Theodor Kramer Gesellschaft

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Florian Müller
Martin Pollack (1944–2025)
Erinnerungen an einen Erinnerer

Freitag, 5. November 2021, Festspielhaus St. Pölten: Am Eingang werde ich schnippisch gefragt, ob ich glaube, dass der Abend langweilig wird. Der Blick fällt dabei auf den Stapel Bücher unter meinem Arm. Nein, die will ich mir signieren lassen, ist die klare Antwort. Als Mitglied der Jury des Kulturpreises des Landes Niederösterreich in der Kategorie Literatur feiere ich an diesem Abend einen Erfolg: Martin Pollack erhält den Würdigungspreis. Einige Stunden später treffe ich ihn am Bahnhof von St. Pölten mit seiner Frau Ingrid wieder. Wir nehmen den Zug nach Wien, und es bietet sich die Gelegenheit, zu plaudern. Ich erinnere mich an sein Interview, dass er dem Profil gegeben hat. Angesprochen auf seine Krebserkrankung antwortete er damals auf die Frage, wie es ihm gehe, sinngemäß: Da kenne er sich nicht aus, da müsse man seine Frau fragen. „Das ist noch immer so“, bestätigt Ingrid Pollack die Anekdote, „auch jetzt fragt sein Arzt immer mich, wie es ihm geht.“ Auf der Fahrt erzählt er über seine vielen Projekte und Pläne. Heute wissen wir: Er hat den Kampf gegen diese bestialische Krankheit viel länger geführt, als ihm das die Medizin zugetraut hätte. Nun reißt er eine große Lücke in die Reihe jener Autor:innen, die Erinnerungskultur zu einer hohen literarischen Gattung erhoben haben.
Meine erste Begegnung mit Martin Pollack muss gemeinsam mit der Bildhauerin Ulrike Truger gewesen sein, die uns den Marcus-Omofuma-Stein aus Granit am Platz der Menschenrechte oder die Wächterin aus weißem Carrara-Marmor vor dem Burgtheater geschenkt hat. Das Bewusstsein um die Bedeutung der Erinnerung und die Liebe zum Südburgenland verbindet die beiden. Ich schreibe bewusst verbindet und nicht verband, denn ich denke, das endet nicht. Einprägsam war auch sein Besuch beim Zeitzeug:innen-Forum Erzählte Geschichte am 12. Dezember 2018 im Haus der Geschichte in St. Pölten. „Das waren verschrobene Typen, die müsste man in Spiritus legen und im Haus der Natur ausstellen“, war nur einer der markanten Sätze, die mir von diesem Abend in Erinnerung bleiben. Er bezog sich dabei auf Menschen aus seinem familiären Umfeld, die zum Hitler-Geburtstag nach Braunau pilgerten, und spielte darauf an, dass das Museum Niederösterreich nicht nur das Haus der Geschichte, sondern auch das Haus für Natur (so heißt es heute) beherbergt. In Anbetracht der ersten türkis-schwarzen Regierung unter Sebastian Kurz erklärte Martin Pollack: „Ich bin durchaus stolz, Österreicher zu sein. Ich bin aber nicht stolz auf die gegenwärtige Regierung.“ Seine Position zur aktuellen politischen Situation im Land lässt sich an seinen Worten von damals ablesen: „Wenn heute einer deutschnationaler Burschenschafter ist, dann gehört dabei hundertprozentig Antisemitismus dazu.“ Jörg Haider sei ein Vorreiter des Provozierens und Auslotens gewesen, ein Prinzip, nach dem die FPÖ bis heute arbeite. Man dürfe nicht der Gefahr der Gewöhnung unterliegen.
An diesem Abend ging es nicht nur um die Geschichte seiner Familie, sondern auch um den exzellenten Vermittler der Geschichte und Gegenwart Osteuropas und speziell Polens. Denn so sehr die nationalistische PiS-Regierung im liberalen Europa schockierte, wies Martin Pollack auf die starke Zivilgesellschaft des Landes hin. Jenes Gesetz, das die Behauptung einer Mittäterschaft Polens am NS-Regime unter Strafe stellte, musste damals zu großen Teilen zurückgenommen werden. Er war „einer der ersten, der die Geschichte Galiziens, die Geschichte Alt-Österreichs – und zwar ohne habsburgische Dünkel – wieder zu uns zurückgebracht“ habe, schwärmt Béla Rásky vollkommen zurecht.
Das Zitat stammt aus der Laudatio Béla Ráskys anlässlich der Verleihung des Theodor Kramer-Preises für Schreiben im Widerstand und Exil, den er gemeinsam mit Claudia Erdheim 2019 erhalten hat. Es ist übrigens ein sehr toller Text, selbst wenn der Historiker erklärt, er sei „neidisch, wie Du schreiben, wie Du eine Geschichte erzählen, den Leser mitreißen kannst.“ Auch Rásky erkennt Pollacks Werk als „einzigartige Symbiose von Zeitgeschichte und Literatur“. Der Tote im Bunker (2004) sei „wohl eines der wichtigsten Werke der jüngeren österreichischen Literatur geworden.“ Der Laudator thematisiert auch die Bedeutung der Fotografie in seinem Werk, Erinnerungsstücke, die er mit einer unglaublichen Ausdruckskraft so bildhaft beschreibt.

