Theodor Kramer Gesellschaft

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Henriette Kotlan-Werner

Bildungsorganisation der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAP)

Erinnerungen

Mit 15 Jahren ist man besonders aufgeschlossen für neue Erlebnisse und Eindrücke. Ich war im Jahr 1925 fünfzehn Jahre alt. In diesem Jahr erhielten wir für die zwei Zimmer-Küche-Wohnungen, die wir (fünf, später mit der Großmutter sechs Personen) uns teilen mußten, die aber zehn Gehminuten voneinander entfernt waren, eine Gemeindewohnung. Meine Mutter hatte in zweiter Ehe einen Witwer mit einem Sohn geheiratet, so waren wir auf zwei Kleinwohnungen verteilt.

Ich hatte das Gefühl, aus dem Dunkel ins Licht getreten zu sein, und das beruhte nicht allein darauf, daß wir nun nicht länger eine düstere Gangküche und ein Zimmer hatten, das auch im Sommer am Abend nur für eine halbe Stunde von der Sonne gestreift wurde, sondern eine Küche mit einem großen Gassenfenster und weitere lichtdurchflutete Räume. Der ganze Bau (Architekt Josef Frank) war so geplant, daß in den zwei Höfen kein Trakt Schatten auf einen anderen warf und jede Wohnung mindestens einen Raum mit Sonne hatte. Der unvergeßliche Stadtrat Hugo Breitner hatte solche Bauten in einer Zeit größter Not buchstäblich aus dem Nichts finanziell ermöglicht.

Im Sommer 1925 nahmen mich eine Tante und deren Mann auf eine Italienreise mit, veranstaltet von der Bildungsorganisation der SDAP. Man fuhr mit der Bahn bis Triest, von dort mit dem Schiff bis Neapel und dann wieder mit der Bahn nach Rom und Florenz. Wohl gab es in der Reisegruppe Stimmen, die Kritik und Selbstvorwürfe äußerten, denn wir befanden uns im faschistischen Italien, und die Ermordung des Sozialisten Matteotti war noch allen schmerzlich bewußt. Es waren nicht sehr viele und eher leise Stimmen, aber ich hatte sie doch wahrgenommen.

Außer den Brüdern Jenschik, welche Funktionäre der Bildungsorganisation waren, fuhr auch der junge Dr. Adolf Schärf mit, der vor mir lächelnd sagte, ich sei uninteressant für ihn, da ich noch nicht wahlberechtigt sei.

Es gab noch weitere Funktionäre, auch solche aus der Provinz, deren Namen mir jedoch, wenigstens zu dieser Zeit, nichts bedeuteten. Anton Jenschik und Adolf Schärf waren aus Hernals wie ich und mir dem Namen nach bekannt.

Es war fast für alle Teilnehmer die erste Auslandsreise, und ich ahnte mehr, als daß ich es bewußt begriffen hätte, daß dies ein Verdienst der Bildungsorganisation der Sozialdemokratischen Partei war.

Im Herbst hörte ich, ich weiß nicht mehr, auf welche Weise, von einem Sprechchor der Bildungsorganisation Hernals und trat ihm bei. Die Kunst des Sprechchors kam aus Rußland, wo diese Sparte eben sehr gepflegt wurde.

Unser Sprechchor wurde von dem Schauspieler Karl Forest geleitet, den ich jedoch nur einmal erlebte, da er bald von einem jüngeren, aber ebenfalls qualifizierten Mann, abgelöst wurde. Wir nahmen den „Blitzzug“ von Detlev v. Liliencron durch – „Quer durch Europa von Westen nach Osten/ rattert und rattert die Bahnmelodie ...“ – und wurden bald bei Parteifeiern eingesetzt.

Als ich dann auch noch von einem Rednerkurs hörte, trat ich auch diesem bei. Er wurde von einem gutaussehenden jungen Mann aus der Gewerkschaft der kaufmännischen Angestellten geleitet. Dieser, Manfred Ackermann, wählte zur Grundlage seines Kurses nichts Geringeres als die Rede des Marc Anton aus Shakespeares „Julius Cäsar“ und verhalf mir dadurch drei Jahre später zu einem unverdienten Erfolg bei der Matura: Just diese Rede hatte ich aus dem Englischen zu übersetzen, und da ich mich noch gut an die Übersetzung von Schlegel erinnerte, tat ich es schwungvoll:
„Mitbürger! Freunde! Römer! Hört mich an ...“

Aus alledem geht hervor, daß ich nicht zu der „proletarischen Jugend“ gehörte, welche die Sozialdemokratische Partei vor allem zu erfassen und zu bilden hoffte. Ich war vielmehr ein privilegiertes junges Mädchen, zwar äußerst arm, aber Mittelschülerin der Bundeserziehungsanstalt Hernals, in welche Otto Glöckel 1919 das ehemalige Offizierstöchter Erziehungsinstitut umgewandelt hatte. Dort hatte ich einen Stiftungsfreiplatz der Gemeinde Wien.

