophon
Wir bitten um Anmeldung unter info@esra.at oder Tel (01) 21490-14.
Amtlichen Lichtbildausweis mitbringen!
Freitag, 28. September 2018, 19:00 Uhr
Pfarrsaal Niederhollabrunn, Kirchenplatz 1, 2004 Niederhollabrunn
Feierliche Preisverleihung an Lore Segal
Laudatio: Dr. Karin Hanta
Lore Segal liest Gedichte von Theodor Kramer und Paul Stern.
Maria Harpner liest aus dem Werk der Preisträgerin.
Uraufführung der neune Vertonungen von sechs Gedichten Theodor Kramers durch Herbert Rainer und sein Ensemble: Alfred Wittmann - Saxophon, Flöte, Andi Sagmeister – Gitarre, Michael Preuschl – Kontrabass, Herbert Rainer - Gesang
Vertonte Gedichte:
1) Ich habe zu viel und zu gerne gelesen (8.5.1938)
2) Ich bin traurig, dass der Raps verblüht (23.4.1944)
3) Das Blechdach (23.12.1955)
4) Spätes Lied (15.1.1945)
5) Wie über mich nun ganz dein Leib sich beugt (9.8.1953)
6) Nicht fürs Süße, nur fürs Scharfe (30.1.1952)
Zuvor besteht Gelegenheit, gemeinsam mit Harald Maria Höfinger das Geburtshaus Theodor Kramers in seinem heutigen Zustand und die dort gezeigte Theodor Kramer-Ausstellung zu besichtigen.
Die TKG führt einen Autobus von Wien nach Niederhollabrunn und zurück nach Wien. Abfahrtszeit 17:00 von Praterstern/Lassallestraße. Unkostenbeitrag Euro 10,-. Anmeldung erforderlich bei: office@theodorkramer.at oder (01) 7208384.
Kurzbiografien der Mitwirkenden
Ursula Seeber, Geb. 1956 in Innsbruck. Studium der Germanistik, Klassischen Philologie und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Innsbruck und Wien. Mitarbeiterin der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, von 1993 bis 2016 als Leiterin der Österreichischen Exilbibliothek im Literaturhaus in Wien. Arbeitsschwerpunkte zur österreichischen Literatur und zum Exil.
Andrea Eckert, österreichische Schauspielerin, Sängerin und Dokumentarfilmerin, Prinzipalin der Raimundspiele Gutenstein.
Sigi Finkl, geb. 1960, deutscher Saxophonist und Flötist des Fusion- und des Modern Jazz und Komponist.
Karin Hanta, Magisterium für Übersetzen und Dolmetschen, Doktorat in Übersetzungswissenschaft (Universität Wien). In ihrer Dissertation „Zurück zur Muttersprache: Austro-amerikanische Exilschriftsteller_innen im österreichischen literarischen Feld, 1990-2015" setzte sie sich eingehend mit Lore Segals Werk auseinander. Sie unterrichtet Übersetzungwissenschaft am Middlebury College in den USA. Als Übersetzerin arbeitete sie unter anderem für die Österreichische Exilbibliothek und das Österreichische Kulturforum in New York.
Maria Harpner wuchs in einem zweisprachigen Elternhaus auf. Sie studierte zunächst Musikwissenschaft und Publizistik und danach am Konservatorium der Stadt Wien Musical und Operette sowie Oper. Sie ist als Sopranistin seit vielen Jahren vor allem im deutschsprachigen Raum tätig, sang viele zeitgenössische Werke wie z.B. in Henzes "Elegie für junge Liebende", Ligetis "Le Grand Macabre" sowie Rollen des klassischen Repertoires. Sie trat bei Festivals wie dem Steirischen Herbst und den Salzburger Festspielen auf, arbeitete u.a. mit dem Ensemble "Die Reihe", dem "Klangforum Wien" und dem "Ensemble Contemporaine Paris" sowie bei den Vereinigten Bühnen Wien. Sie arbeitet seit vielen Jahren als freischaffende Übersetzerin von Theaterstücken und Büchern.
Herbert Rainer, geb. 1946, aufgewachsen im Waldviertel. Architekt, Kunsthändler und Musiker. Jazz in Kammer- und Bigband-Formationen, als Schlagzeuger, Komponist und Arrangeur. Leiter von Vokalprojekten für Chor-, Ensemble- und Soloprogramme. Aktuell: Vertonung von Gedichten Theodor Kramers.