Theodor Kramer Gesellschaft

Menü

Josef Luitpold Stern

Klassenkampf und Massenschulung

Die folgenden Auszüge stammen aus der Broschüre „Klassenkampf und Massenschulung“, die die Ansprache von Josef Luitpold Stern an den Parteitag in Aussig 1923 enthält. (Josef Luitpold Stern, Klassenkampf und Massenschulung. 21. bis 30. Tausend. Wien 1930) und wurden von Sabine Lichtenberger zusammengestellt.

Aufgabe der Arbeiterbildung

... die Arbeiterbildung hat die Aufgabe, die proletarischen Massen reif zu machen für die politischen, gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen, kulturellen Aufgaben ihres alles umspannenden Klassenkampfes. Wo die Volksbildungsbewegung versagt, müssen wir auch ihr Erbe antreten, auch ihre Aufgaben erfüllen. Aber ein Stenographiekurs in einem Arbeiterbildungsverein hat trotz allem nichts mit Arbeiterbildung zu tun. Unsere Forderung für den Augenblick ist: die bürgerliche Klasse gewährleiste einen Unterricht, der alle Fähigkeiten vermittelt, die das Gesellschaftsleben der Gegenwart verlangt. ... Jeder Volksbildungsverein, der einen Kurs über Geschichte, über Politik, über Staatsleben abhält, ist von der Arbeiterschaft zu meiden, oder: er ist aufzusuchen, um seine bürgerliche Richtung in Wechselgesprächen erkennen zu lassen. Er ist so lange zu fürchten, solange die Arbeiterschaft nicht auf der geistigen Höhe steht, solche Feststellungen vorzunehmen; er wäre massenhaft zu besuchen, wo diese geistige Höhe erreichbar ist. (S. 14 f.)

Die Gestaltung des proletarischen Kalenders

Der erste Sonntag im Jahr: Tag der Arbeiterkinder; dann Tag der Arbeiterinnen, Tag der Gewerkschaften, Tag der Genossenschaften, Tag wider den Krieg, Tag der Arbeiterbildung, Marx-Tag, Bebel-Tag! Würden wir dies tun, würden wir unseren Nothelfern die gleiche seelische Sorgfalt widmen, wie die katholische Kirche ihren Nothelfern, es würde uns besser aus der Not geholfen werden.

Förderung und Schätzung der proletarischen Naturfreunde, der Arbeiter-Sängerbewegung, der Arbeitersportler, sie werde kräftiger, allseitiger, ausgiebiger. Gewiß sind auch diese Bewegungen, wie alles, was wir gestalten und was uns gestaltet, unter die Kritik des Sozialismus zu stellen. Wenn Genossen schlecht oder Schlechtes singen, so haben wir es ihnen frank und frei zu sagen. Die Arbeitersängerschaft wolle an der modernen Musik nicht vorübergehen, sie spüre die revolutionären Bewegungen auch auf diesem Gebiete, sie vermittle sie uns. Wann feiert das soziale Volkslied seine Auferstehung? Das Lied der Armen aller Zeiten, entreißen wir es den Chroniken! ... Die Arbeiterturner wollen unsere Jugend nicht im Geiste Vater Jahns erziehen! Keine Feldwebelübungen! Kein Drill, schlecht genug für Landesverteidigungsministerien! Trennen wir scharf die proletarische Körperkultur vom bürgerlichen Sport! Die volle Kenntnis der Zusammenhänge zwischen Sport und Kulturgeschichte vom Gladiator bis zum Arbeiterordner werde Helferin! Je schärfer der alles umspannende Klassenkampf sich entwickelt, um so mehr werden auch die Naturfreunde sehen, daß Berg und Tal Klassenboden bleibt. Auf österreichischem Gebiet darf mit dem Abzeichen der Naturfreunde eine Schutzhütte der Bürgerlichen nicht mehr betreten werden. Genügt es aber dann, proletarische Schutzhütten zu erbauen, um darin Pfeife zu rauchen? (S. 27 f.)