Martin Pollack hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Neben dem Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und Exil (2019) und dem Kulturpreis des Landes Niederösterreich (2021) stehen der Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung (2003), der Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln (2007), der Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung (2011) oder der Österreichische Staatspreis für Kulturpublizistik (2018) auf seiner Liste. Alle diese Auszeichnungen beschreiben sein Schaffen, der Theodor Kramer Preis wohl am präzisesten.

Im Frühsommer 2003 fuhr ich mit meiner Frau nach Südtirol, zum Brenner, um den Bunker zu suchen, in dem vor 56 Jahren mein Vater tot aufgefunden worden war. Er war erschossen worden. Ich wollte mehr über die Umstände seines Todes und die Beweggründe in Erfahrung bringen, die ihn nach Südtirol geführt hatten. Die Nachforschungen hatte ich jahrelang herausgezögert, vielleicht aus einem unbewussten Gefühl der Angst, ich könnte bei der Spurensuche auf Dinge stoßen, die meine ohnehin schlimmen Erwartungen noch übertreffen würden. Eines glaubte ich von Anfang an zu wissen: Sein gewaltsamer Tod war der Abschluss eines Lebens, in dem Gewalt eine wichtige Rolle gespielt hatte.
Mit diesen Worten beginnt Martin Pollacks Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater (2004). Mit zwei Schüssen in den Kopf und einem in die Brust wird im April 1947 eine Leiche in einem Bunker an der österreichisch-italienischen Grenze aufgefunden. Obwohl die Person falsche Papiere bei sich hat, ist ziemlich schnell klar, dass es sich um den SS-Sturmbannführer Gerhard Bast handelt, der als Kriegsverbrecher auf der Flucht war und offensichtlich von seinem Schlepper erschossen wurde. Hier beginnt die Reise durch „kontaminierte Landschaften“, wie ein weiteres Werk von Martin Pollack heißt. Es ist eine erschütternde Reise durch die Orte der Kriegsverbrechen seines Großvaters, seines leiblichen Vaters und seines Stiefvaters. Es ist die Reise durch ein Amstetten der 1950er-Jahre, in dem noch völlig unverklausuliert dem Nazi-Regime gehuldigt wird. „Das ist der Sohn vom Gerhard.“ So stellt ihn seine ebenfalls deutschnational gesinnte Großmutter in der Konditorei Exel am Hauptplatz von Amstetten vor und erntet Respekt. Dort fand er nach eigenen Angaben im Haus der Großmutter und des Großonkels sein zweites und drittes Zuhause. Aufgewachsen war er mit der Familie seines Stiefvaters in Linz.
Martin Pollacks Landschaften sind Erinnerungslandschaften. Niemals bewegen sich Menschen darin zufällig, wenn sie die Blumen am Grab ihrer Angehörigen gießen. Nüchtern, aber nicht unberührt zitiert Martin Pollack aus der „Bürokratie des Terrors“. Recherchen in Archiven, Museen oder vor Ort sind ebenso Grundlagen seiner Texte wie bereits erwähnt Fotografien aus Familienbesitz. Auch das Tourenbuch seines Vaters dient als Quelle, in dem er vermerkt, wie er „sehr lustig und fidel“ Urlaub vom Morden und Morden lassen machte.
Martin Pollack kittet in seinem Schlüsselwerk nichts mit dichterischer Freiheit. Er lässt Zweifel und Unklarheiten seiner kindlichen Erinnerung zu. Als Erwachsener bereut er oft, nicht gefragt oder nie darüber geredet zu haben. Im Zuge seiner Recherchen findet er schließlich den Bruder des Mörders seines Vaters. Dieser ist überzeugt, dass es kein Raubmord, sondern Notwehr gewesen sein muss, denn Rudolf G. sei immer „brav und anständig“ gewesen. „Brav und anständig“ waren alle Kriegsverbrecher in der verklärten Erinnerung seiner Großmutter. Die frühe Mitgliedschaft des Großvaters in der NSDAP war für sie rückblickend eine „besoffene Geschichte“.

