Georg Stefan Troller
Das Leben – Ein Drehbuch
Archiv der Theodor Kramer Gesellschaft
Die drei Fernsehspiele, von denen das hier vorliegende den Mittelteil darstellt, geben ziemlich genau die Geschichte meiner eigenen Emigration wieder. Also meiner Auswanderung aus Österreich – meiner Einwanderung in Amerika – meiner Rückkehr nach Europa. Eigentlich müßte man alle diese Worte in Anführungsstriche setzten. Wir sind ja nicht ausgewandert, sondern vertrieben worden. Wir sind nicht eingewandert, weil wir woanders ein neues Leben beginnen wollten, sondern um unsere Haut zu retten. Und auch die wenigen von uns, die zurückkehrten, sind nicht wirklich heimgekehrt, denn das gibt es nicht. Was mich betrifft, so lebe ich uneingepflanzt in Paris mit amerikanischem Paß, rede mit meiner Frau auf deutsch (sie schwenkt zunehmend auf einer internationale Melange über), mit meiner älteren Tochter englisch, mit meiner jüngeren französisch, schreibe auf deutsch und manchmal auf Wienerisch...aber wenn ich nach Wien zu Besuch komme, kann ich mich nicht aufraffen, es auch zu sprechen. Ich bin zu dem wurzellosen Kosmopoliten geworden, als die man uns seinerzeit verrufen hat, wie wir es noch längst nicht waren. Denn wir haben uns ja unserm Land verbunden gefühlt, inniger als die „Patrioten“, die das als Weltanschauung in Sprechchören proklamierten.
Wodurch unterschied sich eigentlich unsere Emigration von anderen – z. B. den Hugenotten, den Aristokraten von 1789 oder den Konterrevolutionären von 1917?
Am ehesten darin, daß wir zumeist weder eine eigene Weltanschauung besessen hatten noch irgendwelchen Sonderstatus, und häufig nicht einmal eine ausgeprägte Fremdreligion. Aber sonst war es die gleiche Geschichte wie immer, und ewig geht die Weltgeschichte darüber hinweg, denn sie hat andere Sorgen. Was war denn unser Schicksal, verglichen mit dem der Zurückgebliebenen? Oder auch verglichen mit den Millionen, die im letzten Krieg gefallen sind? Und gibt es nicht auch seither wieder zahllose Emigrationen, zumindest den unwiderruflichen Abschub ins Flüchtlingslager, von Palästina bis Kambodscha? Daran habe ich beim Schreiben dieser Drehbücher laufend denken müssen und deswegen nicht in Holzschnittmanier gemacht, nicht mit Heldentum und großer Geste, sondern, so gut ich konnte, mit den dünneren Federstrichen der Ironie und der Tragikomik. Und nicht auf Abrechnung sollte es hinauslaufen, noch weniger auf großherziges Vergeben oder eine ad hoc herbeizitierte Aussöhnung...denn das steht uns, die sich ja halbwegs durchgewurstelt haben, nicht zu. Ich wollte nur eines: hinsetzen, wie sich das anfühlt, Emigrant zu sein. Kein „Exilierter“, der sich, wie Thomas Mann, wie Joseph Roth, als Repräsentant eines ewigen Deutschland oder Österreich empfinden konnte, oder einer Heilslehre, der angeblich die Zukunft gehört, wie Bertolt Brecht. Wir, die gewaltige Mehrzahl der Hinausbeförderten, waren...ja was? Waren in fast jeder Beziehung nicht anders gebaut als Sie, die das eben lesen. Dieser gemischte Haufen von Normalbürgern fand sich nun einer Situation gegenüber, auf die einen nichts vorbereitet hatte. Man besaß, von einem Tag zum andern, nicht nur kein Land und keinen gültigen Paß mehr, sondern häufig genug: kein Dach über dem Kopf, kein Geld und auch keine Möglichkeit, es zu verdienen, keine Aufenthaltserlaubnis, keine sichtbaren Zukunftsaussichten. Und natürlich auch keine Leitfigur, kein Ideal, kein gemeinsames Ziel, das uns zu Solidarität oder auch nur gegenseitiger Hilfe angespornt hätte. Jeder war auf sich selber und seinen kleinsten Kreis reduziert. Es gab – mit Ausnahme weniger, meist ferner, Freunde und Verwandter, sowie der ziemlich hilflosen Hilfskomitees – eigentlich niemanden, der an deinem Überleben interessiert war. Ganz im Gegenteil, die Welt hatte anscheinend keinen innigeren Wunsch, als dich zum Verschwinden zu bringen. Sie war auf dich nicht eingerichtet, hatte dein Überleben nicht eingeplant. Dein Beruf, deine Kenntnisse: ein Witz, je intellektueller desto lachhafter. Du warst, mit dem Überschreiten der Grenze, auf einen Schlag zum Überflüssigen geworden, zur Null. Ja geradezu ein Minus, eine Bedrohung, jemand, der böswillig den anderen, den Einheimischen, Brot und Arbeit wegnimmt. Und am allerwenigsten brauchte man natürlich den fremden „Kulturträger“, wenn man sich mit dessen Herkunftsland gerade in einem Spannverhältnis oder gar im Kriegszustand befand. Deutscher? Österreicher? Bloß nicht! Könnten Sie nicht wenigstens Tscheche sein?