Man muß daher fragen: „Was leistete die Bildungsorganisation für minder Privilegierte, für die Arbeiter?“ Die Antwort darauf kann nur lauten: „Ungeheuer viel!“
Da gab es zunächst die laufenden Vorträge in den Parteisektionen der Bezirke. Das Radio war in seinen ersten Anfängen, vom Fernsehen keine Rede – also fanden sich in den wöchentlichen Sektionsversammlungen immer viele Mitglieder ein. Neben den Arbeiterheimen, den aus den Ersten Weltkrieg stammenden Baracken und neuerdings auch den Lokalen in den Gemeindebauten standen nur noch Wirtshäuser für diese Versammlungen zur Verfügung. Ich erinnere mich, daß ich mich nur schwer an die Häßlichkeit der Barackenräume gewöhnte, die mit rotem Fahnentuch dürftig verschönert waren.

Als ich mich zum ersten Mal im Sektionslokal unseres neuen Wohngebietes einfand, eröffnete der Obmann den Abend mit den Worten: „Ich begrüße die Genossen und Genossinnen zum zweiten Abend unseres Zyklusses ‚Die großen Männer des Sozialismus‘.“

Als 15-jährige Mittelschülerin erkannte ich natürlich den Lapsus und wäre bereit gewesen, ihn zu belächeln, wenn mich der Gedanke daran nicht gehindert hätte, daß hinter diesem Fehler im Grunde das Bemühen um eine „richtige“ Sprache lag.

Die vielen Sektionsversammlungen erforderten eine große Zahl von Vortragenden, und es mag anfangs für die Bildungsorganisation nicht immer leicht gewesen sein, für jeden Abend einen geeigneten „Referenten“ zu finden.

Das änderte sich, als in Ungarn 1920 die Räterepublik zusammenbrach und mit dem Beginn des Horthy-Regimes ungarische Sozialisten nach Österreich flüchteten. Die Intellektuellen unter ihnen bereicherten die Bildungsorganisation in hohem Maße, und ich erinnere mich, viel von solchen Vorträgen gelernt zu haben.
Ihre wichtigste Aufgabe sah die Bildungsorganisation in der ersten Erziehung der Mitglieder zu Sozialisten. Das geschah in der Hauptsache mit Hilfe von Vorträgen über das Wesen und die Geschichte des Sozialismus. An den Sektionsabenden hörten die Mitglieder von den frühen Utopisten, von Saint-Simon, von der Genossenschaftsvariante des Schulze-Delitzsch, von Lassalle und endlich von Marx und Engels. Diese, als Vertreter des „wissenschaftlichen“ Sozialismus, waren die wahren Sozialisten, ihre Lehre allein geeignet, die Arbeiter aus dem Elend zu führen. Denn nach ihrer Lehre arbeitete die geschichtliche Entwicklung für sie:
Der Sozialismus mußte kommen. Dieser Leitsatz, man darf sagen, dieses Dogma, wurde in der Marxistischen Studiengemeinschaft gelehrt und diskutiert. Von dort kamen viele Vortragende für die Sektion, welche – von der Bildungsorganisation eingesetzt – den „Austromarxismus“ ins Volk trugen, jenen Austromarxismus, welcher den Kommunismus ablehnte, dennoch, wenigstens anfangs, der Sowjetunion freundschaftlich, dem „bürgerlichen Parlamentarismus“ kritisch und solcherart dem wesentlichen Demokratiegedanken ambivalent gegenüberstand.

Mit besonderem Erfolg vermochte Max Adler die Jugend für diese Lehre zu begeistern. Politik, so sagte er, sei keineswegs ein schmutziges Geschäft. Das Wort leite sich vom griechischen „politeia“ ab und das sei mit „Sorge für das Gemeinwohl“ zu übersetzen.

