Schiller Marmorek
Der Bischof der Französischen Revolution
Die Jahrhundertfeier des Abbé Grégoire
In der ungeheuren Vielfältigkeit von Individualitäten, die sich offenbarten, als am Ende des achtzehnten Jahrhunderts der nie mehr erloschene Kampf der beiden Frankreich einsetzte, ist keine Gestalt rührender, so im Innersten von den Aufgaben der neuen Zeit durchdrungen, keine begieriger, mit ihnen wahrhaft die ganze Menschheit zu beglücken, als Henri Grégoire, Pfarrer von Embermesnil in Lothringen, später republikanischer Bischof von Blois. Dieser Jesuitenzögling, dieser gläubige Christ, dessen Überzeugung nicht der Papst und nicht die Philosophen der Vernunft erschüttern können, ist geradezu ein Symbol für die Ideale der Französischen Revolution, für die er mitgekämpft, die er oft genug selbst formuliert, mit seiner Autorität durchgesetzt hat, und die auch vor der diktatorischen Gewalt der Reaktionen auszusprechen er nicht zurückgeschreckt ist.
Vor hundert Jahren, im Mai 1831, ist er, einundachtzig Jahre alt, gestorben, noch in der letzten Stunde von der Kirche verfemt, daß sie ihm die Sakramente zu verweigern suchte, und von der Regierung so gefürchtet, daß sie fremde Geistliche an sein Lager entsandte. Die Studenten der Pariser Universität zogen den Leichenwagen zum Friedhof, und mehr als zwanzigtausend Menschen scharten sich um den Sarg, mit dem sie eine allerletzte Verkörperung der heiligen großen Revolution begruben.
Noch ehe die Revolution losbrach, hatte er den Samen einiger Ideen hineingeworfen, die sie dann weitertrug, so besonders das Bemühen um die völlige Gleichberechtigung der Juden, die trotz ihrer großen Zahl in Lothringen rechtlos lebten und hohe Sondersteuern an Kirche und Adel entrichten mußten. Ein Jahr vor dem Bastillensturm belohnte die Akademie von Metz seine Schrift mit einem Preise, Jahre danach die erste Nationalversammlung mit einem Gesetz, das seine Absichten in die Tat wandelte.
Der Pfarrer Grégoire war Mitglied der Generalstaaten und riß den niederen Klerus mit, sich mit dem dritten Stande zu vereinigen und dessen vom Hofe beabsichtigte Isolierung zu durchbrechen. Er stimmte mit den Revolutionären gegen die Adelsprivilegien und für die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, in die er sich, freilich vergebens, bemühte, auch Bürgerpflichten aufnehmen zu lassen. Er trat zusammen mit Robbespierre, mit Marat gegen das Zensuswahlrecht auf, das drei Millionen von denen, die für die Republik geblutet hatten, von den politischen Rechten ausschloß und, wie Marat anklagte, die Aristokratie der Geburt durch die Aristokratie des Geldes ersetzte. Er legte als erster den Eid auf die Verfassung ab, die die religiösen Vorrechte dem früheren Souverän Frankreichs abnahm und dem neuen Souverän, dem Volke, übertrug. Gleich den Ludwigen, die vorher die Bischöfe ernannt hatten, sollte dies jetzt das Volk tun und wie alle seine Amtshandlungen durch eine Wahl vornehmen. Zwei Bezirke wählten den Abbé Grégoire zum Bischof. Er entschied sich für die Diözese von Blois. Fortan saß er in einem violetten Kleide, also mit den bischöflichen Farben angetan, in der Menge der Repräsentanten und mehrmals oben auf dem Präsidentensitz. Über das Gesetz, das die Schaffung des Königtums und die Proklamierung der Republik verlangte, referierte Bischof Grégoire. Der Schluß seiner Rede kennzeichnet seinen Stil, der so emphatisch ist wie der Stil seiner Epoche: „... Die Höfe sind die Werkstätten des Verbrechens, die Heimstätten der Korruption. Die Geschichte der Könige ist die Märtyrergeschichte der Völker.“ Aber ebenso energisch, wie er für eine Anklage des hochverräterischen Ludwig war, sprach er sich gegen dessen Hinrichtung aus, weil er für ihre Abschaffung auch in den obersten Kreisen Propaganda machte.
Schwerer als der Kampf für die Gleichberechtigung der Juden war sein zweiter Kampf, den er für die Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien, die Verleihung der Bürgerrechte an freigeborene Neger und an halbblütige, die Entziehung staatlicher Subvention an die Negerhändler führte. Denn hier stieß er mit der siegreichen Mehrheit zusammen, die sich durch ideale Forderungen nicht in ihrem Geschäft und in ihrem Klassengefühl stören lassen wollte. Nichts ist tragikomischer, als der mit hohen Phrasen drapierte Widerstand der Kolonial- und Hafenbourgeoisie, die an dem Negerhandel und der Negersklaverei sehr erträgnisreichen Anteil hatte, gegen den unbequemen Mahner, der seine Christen- und Priesterpflicht und seine Verdienste um die junge Republik für seine humanitären Ideen einsetzte. Aber seine Unermüdlichkeit war zäher, seine Nüchternheit beredter, und so wurde am 4. Februar 1794 die Sklaverei in den französischen Kolonien abgeschafft. Jetzt lebte sein sorglicher Sinn mit den Schwarzen jenseits der Meere und mit dem letzten Seufzer murmelte er einen Gruß an „die teuren Einwohner von Haiti“.