Organisation der Arbeiterbildung

Die Organisation der Arbeiterbildung findet ihre geglückte Form im Aufbau vom Ortsbildungsrat mit seinem Stab der Betriebs- und Häuserbildungsräte über die proletarischen Kreis- und Landesbildungsausschüsse bis hinauf zu den Arbeiterbildungszentralen, und der aus ihnen entstehenden Internationale der Arbeiterbildung. Ohne Funktionäre der Arbeiterbildung keine Arbeiterbildung! Zugleich, ja vorerst Schulung dieser Helfer und Helferinnen in eignen, regelmäßig wiederkehrenden Bildnerkursen, Errichtung von Fachbüchereien, Herausgabe von Merkblättern und Lehrbüchern, Vermittlung der wachsenden Zahl der Zeitschriften für sozialistische Erziehung. Jeder unserer Mitarbeiter spüre immerfort den Zusammenhang der geistigen Bewegung vom kleinsten Fabriksdörfchen oder Waldarbeiternest bis zu den bewundernswerten Leistungen der Arbeiterakademien und großstädtischen Arbeiterbildungsinstitute, bis zu der allumfassenden Kulturarbeit des Proletariats auf dem Erdball. Ewig neugenährter Ehrgeiz halte die tausend namenlosen Pioniere dieser stillen, aber gewaltigen Revolution der Geister in Atem. (S. 29 f.)

Ziele der Arbeiterbildung

Abschied vom mittelalterlichen Menschen in uns letzten Früchten kleineuropäischer Kultur, Aufleben allgemeiner wissenschaftlicher Gesinnung, Erwachen des schöpferischen Bewußtseins von der sozialen Anwendbarkeit des Wissens. Wer aber ist der Helfer des Sozialismus? Auf sechs Gruppen innerhalb der Arbeiterschaft hat sich der Eifer unserer revolutionären Erzieher gleichmäßig und gleichzeitig zu strecken. Zunächst auf die Arbeiter, auf die Männer. In ihnen vielfach noch letzte Ruinen des Männerhochmuts. Arbeiter vergessen noch, daß Sozialismus nicht einmal halben Sozialismus ist, wäre er nur verankert in den Herzen und Hirnen der Männer. Wir brauchen ebenso sehr sozialistische Bildung der Frau. Arbeiter, geht auch in die Arbeiterinnenschulen! Erst wenn der Arbeiter und die Arbeiterin alle Ausbeutungsformen des Mannes und der Frau in der heutigen Wirtschaft kennen, wird sich eine der großen Gefühlsrevolutionen für das Zusammenleben der kommenden Geschlechter ermöglichen, die revolutionäre Kampfkameradschaft, das einzige, was von der Ehe übrig bleibt.

Aber nicht nur Mann und Frau wollen gleichzeitig geschult werden, ebenso Masse und Führer. Es soll keine Ironisierung sein, sondern Fragestellung: die Führer haben durch die Trägheit der Autoritätsgläubigen, mittelalterlicher proletarischen Masse so unendlich viel zu tun, daß sie im besten Falle Zeit haben, Kurse zu organisieren, aber kaum mehr Zeit, Kurse selber zu besuchen. Neben den Massenschulen also Führerschulen!, aber letzten Endes Auflösung der proletarischen Masse in lauter Führerfunktionen. (S. 32)

Proletarische Kulturarbeit

Die Französische Revolution, der Aufstieg des Bürgertums in seiner Glanzzeit rissen Rousseau zu den Worten hin: „former des citoyens“, „Bürgermachen, formen, gestalten“. Unsere Pflicht ist es, unsere Aufgabe, unsere Sendung, den Proletarier und die Proletarierin zu bilden, zu gestalten. In einer Darstellung der Niederlande aus jener Zeit, da der Weltverkehr der Gegenwart entstanden ist, um das Jahr 1600 herum, ist zu lesen, daß damals in den Niederlanden jedes Haus eine Schiffahrtsschule, kein Haus ohne Seekarte war. Unser sei das Werk, jede Arbeiterschule zur Schule des Sozialismus zu machen, jeden Arbeiter, jede Arbeiterin zu einem Gefäß der Revolution“. (S. 34)