ZWISCHENWELT 1/2022
Editorial
Je länger der Krieg andauert, desto wichtiger wird die Propaganda
Die "Wohlmeinenden" auf dem Kriegspfad
Der Vernichtungskrieg, den das Terrorregime der Russischen Föderation gegen die Republik Ukraine führt, die Vergewaltigungen, die Verwüstung und Plünderung von Wohnstätten, Schulen, Theatern, Spitälern, Kindergärten, Kirchen, Moscheen, die Ermordung von Arbeitern, die an einer Autobushaltestelle warten, durch "Hochpräzisionswaffen", deren zivile Opfer dann als eliminierte "Nationalisten" verbucht werden, erfüllt, so sinnlos er militärisch scheint, eine propagandistische Funktion: Er demonstriert der eigenen Bevökerung in der Russischen Föderation, was denen blüht, die sich den finsteren Plänen der herrschenden Clique widersetzen. Diese Art der verbrecherischer Kriegsführung ist von Grosny, Gutha, Aleppo her bekannt.
Daß der Vernichtungskrieg aber gleichzeitig als Argument für diejenigen herhält, die der Ukraine unnötige Leiden ersparen wollen, indem sie die Unterstützung der Ukraine mit Waffen ablehnen und stattdessen eine Verhandlungslösung postulieren, bei der die Ukraine mit gebundenen Händen vorgeführt werden und um des lieben Friedens willen Gebietsabtretungen in Kauf nehmen soll, ist ein nicht ganz unbeabsichtigter Nebeneffekt.
Das Ausmaß der Bereitschaft, andere zu opfern, um selbst unbedroht zu bleiben, hat mich in seiner treuherzigen Blindheit überrascht. Alice Schwarzer, Martin Walser und ihre Follower wenden den Vernichtungskrieg zynisch gegen die angegriffene Ukraine, die durch ihren hartnäkigen Widerstand eine "Eskalation" - die für die Menschen in der Ukraine doch schon eingetreten ist - provoziere Und uns zudem mit Millionen Flüchtlingen belästige. Den Vogel schießt der Berufsavangardist Peter Weibel mit der Behauptung ab, die Leute flüchteten massenhaft vor der in der Ukraine herrschenden Korruption in den Westen. Das ist schon Putin-Propaganda und könnte auch von Lawrow oder Herbert Kickl stammen.
Die Realität des russländischen Vernichtungskrieges gegen die Ukraine beflügelt auch die gedankenlose Schöntuerei derer, die den Krieg als einen dämonisch um sich greifenden Weltenbrand beklagen, als ein Ungeheuer, in dessen Raserei die kriegsführenden Parteien so wenig unterscheidbar sind wie die Kriegshandlungen selbst von Verbrechen gegen die Menschlickeit. Diese Entdifferenzierung, die die Einhaltung oder Nichteinhaltung des Kriegsrechts als bedeutungslos erscheinen läßt, verbrecherischen Angriffskrieg und berechtigte Verteidigung nicht auseinanderhält, passt sehr in den unaufgelösten Konflikt von Kindern, Enkeln und Urenkeln derer, die wie ein Hermann Nitsch meinten und meinen, im Krieg sei eben "so viel Schreckliches passiert" und mit dieser wohlfeilen Floskel die Verantwortung für das größte Menschheitsverbrechen der Geschichte beiseite schieben und schoben und dem schicksalhaften lauf der Dinge übertrugen. "Es war halt Krieg."
In der Weigerung, Recht von Unrecht zu unterscheiden, entziehen sie sich jeglicher Konsequenz, ersetzen Parteinahme durch Vorschläge, wie eine Beteiligung an den Anstrengungen, den Krieg zu beenden, möglichst vermieden werden könne. Das reale Geschehen ist ihnen, die sie die Irrationaliät des Krieges beschwören, nicht der Erkenntnis wert, auch unausdeutbar geworden. Sachkenntnis, Vorgeschichte, soziale Ursachen, internationale Verträge, quantitative Verhältnisse interessieren sie nur am Rande. Sie berufen sich sogar auf ihre Unkenntnis als eines Garanten für die Selbständigkeit ihres von Empörung geblähten Urteils.
Wirklichkeit dient ihnen als Trampolin, sich in ihr moralisches Räsonnement abzustoßen, mit dem sie sich an die flachen Ufer des Feuilletons der Qualitätspresse retten. In diesen "Letzten Tagen der Menschheit" möchten sie wenigstens zitierbar dabeigewesen sein.
Ganz ähnlich verfuhren Ihresgleichen schon mit den jüdischen Opfern, die als bloße Objekte, nicht als lebendig tätige Menschenwesen in einen Schulddiskurs gezogen wurden, der letztlich darauf hinausliref, die ungeheure Schuld der Nationalsozialisten feingerieben über die ganze Gesellschaft zu verteilen und jedes Erinnern an Widerstand an dessen erwiesener Ohnmacht zu neutralisieren.
In das also am eigenen Wohlergehen sehr wohl interessierte Räsonnement mischt sich immer öfter die geheuchelte Sorge, jetzt würden soldatisches Helden- und Märtyrertum, Patriotismus und gar wieder Nationalismus um sich greifen. Letzteres ist in der Tat nicht zu übersehen.
Die friedfertigen Bürger gefallen und gefielen sich in der Beschönigung des Nationalsozialismus, indem sie Nationalismus und Nationalsozialismus gleichsetzten. Daß der Widerstand gegen Hitlerdeutschland in den besetzten Ländern, ob in Frankreich, Griechenland, Jugoslawien, Polen, Norwegen und letztlich auch Italien und Österreich, ein nationaler war, der auf die Wiederherstellung nationaler Souveränität und Integrität zielte, ist den Leuten eine Peinlichkeit, die bei österreichischen Gedenkstunden möglichst verschwiegen bleiben muß.
Diese Menschen haben 75 Jahre danach immer noch nicht begriffen, daß im Zentrum der Nazi-Ideologie nicht die Nation, sondern die über den Antisemitismus sich definierende Rasse stand. Wie übrigens im geopolitschen Diskurs der erlauchten Tafelrunde Putins im Kreml auch.
Konstantin Kaiser
Erscheint Anfang Juni in Nr. 1/22 von Zwischenwelt