Unzählig die Reformen und Institutionen, die er für die geistige Entwicklung der Massen durchsetzte. Gründung der berühmten Kunstgewerbeschule in Paris (Conservatoire des Arts et métiers), Errichtung des Längenbüros, Ausgabe neuer Schulbücher, Finanzierung öffentlicher Bibliotheken, Propaganda für die nationale französische Sprache, die alle provinziellen Idiome verdrängte. Gründung von botanischen Gärten und Musterlandwirtschaften, Gründung des Instituts, der Vereinigung von Akademien, dem die Obsorge über die Künste und Wissenschaften oblag, er plante auch (durchdrungen von der „literarischen Solidarität zwischen den Gelehrten aller Länder“) eine internationale Vereinigung der Schriftsteller und Wissenschafter. Daß fast alle großen Kunstdenkmäler in den Wirbeln der Revolution, obgleich sie oft genug die Unterdrückung symbolisierten, erhalten geblieben sind, ist ihm zu danken, der den Vergleich wüst hausender Horden mit den Vandalen und das Wort Vandalismus gefunden hat.
Inmitten der religiösen Krise, die vor allem durch die Intrigen des Adels und des mit ihm verbündeten hohen Klerus (auch infolge des Verrats des französischen Botschafters vom Vatikan, Kardinals de Bernis) vertieft wurde, suchte der Bischof Grégoire die Trümmer einer gallikanischen, national-französischen Kirche wieder aufzurichten. Zwei nationale Konzile hielt er ab, das erste in Gegenwart von zweiunddreißig Bischöfen und achtundsechzig Priestern, das zweite im Jahre 1801, und erst der Pakt Bonapartes mit dem Papste machte seinen Bemühungen ein Ende. Unter dem neuen Regime wurde er aufgefordert, seine bischöflichen Funktionen niederzulegen. Er folgte dem Befehl ohne Widerstand, aber mit einer Rechtsverwahrung, die die Wahl durch seine Mitbürger als legitim erklärte und in der er sich wenigstens die Ausübung der priesterlichen Funktionen vorbehielt.
Napoleon wünschte ihn zu sich herüberzuziehen. Er ließ ihn in den Rat der Fünfhundert wählen, aber hier tat sich Grégoire wenig hervor und bekümmerte sich nur um die Erhaltung der Institutionen, die er geschaffen hatte. Er war auch in der Gesetzgebenden Körperschaft, war sogar mehrere Male ihr Präsident, kam in den Senat, aber er blieb Republikaner, einer der drei Mutigen, die sich der Proklamierung des Kaiserreichs widersetzten. Auch diese winzige Minorität schmolz, und als der Senat – das Rad der Weltgeschichte hatte sich um ein Vierteljahrhundert zurückgedreht – die Schaffung neuer Adelstitel beschließen mußte, kämpfte er ganz allein dagegen an, und er war der einzige, der den Titel eines Grafen, den Napoleon allen Senatoren hingeworfen hatte, niemals, nicht in privaten Schriftstücken und nicht in seinen offiziellen, unter seinen Namen setzte. Diesen Mut konnte Napoleon weder durch Gewalt noch durch Gunstbezeugungen brechen, und Grégoire stimmte gegen die Scheidung des Kaisers von Josefine, er konnte nur dagegen stimmen, denn das Wort wurde ihm verweigert. Im Jahre 1814 sprach er sich als erster dafür aus, daß Napoleon aufhörte, Kaiser zu sein.
Erst die zweite Restauration suchte an ihm Rache zu nehmen. Er wurde aus dem Institut, das er begründet hatte, ausgeschlossen, die Zahlung der Pension, die ihm, schon weil er ehemaliger Senator war, gebührte, suspendiert. Man wählte ihn in die Kammer, aber die Royalisten verlangten unter wütendem Lärm seine Ausschließung „wegen Unwürdigkeit“. Er wurde auch ausgeschlossen, doch traute sich die Regierung nicht, ein Motiv anzuführen. Seine letzte Schrift enthielt Betrachtungen über die Zivilliste, über die Honorierung der Monarchen und bewies, daß er in dem Meer von Phrasen, das er hatte durchwaten müssen, klar und sich selber treu geblieben war.
Er starb unversöhnt mit der Kirche, ein Wort der Liebe für die Neger, die er befreit zu haben glaubte, auf den Lippen, ein Symbol der republikanischen Freiheit, das die Juliregierung nicht zu verunglimpfen wagte, eine der wenigen Persönlichkeiten der Geschichte – und welcher wild stürmender, von den gewaltigsten Ereignissen erfüllten Geschichtsperiode! –, an der man die ungebrochene Lebenslinie der Gesinnung und der Taten bewundern darf. Voilà un homme! Er hat sich in keinem Augenblick, weder aus Furcht noch aus Opportunismus, verleugnet!
Erstmals erschienen in Arbeiter-Zeitung vom 3.6.1931, 7