Martin Pollacks beruflicher Weg begann als Korrespondent für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Der überzeugte Europäer, der in Linz und Amstetten aufgewachsen ist, studierte Slawistik und osteuropäische Geschichte in Wien und Warschau. Daher kann er wie kein anderer das osteuropäische Judentum oder das heutige Polen erklären. Und er ist ein genialer Übersetzer. Wie gesagt, ich verweigere die Vergangenheitsform, denn seine Bücher bleiben. Rembert Schleicher nennt ihn in der Wochenzeitschrift Die Furche mit gutem Grund auch im metaphorischen Sinne einen „Übersetzer der blinden Winkel Europas“. So befassen sich auch die ersten rund 16 Bücher, die er geschrieben bzw. herausgegeben hat, mit Galizien und Czernowitz. Reise nach Galizien. Von Chassiden, Huzulen und Ruthenern. Eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina (1984) und Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien (2010) sind hier wichtige Werke.

Die ersten Seiten seines erstmals 2002 erschienen Buches Anklage Vatermord – Der Fall Philipp Halsmann lesen sich wie ein mehr als spannender Krimi. Seinen in diesem Buch entdeckten Stil des historischen Erzählers sollte er mit dem Toten im Bunker perfektionieren. Am 10. September 1928 kommt der jüdische Zahnarzt Murdoch Max Halsmann aus Riga in den Zillertaler Alpen ums Leben. Sein 22-jähriger Sohn Philipp berichtet von einem Unfall, einem Sturz mit tödlichen Schädelverletzungen. Noch am selben Tag wird Philipp Halsmann allerdings als mutmaßlicher Mörder festgenommen. Wie ein guter Kriminalist beleuchtet Martin Pollack das Umfeld des mutmaßlichen Täters, das kein Motiv für einen Vatermord erkennen lässt. Ein Großteil des über 300 Seiten starken Buches widmet sich den Gerichtsprozessen gegen den lettischen Jugendlichen. Begleitet werden diese Prozesse von antisemitischen Kampagnen, die auch die NSDAP für sich zu nutzen versucht. Je größer diese Angriffe werden, desto mehr prominente Fürsprecher von Sigmund Freud bis Albert Einstein findet der Angeklagte. Nach zwei Jahren im Gefängnis wird er schließlich begnadigt. Epilog und Nachwort erzählen uns, wie die Lebensgeschichte weitergeht: Er wird in Paris erfolgreicher Fotograf und baut sich seine Existenz nach der Flucht vor den Nazis ein zweites Mal in New York auf. Jene Menschen, die sich vor Gericht für ihn eingesetzt hatten, erfuhren die Verfolgung des NS-Regimes, nicht auch zuletzt, weil sie Juden waren. So symbolträchtig war der Fall geworden.