Das prägte sich mir tief ein. Für das Gemeinwohl zu sorgen, das schien mir eine gute Sache, und dieser Meinung bin ich noch heute. Wie ich bereits erwähnte, mag es anfangs nicht immer möglich gewesen sein, geeignete politische Referenten für die Sektionsabende zu finden. So erinnere ich mich an einen sektiererisch wirkenden Mann, der in unserer Sektion enthusiastisch über die Heilkraft der Sonnenstrahlen sprach. Er wirkte etwas wunderlich.

Und dennoch war sein Vortrag ganz dem Bildungsprogramm entsprechend. Denn zur Arbeiterbildung jener Zeit gehörte auch Hygiene. Besonders in der Tuberkulosestadt Wien mit ihren finsteren, oft feuchten Arbeiterwohnungen war die Aufklärung über ein gesünderes Leben von großer Wichtigkeit. „Wie wasche ich mich ordentlich in einer Zimmer-Küche-Wohnung?“ läßt die Wochenzeitung „Die Unzufriedene“ ein junges Mädchen fragen, das mit Eltern und Geschwistern zusammenwohnt.

Die Gemeindewohnungen hatten keine Badezimmer, aber Gemeinschaftsbäder – ein ungeheurer Fortschritt. Die Gemeinde Wien baute Planschbecken für Kinder, und in Artikeln und Vorträgen wurde immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig Luft und Sonne für einen gesunden Körper seien.

Den Körper entblößen – das mußte erst erlernt werden. In der von der katholischen Kirche beherrschten Schule waren Keuschheitsregeln gelehrt worden, nach welchen mancherorts schon eine kurzärmelige Bluse gegen die Sittlichkeit verstieß. In diesem Zusammenhang erlangten Sport und Wandern einen wichtigen Platz neben der Erziehung zum Sozialismus. Dabei ging es nicht mehr allein um Vorträge.

Vom einfachen Sonntagsausflug, zu dem sich am Morgen bei den Endstationen der Wiener Straßenbahn Familien- und Jugendgruppen versammelten, um den Tag auf einer Wiese nahe dem Wald zu verbringen, bis zu den Naturfreunden, welche größere Wanderungen unternahmen, den Bergsteigern, Faltbootfahrern und allen anderen Arbeiter-Sportgruppen, verbrachte der Großteil der organisierten Arbeiter den Sonntag im Freien.

Das war neu.

Am Sonntag war bisher die Familienmutter am Vormittag in der Küche gestanden, um mittags neben dem Erdäpfel- oder Gurkensalat das panierte Schnitzel – und sei es nur vom Pferdefleischhacker gewesen – aufzutischen, danach abzuwaschen und erst dann, wenn sie nicht zu müde war, wurde ein Familienspaziergang unternommen.
„Hat das Mädel kein Sonntagskleid?“, fragte eine Tante.
„Ja“, sagte meine Mutter, „aber sie will es nicht anziehen.“
Nein, das wollte ich nicht. Eine frischgewaschene weiße Bluse, ein Rock und eine „Windjacke“ – das war unsere Tracht, die aus Rußland kam. Keine Stöckelschuhe, keine Ohrringe („Warum nicht auch ein Ring durch die Nase?“, fragten wir), die Haare kurz, die Stirn frei.

Zu alledem hatte sich in dieser Massenbewegung ein Hang zur Enthaltsamkeit durchgesetzt. Die Sozialdemokraten, vor allem die jungen, waren in der Phäakenstadt zu Alkoholgegner geworden.

Das war ein Vermächtnis Victor Adlers. Und dieses Vermächtnis war Teil des Bildungsprogrammes: Der trinkende Arbeiter denkt nicht, der denkende Arbeiter trinkt nicht!
Victor Adler hatte gegen den übermäßigen Biergenuß der Wiener Arbeiter während seines Kampfes um das Wahlrecht zu kämpfen gehabt. Um ein Beispiel zu geben, verzichtete er auf sein abendliches Krügel Bier. Das war bekannt, und 1925 war die Vaterfigur der österreichischen Sozialdemokratie im Bewußtsein der Arbeiter noch lebendig. In Vorträgen und Zeitungsartikeln warb der „Arbeiter-Abstinentenbund“ um Mitglieder.

Eine ungeheure Leistung der sozialdemokratischen Bildungsarbeit!

