Martin Krist
Vorbemerkungen zum Inhalt
80 Jahre Kriegsende, 80 Jahre Ende des Nationalsozialismus
„Die Juden und die Radfahrer sind an allem schuld!“ Diese Aussage, die gleichzeitig ein Zitat ist, stammt angeblich von Kurt Tucholsky. Pavel Stránský, ein tschechischer Überlebender des KZ Auschwitz-Birkenau verwendete es in der Ära nach den Slánský-Prozessen in Gesprächen und bekam stets dieselbe Gegenfrage: „Warum die Radfahrer?“ Und damit entlarvten sich seine Gesprächspartner:innen als potenzielle Antisemit:innen. Auch heute könnte diese Frage in Österreich gestellt werden, etwa dem zweithöchsten Repräsentanten des Staates, dem ersten Nationalratspräsidenten Walter („Ich weiche der Gewalt“[1]) Rosenkranz. Er erteilte in einer Nationalratssitzung einem FPÖ-Politiker, der den NS-Begriff der „Umvolkung“ verwendete, keinen Ordnungsruf. Etwas später teilte Rosenkranz „Unzensiert und direkt“ seine Gedanken zum „Nationalfonds“ (korrekt „Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus“) auf seiner Facebookseite mit. Darin beklagt er sich bitterlich über „Missinterpretationen“, „Halbwahrheiten“ und „Unwahrheiten“ in den Medien, die dort über seine Person verbreitet würden, und erklärt, warum er nun doch, was den Nationalfonds betrifft, „einen Schritt zur Seite“ machen werde. Wie würde er wohl auf obenstehende Aussage reagieren? Für die Poster:innen auf seiner Seite ist das wohl ziemlich klar. Denn unter seinem „Statement“ befinden sich hunderte Kommentare, die antisemitische Verschwörungstheorien befeuern, wie „die Juden wollen wieder die Weltherrschaft übernehmen“, Juden (Jüdinnen sind wohl eingeschlossen) werden als „Maden im Speck“ bezeichnet oder sollen gefälligst aus Österreich abgeschoben werden, sie müssten in Österreich auch keine Steuern zahlen und sie „werden niemals Ruhe geben, denn dann würde ja die Geldquelle versiegen“. Wurden diese Postings gelöscht? Mitnichten, die fadenscheinige Rechtfertigung dazu lautet, dass sie „beim Screening der Seite durchgerutscht“ seien (was wurde da denn noch entdeckt und bereits entfernt, fragt man sich unvermittelt), und es stecke „keine böse Absicht dahinter“ (?!).
80 Jahre nach Kriegsende in Europa und der Proklamierung von Österreichs Unabhängigkeit ist der Antisemitismus in all seinen Facetten also noch immer da. Dazu passend findet sich in dieser Ausgabe der ZW der Text Antisemitisches Karussell von Richard Schuberth. Ähnliches konnte schon bei vielen Autor:innen gelesen werden, wie z.B. beim Theodor Kramer Preisträger 2005, Georg Stefan Troller, in seiner Autobiografie Selbstbeschreibung: „Die reichen Juden waren angeklagt als Blutsauger und Schädlinge, die armen als Binkeljuden, die beim ‚Wirtsvolk’ schmarotzten. Wenn wir unseren Traditionen anhingen, so galten wir als Orientalen, Fellachen oder Tschandalen, und wenn wir unsere Bräuche aufgaben als Einschleicher und falsche Fünfziger. (…) Lief man herum, so zeigte man jüdische Hast, hielt man sich abseits, so dünkten sich die Juden was Besseres. War man schwach im Turnen, aber stark im deutschen Aufsatz, dann hatte man jüdische Leibfeindlichkeit durch kalten jüdischen Verstand kompensiert, unter Beihilfe von jüdischer Zudringlichkeit, wenn nicht gar von jüdischem Dreh. Der Jud ist an allem schuld.“ Und das denken wohl heute auch die meisten Poster:innen auf Rosenkranz´ Facebookseite.
80 Jahre Kriegsende, 80 Jahre Ende des Nationalsozialismus, doch die Kontinuitäten blieben und bleiben. Was Wunder, war doch 1956 der Gründungsparteiobmann der FPÖ, der Partei des heutigen ersten Nationalratspräsidenten, Anton Reinthaller, SS-Brigadeführer und Träger des Goldenen Ehrenzeichens der NSDAP.
80 Jahre Kriegsende, 80 Jahre Ende des Nationalsozialismus, in der ZW beziehen sich mehrere Beiträge darauf. So nehmen Peter Paul Wiplingers Texte Gefangenenmarsch und Die Hitlerbilder sowie Hellmut Butterwecks Rezension und Ergänzung zu Martin Prinz’ Roman Die letzten Tage direkt Bezug auf die Endzeit des NS-Terrorregimes und die ersten Tage nach der Befreiung, die – wie man den Texten entnehmen kann – von vielen nicht so empfunden wurden. Ganz anders bei den sogenannten U-Booten, die der Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten entkommen konnten. Doris Brehm, eine heute vergessene Autorin, schrieb bereits am 5. Mai 1945 – also noch vor dem Kriegsende – in der Zeitung Neues Österreich über diese Untergetauchten. Katharina Prager und Bettina Balàka gaben heuer in der Reihe „Haymon Her Story – Wiederentdeckte Literatur von Frauen“ Doris Brehms 1956 erstmals in der DDR erschienen Roman Eine Frau zwischen gestern und morgen neu heraus. Brehms Zeitungsartikel Vor den Schergen der Gestapo untergetaucht finden Sie in dieser Ausgabe. Marianne Windsperger führte mit zwei Kuratorinnen der Ausstellung „Ich will sprechen über die Wahrheit, die dort war.“ Der Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963–1965 ein Interview, das den Schwierigkeiten und Lösungen der Vermittlung dieses Prozesses nachgeht, wobei festgehalten werden muss, dass der Großteil der Täter:innen sich ihrer Bestrafung entziehen konnten.
Und wie immer ist auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine Thema dieser ZW. So in der Rezension von Constantin Schwab zu Serhij Zhadans Erzählband Keiner wird um etwas bitten oder Annemarie Türks Beitrag, ihre Einleitung zur soeben im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft erschienenen Anthologie Im Flug der Zeit. Junge ukrainische Dichterinnen über den Krieg, herausgegeben von Iryna Sazhynska, die auch mit einem eigenen Beitrag vertreten ist. Mit der tragischen Geschichte der Krimtataren setzt sich der Film von Akim Galimov auseinander, dessen ins Deutsche übersetzte Transkript sich ebenfalls in der ZW befindet.
Da dies die erste Ausgabe nach der im März erfolgten Neuwahl des Vorstandes der Theodor Kramer Gesellschaft ist, möchten wir uns für Ihre Treue dem Verein gegenüber bedanken und wünschen Ihnen von ganzem Herzen alles Gute.
Martin Krist
Anmerkungen
- ^Rosenkranz wurde am 8.11.2024 von jüdischen Studierenden friedlich daran gehindert, einen Kranz beim Denkmal auf dem Judenplatz niederzulegen. Sie richteten dem Burschenschafter aus: „Wer Nazis ehrt, dessen Wort ist nichts wert!“. Rosenkranz sprach dabei von „Gewalt“.