„Martin Pollack berichtet mit der Genauigkeit eines leidenschaftlichen Historikers und der Vorstellungskraft eines Erzählers“, urteilt sein oberösterreichischer Schriftstellerkollege und jahrzehntelanger Freund Christoph Ransmayr im Zusammenhang mit Anklage Vatermord. Christoph Ransmayr hielt auch seine Grabrede in der Feuerhalle des Wiener Zentralfriedhofs, die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht wurde. Er beginnt seine Erinnerungen mit einer gemeinsamen Reise nach Polen und in die Ukraine und Martin Pollacks Gescherze mit dem „Hausknecht“ eines Hotels auf Polnisch und Ukrainisch, ob es denn heute noch warmes Wasser geben würde. In diesem Text wird klar, wo Martin Pollack Erholung von seinen schmerzhaften Reisen an die Orte von Massengräbern, Schlachtfeldern und Ruinen von Konzentrationslagern, durch „kontaminierte Landschaften“, fand: Es waren die sanften Hügel des Südburgenlandes und seiner Natur. „Die eindrucksvollste Vielfalt von Kosenamen, die ich in den mehr als vierzig Jahren unserer Freundschaft von ihm gehört habe, galt jenen Tieren, mit denen er sich nach seinem Verständnis seinen Hof, seine Streuwiesen und seinen Obstgarten nicht bloß teilte, sondern all das mit ihnen gemeinsam ‚bewohnte‘“, berichtet Christoph Ransmayr. Und er schreibt weiter: „Martin ist bis zum heutigen Tag der einzige Mensch für mich geblieben, mit dem das unter Autoren oft für unmöglich gehaltene möglich wurde: gemeinsames Schreiben, gemeinsames Formulieren, das am Ende zu Erzählungen führte“.
Mit seinem jüngsten Werk Die Frau ohne Grab – Bericht über meine Tante (2019) arbeitet Martin Pollack ein weiteres Kapitel seiner Familiengeschichte auf und geht damit seinen literarischen Weg konsequent weiter. Er bewegt sich dabei unbeeindruckt zwischen den Kategorien „Täter und Opfer“, denn seine Großtante Pauline Drolc wird in ihrem Heimatort Tüffer im Sommer 1945 von jugoslawischen Partisanen verhaftet und kommt wenige Wochen später zu Tode. Ihr Schicksal ist beispielhaft für die historischen Verstrickungen dieser Zeit. Aber auch hier gibt sich Martin Pollack nicht mit einfachen Antworten zufrieden, beleuchtet akribisch das Leben einer strammen deutschnationalen

Familie in einem slowenischen Dorf. Die Reisen für seine historischen Recherchen sind wieder ein zentrales Motiv der Handlung. Es ist wichtig, über die Werke Martin Pollacks zu sprechen, um sein Wirken und sein Vermächtnis zu erklären. Diese Zeilen sollen aber allem voran eine Aufforderung sein, seine Bücher wieder in die Hand zu nehmen – und (neu) zu lesen. Aus seinem Nachlass im Linzer Landesarchiv wird ein sehr vielsagendes Objekt in der Ausstellung Kinder des Krieges – Aufwachsen zwischen 1938 und 1955 im Haus der Geschichte in St. Pölten ab Ende April zu sehen sein. Es erzählt uns viel über die Geschichte seiner Familie, aber vor allem über seine Art, mit Geschichten umzugehen. Martin Pollack bleibt uns als Erklärer der Geschichte erhalten.

Florian Müller studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Kombination mit Spanisch, Französisch und Portugiesisch in Wien und Valenciennes (Frankreich). Er ist Öffentlichkeitsarbeiter für das Museum Niederösterreich, das Egon Schiele Museum in Tulln und das Museum Gugging in Klosterneuburg. Er ist freier Journalist und Vertragslektor an der Universität Wien.