Freilich, der Mensch ist schwach und ich erinnere mich an manche heitere Szene, wenn ein Kusin, ein jüngerer Onkel, erhitzt vom Ballspiel, heimlich zur „Bieglerhütte“ entwich, um dort mit einem Seidel Bier seinen Durst zu stillen. Nachher, zur Rede gestellt, leugneten sie.

Wir jungen aber blieben fest, weigerten uns, den Eltern ein Krügel Bier vom Wirt zu holen und spuckten empört das angebotene Schnapszuckerl aus, das wir irrtümlich angenommen hatten.

Die Italienreise, der Sprechchor, der Rednerkurs – sie waren mein Einstieg in die Sozialdemokratische Partei, die sich solcherart als das erwies, was sie, nach den Worten David Josef Bachs, neben ihrer primären politischen Funktion in einem hohen Maße gewesen ist: eine Kulturbewegung. Und diese Kulturbewegung wurde – neben der Kunststelle, deren Aufgabe auf Theater- und Konzertbesuch sowie auf Festgestaltung spezialisiert waren – von der Bildungsorganisation der Partei verwaltet.
Kultur und Politik lassen sich natürlich nicht voneinander trennen.

1923 schlossen sich der Verein „Freie Schule“ und die „Kinderfreunde“ zum Sozialdemokratischen Erziehungs- und Schulverein „Freie Schule-Kinderfreunde“ zusammen.
Der ursprünglich liberale Verein „Freie Schule“ kämpfte vor allem gegen die Beherrschung der Schule durch die katholische Kirche und strebte erfolgreich pädagogische Reformen an, welche in einer eigenen Schule in der Albertgasse in Wien angewendet wurden. Das Gebäude dieser Schule ist noch heute im Besitz der Sozialdemokratischen Partei.

Weniger klar waren in jener Zeit die Ziele der „Kinderfreunde“.

Die Mehrzahl der Parteifunktionäre sahen ihren Zweck in der Errichtung von Horten zur Betreuung der Kinder, wo man mit ihnen spielte und wanderte, wobei sie gefühlsmäßig im sozialistischen Sinne beeinflußt wurden und zu künftigen Parteifunktionären heranwachsen konnten.

Radikaler waren die Forderungen Max Adlers und des Leiters der „Schönbrunner Schule“. Dieser, Otto Felix Kanitz, bildete in Schönbrunn die Erzieher für die Kinderfreundehorte aus. Er selbst, in einem Waisenhaus extrem katholisch erzogen, war jetzt, als überzeugter Marxist und Schüler des Philosophen Natorp, um eine Theorie der sozialistischen Erziehung bemüht. Das Ziel war ein doppeltes: Die Kinder sollten sowohl zu Kämpfern für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, als auch zu Menschen erzogen werden, welche geeignet und würdig waren, in der sozialistischen Gemeinschaft zu leben.

Unrealistisch hoch legte der sowohl idealistische als auch marxistische Max Adler die Latte für die „Erziehung der Erzieher proletarischer Kinder“. Eine auch nur annähernde Verwirklichung seines Vorschlages für die Heranbildung des „Neuen Menschen“ hätte Geldsummen erfordert, die kein Gemeinwesen aufzubringen imstande gewesen wäre.

Sowohl Max Adler als auch Kanitz waren in ihrer marxistischen Begeisterung völlig blind für den pädagogisch genialen Begründer der „Kinderfreunde“, Anton Afritsch, welcher vor allem die Eltern in ihrer Erziehungsarbeit unterstützen wollte und verkannten ebenso den radikalen Erziehungsreformer Max Winter, der die Einschränkung „proletarischer“ Kinder ablehnte.

Mit Adler und Kanitz kritisierten die „Linken“ die „bürgerliche“ Schulreform Otto Glöckels.

Sehr hoch gingen in diesem Meinungsstreit die Wogen. Die Bildungsorganisation ließ, gemäßigt, die Vertreter aller Meinungen zu Wort kommen, ohne den Konflikt herauszuarbeiten.

Der unbestreitbar notwendige Kampf gegen die politischen Ansprüche der katholischen Kirche stärkte die Stellung des „Freidenkerbundes“ in der Partei. Leider sank dessen Aufklärungsarbeit gelegentlich auf das Niveau von Witzen über Pfarrersköchinnen.

