Editorial
In Norman Mailers Kriegsroman „Die Nackten und die Toten“ entdeckt ein US-amerikanischer Soldat ein kleines Buch mit Gedichten bei einem gefallenen japanischen Offizier. Dieser hat Gedichte geschrieben, und damit greift ein Staunen über etwas gemeinsam Menschliches und zugleich Lebendiges nach dem Herzen des Mannes, der den Leichnam verscharrt.
Es ist vielleicht 40 Jahre her, daß ich das Buch gelesen habe; möglicherweise habe ich wichtige Details vergessen oder die Szene ein wenig umgedichtet. In ihr jedenfalls bezeugt das Gedicht die Nähe eines sein Dasein empfindenden und sich um einen Ausdruck dessen mühenden Wesens, das eine Verständigung mit den anderen sucht.
Um diese Nähe scheint es zunehmend schlecht bestellt. Dem Vernehmen nach erwerben immer weniger Menschen die kulturelle Fähigkeit, Gedichte zu lesen. Auch Lehrende an Schulen verzichten immer öfter darauf, die SchülerInnen mit Gedichten zu konfrontieren. Das Gedicht, diese älteste aller literarischen Gattungen, ist eine „Textsorte“, die der Sucht des Durschauens, des Suchens eines tieferen Sinns und einer versteckten Bedeutung hinter den Worten nicht gemäß ist. Im Gedicht liegt alles überschaubar an der Oberfläche, anders als in esoterischen und religiösen Formeln der Beschwörung eines Jenseitigen der Vernunft oder der erscheinenden Welt. Das Gedicht sagt, frei nach Konfuzius: Entzünde dein kleines Licht, statt das große Dunkel zu beklagen. Das Licht kann auch ein großer Kummer sein, und sein Brennstoff die Qual.
An der Oberfläche zu bleiben und deren Tiefen auszuloten, das muß gleich dem Schwimmen einmal erlernt werden.
Mit dem Schreiben und Verlegen von Gedichten kann man kaum Geld verdienen. Die gesammelten Gedichte Berthold Viertels, die ich 1993 herausgab, wurden zum schlimmsten Ladenhüter der Buchreihe „Antifaschistische Literatur und Exilliteratur – Studien und Texte“, während viele andere Bände der Reihe längst vergriffen sind. Viel Arbeit für eine Niederlage. Der berühmte chinesische Poet Bei Dao erklärte kürzlich in einem Interview, er habe sich auf das Schreiben von Prosatexten verlegen müssen, um sich und seine Familie durchzubringen.
Die wirtschaftliche Marginalisierung ihrer Produkte bewahrt PoetInnen allerdings nicht davor, für ihr Engagement den höchsten Preis zu zahlen, mit dem Leben. Daran sei erinnert, weil sich dieser Tage die Hinrichtung des nigerianischen Dichters Ken Saro-Wiwa zum 17. Mal jährt. Er hatte sich gegen die Umweltzerstörung im Niger-Delta durch internationale Ölkonzerne – hier vor allem Shell – aufgelehnt, und ein willfähriges Militärregime machte ihm den Prozeß. Seinerzeit kostete auch der nunmehr selig gesprochenen Ordensschwester Helene Kafka ein Spottgedicht auf die Nazis und gegen den Krieg den Kopf. Die Lyrik ist vermutlich die wichtigste literarische Gattung für Verfolgte, Flüchtende, Exilierte, Widerstehende.
Gestorben ist in Krakau am 1. Februar 2012 die Nobelpreisträgerin Wisława Szymborska. „Hundert Freuden“ hieß einer ihrer Gedichtbände, allein das nahm mich für sie ein. „Glückliche Liebe und andere Gedichte“, eine Sammlung ihrer späten Gedichte, ist auf Deutsch jetzt erst nach ihrem Tod erschienen. „An mein Gedicht“ gewandt, bietet sie ihren Versen verschiedene Auswege an: aufmerksam gelesen oder bloß durchgelesen zu werden, im Papierkorb zu landen oder gar nicht geschrieben zu werden – „...verschwindest ungeschrieben/ und murmelst zufrieden vor dich hin.“ Die Dichterin weiß, es gibt dieses ungeschriebene Gedicht, das einem auf der Zunge lag und dessen Augenblick nicht kam. Freilich konnte Szymborska auf ein großes und anerkanntes Werk zurückblicken und daher auch eine gelassene Beziehung zu Ungeschriebenem pflegen. Wie steht es aber um jene, deren Gedichte vernichtet wurden, ehe sie im Druck verbreitet waren? Und werden nicht Jahr für Jahr Aufzeichnungen Exilierter in vielen Ländern vernichtet, weil ihre Nachkommen der Sprache ihrer Vorfahren nicht mehr mächtig sind?
Wunderbar in ihrer anmutiger Knappheit sind die Gedichte, die die 2009 verstorbene Elfriede Gerstl als „Nachlass für Herbert“ zusammengestellt hat. In einer neuen Ausgabe der Zeitschrift für Literatur „Kolik“ (Nr. 56) sind sie zu finden. „denkkrümel 03“ der schwer Erkrankten sei hier zitiert:
mir
fällt kein
ersatz für mich
ein
Nein, Gedichte sollen nicht verschwinden, sofern sie Gedichte sind und nicht bloß etwas, das durch Nachahmung wie ein Gedicht auszusehen sucht. Herbert Staud, Lydia Mischkulnig, Alexander Emanuely und ich beginnen daher 2013 mit einer neuen Lyrik-Reihe. Voraussichtlich wird sie „Nadelstiche“ heißen (nach einem Gedicht Siglinde Bolbechers, das in der letzten ZW faksimiliert war). In der Reihe sollen nicht nur Gedichte in der NS-Zeit Verfolgter erscheinen – eröffnet wird sie mit den nachgelassenen Gedichten Siglinde Bolbechers und Trude Krakauers, die beide zu Lebzeiten keinen Gedichtband veröffentlichen konnten, aus verschiedenen Gründen. Siglinde hat Krakauer 1993 bei ihrem Kolumbien-Besuch gewissermaßen entdeckt und als erste und bisher einzige über sie geschrieben.
Zwei, drei Bände sollen künftig jedes Jahr erscheinen. Bereiten wir also unsere nächste Niederlage vor.
Konstantin Kaiser
Nachschrift: Leider war ich nicht in der Lage, meinen Aufsatz über Jean Amérys verzweifelten Ankampf gegen den wuchernden Irrationalismus rechtzeitig fertigzustellen, obwohl ich darüber beim Améry Workshop im Oktober schon referiert hatte. Ich sprach dort ohne Manuskript; nun fällt es nicht so leicht, den Text aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Er wird leider erst im nächsten ZW-Heft erscheinen können.