Dieses Bewußtsein, für eine Null gehalten zu werden, vor allem wenn man vorher „etwas war“, wird jetzt zunehmend verinnerlicht. Hat man denn noch eine Daseinsberechtigung? Hat man sie je besessen? Vielleicht war man tatsächlich der „Parasit am Volkskörper“ des Heimatlandes, wurde mit Recht verstoßen, hat man sein Unglück selbst provoziert? Ein Gefühl der Irrealität deiner ganzen Existenz gegenüber erfaßt dich. Womit sich identifizieren? Mit einem Volk, einem Glauben, einem Berufsstand, einer Kultur, die dir allesamt fragwürdig geworden sind? Wer bist du, Emigrant? Bist du überhaupt noch jemand? Das tröstliche „Geistige“, das man noch seiner Flucht umzuhängen pflegte, ist aufgebraucht. Es geht nicht mehr um „allen Gewalt zum Trotz sich erhalten...“, sondern um den nächsten Hamburger. Und noch etwas anderes scheint sich da zu zerfleddern, und das greift an den Kern: Die Liebeskraft ist angeschlagen, die Fähigkeit, sich einzubinden, sich anheimzugeben. Die Selbstverständlichkeit des Liebenkönnens löst sich auf. Eine Distanz entsteht zwischen dir und deiner Umwelt. Seinerzeit hat man unbewußt in tausend vertrauten Gefühlsbeziehungen gelebt: zu Freunden, zu Kollegen, zu Burgschauspielern, zum Kudamm, zum Café des Westens, zum Korso am Pulverturm, zu alten Schlagern, zur Stille am Minoritenplatz...
Jetzt ist man auf einmal wie abgekappt. Die Vergangenheit wird zu einer unfruchtbaren Mischung aus Wehmut und Zorn, und an welches der neuen, oft auch bedrohlich und überdimensional erscheinenden Dinge soll sich das Gefühl festmachen? Und dabei wird ja dauernd aktive Liebesbezeugung gefordert („How do you like America?“), während man die früheren Lieben, die offenbar die falschen waren, zum alten Eisen werfen soll. Man kommt sich kalt vor, unterschwellige Irritationen entstehen (auch zur Familie), Verstörungen bis zu emotionalen und physischen Impotenz. „Ich kann nicht mehr lieben!“ – der letzten, verzweifelte Aufschrei der alten Else Lasker-Schüler in Jerusalem.
Und in dieser inneren Leere, die dein Selbstverständnis ankränkelt und auffrißt, sollst du nun nach außen hin kämpfen ums nackte Dasein – kein sehr heroisches Unterfangen. Es wird also geblufft, gewitzelt, bekrittelt, angegeben, man übertrumpft einander mit Informationen, mit Kontakten, jeder ist gerade auf dem Sprung in den „Westen“ oder eine nochniedagewesene Position. Man „integriert“ sich. Man redet von Dollars und Cents, als bestünde Amerika aus nichts anderem und als wären sie nur zu verdienen, indem man den ganzen „Kulturballast“ über Bord wirft. Assimilieren oder krepieren!
Ich selbst habe mich, so kommt mir das jetzt in der Rückschau vor, als Zwanzigjähriger zum Krepieren entschlossen. Weigerte mich, Amerikaner zu werden, führte ein Schneckendasein mit Goethe und Nietzsche im Dünndruck und mit den „Letzten Tagen der Menschheit“. Erstickte in New York, empfand es als lähmende Betonwüste, fuhr aber nur ein einziges Mal – per Anhalter auf einen Tag – hinaus aufs Land, an das ich nicht glaubte. Habe Amerika erst nach dem Krieg kennen und bewundern gelernt, als ich nicht mehr im Zwang war, nicht mehr lieben „mußte“. Soldat werden war Erlösung zur Aktivität, auch zur Gemeinsamkeit. Und im Hinterkopf immer die Illusion der „Heimkehr“: ich trug nur deutsche Bücher im Soldatensack. Während des letzten Kriegswinters lief ich, laut die „Terzinen über Vergänglichkeit“ von Hofmannsthal rezitierend, durch ein Gehölz an der elsässischen Front und wurde natürlich prompt als Nazispion verhaftet. Man ließ mich laufen als offensichtlichen Narren, „section eight“ der Dienstvorschrift. (Aber das erlaubte mir nicht einmal der geduldige Axel Corti ins Drehbuch – so vertrottelt darf unser Freddy nicht sein!) Schon am Tag des Waffenstillstandes habe ich „fraternisiert“, indem ich einer alten Dame ihren Hausrat über die Straße trug, dafür bekam ich die Hälfte meines Monatssolds gestrichen. Und Rache? Nein, ich glaube wir fühlten das nicht bei der Rückkehr, auch nicht, als wir die Leichenhaufen in Dachau sahen – nur ein ungeheures Befremden, das mir bis heute geblieben ist. Ich begriff, daß die „Heimat“ nicht mehr existierte. Die wenigen Hitler- und Kriegsjahre hatten sie noch gründlicher verwandelt als uns die Emigration.
Aus solchen inneren Zuständen, aus den Hoffnungen, Ängsten, Enttäuschungen, Illusionen, Idiotien der Emigranten sind diese Drehbücher gebaut...bei denen mich Corti immer wieder auf den Boden der Tatsachen, der historischen Vorgänge zurückrufen mußte. Er, der lebensnahe Realist, ich, der sich dauernd verrennende Spinner, eine produktive Mischung. An die zehn Jahre hat (mit Unterbrechungen) das ganze Vorhaben gedauert, eigentlich so lang wie meine Emigration von Europa. Und bei jedem der drei Teile lassen wir das Ende im vagen, die Handlung bleibt letztlich unentschieden, ungelöst...wie bei mir, wie bei uns allen, und wie es eben dem Weg der Emigration entspricht.
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