Auch die Monisten waren Gegner der katholischen Kirche und als Anhänger des Philosophen Ernst Haeckel „Materialisten“. Haeckels „Welträtsel“, 1899 erschienen, gehörte neben den populären Schriften von Marx und Engels zum Grundbestand jeder Arbeiterbücherei. Auch die Monisten wurden von der Bildungsorganisation betreut.

In Polen hatte der jüdische Augenarzt Lazar Zamenhof, um die verschiedensprachigen Nationen seiner Heimat einander näherzubringen und damit Frieden zu fördern, eine internationale Hilfssprache, Esperanto, erarbeitet.

Die österreichische Sozialdemokratie trat für Völkerverständigung und Frieden ein, also nahm ihre Bildungsorganisation auch die Esperantisten als Arbeiter-Esperantisten in ihr Programm auf, denn nicht alle pazifistisch gesinnten Esperantisten waren auch Sozialisten.

So sorgte die Bildungsorganisation nicht allein für die vorwiegend politisch motivierten Arbeiter, welche in erster Linie eine ökonomische Besserstellung oder soziale Gerechtigkeit erwarteten, sondern auch für solche Mitglieder, die sich neben der Erfüllung ihrer politischen Forderungen auch eine Unterstützung ihrer kulturellen Bestrebungen erhofften.

Wo immer eine kulturelle Vereinigung Ideen vertrat, welche im Gedankengebäude der Sozialdemokratischen Partei unterzubringen war, gründete sie für deren Anhänger eine Organisation, meist mit dem Vorsatz „Arbeiter“, die dann von der Bildungsorganisation betreut wurde. Ist das noch zu verstehen, befremdet dagegen die bald darauf einsetzende totale Vereinnahmung der Mitglieder mit ihren Freizeitinteressen. Man braucht nur den täglichen Vereinsanzeiger in der „Arbeiter-Zeitung“ der Zwischenkriegszeit anzusehen, um frappiert ein unvorstellbares Sammel-Surium von organisierter Freizeittätigkeit festzustellen.

Es gab Arbeiter-Esperantisten, Arbeiter-Turnvereine, Arbeiter-Schachspieler, ebenso Kleingärtner und Kaninchenzüchter. Es gab keine Freizeitbeschäftigung, welche die Bildungsorganisation nicht erfaßt hätte, und es war eine Todsünde, als Hobby-Fotograf oder Taubenzüchter einem „bürgerlichen“ Verein anzugehören.

Daß man Mitglied des Bestattungsvereines „Die Flamme“ war, verstand sich von selbst: Als bewußter Sozialist ließ man sich nach dem Tode nicht begraben, sondern verbrennen – ein Vorgang, der zu jener Zeit von der katholischen Kirche verboten war. Zur bewundernswerten sozialdemokratischen Bautätigkeit zählt demnach auch das schöne Krematorium in Wien, wo die konfessionslosen verstorbenen Sozialisten würdig von ihren Gesinnungsgenossen verabschiedet wurden – ohne Priester.

Immer mehr Sozialdemokraten traten aus der katholischen Kirche aus, besonders nach den Juliereignissen im Jahre 1927, bei welchem die Wiener Polizei mehr als neunzig Demonstranten niederschoß. Als es danach im Parlament wegen der folgenden Strafprozesse zu einer erregten Debatte zwischen Otto Bauer und dem Prälaten Dr. Seipel kam, bei der der katholische Würdenträger „Keine Milde!“ rief, kam es zu einem Massenaustritt aus der katholischen Kirche.

Nach dieser Schilderung bekommt man eine Vorstellung von der Wirkung der sozialdemokratischen Bildungstätigkeit. Sie ging in die Breite, aber auch in die Tiefe des Einzelnen.

Die Ausdehnung fand ihre Grenzen allerdings dort, wo es keine organisierten Sozialdemokraten gab. Das „Rote Wien“ hatte die Vormachtstellung, aber auch die Arbeiter der steirischen Eisenindustrie waren „durchorganisiert“, so wie jene der Städte Steyr oder Linz und einiger anderer Gebiete.

Sie alle waren Enklaven, die sich deutlich vom agrarischen Österreich absetzten und geistig mit ihrem Austromarxismus in unversöhnlichem Gegensatz zu den katholisch gesinnten Bürgern und Bauern standen. Im Gegensatz zu diesen empfanden die österreichischen Sozialdemokraten mehr Solidarität für Gesinnungsgenossen im Ausland als für andersgesinnte Österreicher. Eine „Heimat Österreich“ – in welchem Sinn auch immer – gab es in der Sozialdemokratischen Partei kaum.

Das machte die sozialdemokratische Kultur, so wertvoll sie sich im Ganzen darstellt, zu einer Subkultur. Eine Subkultur, welche auch schwerwiegende negative Seiten aufwies. Geistige Selbstgenügsamkeit führte dazu, daß man nicht bereit war, andere Ideen auch nur einigermaßen kennenzulernen, mit einem Andersgesinnten zu verkehren. Ein „Roter“ verkehrte mit keinem „Schwarzen“, aber auch kein „Schwarzer“ mit einem „Roten“. Erst in den Konzentrationslagern Hitlers kamen die schwarzen und roten Gegner des Nationalsozialismus einander näher. Leopold Figl konnte durch seinen Aufenthalt in zwei Konzentrationslagern Sozialdemokraten und Kommunisten menschlich nahekommen, und seine sozialistischen und kommunistischen Lagergenossen haben von ihm stets mit Achtung, ja Liebe gesprochen. Aber das war eher ein Einzelfall. Er hat sich freilich für das Österreich nach dem Krieg segensreich ausgewirkt.

Die Kluft zwischen „Schwarz“ und „Rot“ hielt in Österreich noch lange an. Das Streben, sie zu überbrücken, kam von katholischer Seite: Der Publizist Friedrich Heer war unermüdlich im Mahnen zu Gesprächen über den Graben hinweg. Und ganz verschwunden ist diese Kluft auch heute noch nicht.

Die Bildungsorganisation der Sozialistischen Partei hat es nach dem Krieg leider verabsäumt, ihre Mitglieder mit den Grundsätzen der Demokratie vertraut zu machen.
Schon 1933 wurde Österreich ohne Parlament regiert.

Die demokratische Periode der Ersten Republik hatte nur fünfzehn Jahre gedauert. Und wenn man Österreich unter Hitler gleichsetzen kann und darf, so ist es doch vor Hitler kein demokratischer Staat gewesen.

Viele Beispiele ließen sich dafür anführen, wie oberflächlich und konfus die Vorstellungen über Demokratie bei den Österreichern nach dem Ende der Hitlerherrschaft gewesen sind – auch bei solchen, welche politische Verantwortung trugen. Woher hätte ihnen auch das Wissen kommen sollen?

Es ist meine feste Überzeugung, daß die Bildungsorganisation der Sozialistischen (sozialdemokratischen) Partei mit dem Unterlassen, Wissensvermittlung und Studiengemeinschaften mit dem Thema „Demokratie“ in ihr Programm aufzunehmen, einen schweren Fehler begangen hat.

Manche Ereignisse, die später der Partei so sehr geschadet haben, hätten sich vermeiden lassen, wären ihre Akteure besser oder überhaupt über das Wesen der Demokratie aufgeklärt worden.

Mit solchen Gedanken fällt man in Österreich unangenehm auf, falls man überhaupt verstanden wird.

Jeder Hinweis auf England oder die Vereinigten Staaten wird sofort mit der Aufzählung von „Gegenargumenten“, wie Imperialismus, Kolonien, Negersklaven, Korruption u.ä. schroff abgewiesen und als „Anhimmelung“ jener Staaten abgelehnt. Denn wir haben ja alles, was wir brauchen!

Vergeblich die Versicherung: Gewiß, all das gibt es in England und den USA auch, aber diese Länder haben etwas, das wir nicht haben; eine lebendige Demokratie.
Erst im Juli dieses Jahres wurde in Österreich der Entwurf einer Novelle zu einem Punkt des Verfassungsgerichtshofs-Gesetzes erarbeitet, nach welchem es einem Verfassungsrichter möglich sein soll, seine abweichende Meinung von einem Beschluß seines Gerichtes festzuhalten, und daß dieses Sondervotum der schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses anzuschließen sei, zur eventuellen Wahrung von gewichtigen Argumenten der Minderheit.

In der BRD hat man diese „dissenting opinion“ („abweichende Meinung“) von den USA übernommen. Din Einrichtung hat sich bewährt. Wir hinken nach.

Wer den Fernsehfilm „Gleichheit kennt keine Farbe“ (mit Sidney Poitier) gesehen hat, versteht, worum es sich handelt. In der Szene, in welcher der Oberste Gerichtshof in Washington darüber berät, ob es der Verfassung entspricht, daß weiße und schwarze Kinder getrennte Grundschulen besuchen müssen, sehen und hören wir auch einen Richter mit seiner „dissenting opinion“.

Wieviele Österreicher interessiert so etwas? Die Leiterin einer Wiener städtischen Bücherei erzählte mir, daß Engländer und Amerikaner ihre Bibliothek aufsuchten und die Verfassung Österreichs verlangten. „Ich weiß sehr wohl, daß in ihren Ländern in jeder öffentlichen Bibliothek die Verfassung ihres Landes steht und schäme mich, wenn ich ihnen nicht dienen kann. Allerdings hat noch nie ein Österreicher hier die Verfassung unseres Landes verlangt.“

Nein, weder die Verfassung, noch das Problem wie die Meinungen von Minderheiten zu bewerten sind – ob man sie untergehen lassen oder vielmehr aufbewahren sollte, weil sie später möglicherweise von Nutzen sein könnten – interessieren die Österreicher.

Nach dem Krieg gab man in den Sektionen Unterhaltungsabende („Wien der Abende“) und selbst die so notwendige Aufklärung über die Hitlerzeit, die Veröffentlichungen und Symposien über die Geschichte der Arbeiterbewegung, so wertvoll sie sind, sie haben Studien über die Demokratie und Aufklärungsvorträge darüber außer Acht gelassen.
Dasselbe ist an unseren Schulen zu bemängeln. Darf es vorkommen, daß junge Leute in einen Genossenschaftsbau einziehen, ohne eine Ahnung vom Wesen einer Genossenschaft zu haben und daher auch nicht bereit sind, als Delegierte, wie es das Gesetz vorsieht, die Interessen ihrer Mitbewohner zu vertreten? Daß Betriebsräte das Betriebsrätegesetz nicht kennen?

Fragt man sie, ob sie denn in der Schule nichts davon gehört hätten, so lautet die Antwort „nein“.

Weder die Schule, noch die Volksbildung haben sich die Erziehung zur Demokratie angelegen sein lassen. Aber daß auch die Bildungsorganisation der Sozialdemokratischen Partei hierin versagt hat, ist schlimm. Es wäre allerdings eine weit schwierigere Aufgabe gewesen als die Vermittlung einer Ideologie.

Wien, 30. September 1992

 

Henriette Kotlan-Werner, geb. 1910 in Wien, studierte Germanistik und Anglistik. Als sie schon ihr Philosophicum abgelegt hatte und vor den Hauptrigorosen (Prüfungen zur Erlangung des Doktorgrades) stand, wurde sie am 7. Jänner 1937 wegen illegaler politischer Betätigung für die im „Ständestaat“ verbotene Sozialdemokratie verhaftet und verbrachte drei Monate im Polizeigefängnis, sechs Monate als Untersuchunsgshäftling im Wiener Landesgericht. Im Oktober 1937 bedingt aus der Untersuchungshaft entlassen, emigrierte sie nach Prag und dann nach London, wo sie ein Jahr lang Sekretärin des London Büros der österreichischen Sozialisten war. Nach dem Krieg arbeitete sie als „Labor-Editor“ in der Gewerkschaftsabteilung der den Marshall-Plan in Österreich abwickelnden ECA-Mission in Wien, dann als Journalistin und Übersetzerin bei der Konsumgenossenschaft. Henriette Kotlan-Werner schrieb Artikel und Feuilletons für „Arbeiter-Zeitung“, „Die Frau“, „Arbeit und Wirtschaft“ und verschiedene Gefwerkschafts- und Genossenschaftsblätter. Buchpublikationen: Triumph der Selbsthilfe. 100 Jahre Konsumgenossenschaft (Wien 1965); Kunst und Volk. David Josef Bach 1874 – 1947 (Wien 1977); Kanitz und der Schönbrunner Kreis. Die Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher 1923-1934 (Wien 1982). In MdZ 14/4 erschien, kurz nach ihrem Tod am 26.Dezember 1997, die Erzählung „Jiddisch – eine Gefängniserinnerung aus der Dollfußzeit“. Ihre Erinnerungen an die Bildungsorganisationen der SDAP schloss sie 1992 ab.